20 Besuche

Eine Frau trat ein, die ganz in weiße Seide mit Silber gekleidet war. Sie schloß die Tür und lehnte sich daran. Dann musterte sie ihn mit den dunkelsten Augen, die Mat je gesehen hatte. Sie war so schön, daß er beinahe zu atmen vergessen hätte. Ihr nachtschwarzes Haar wurde von einem fein gewebten Silberband zusammengehalten, und ihre Haltung war so elegant und graziös, als tanze sie, obwohl sie nur einfach dastand. Ihm war es, als kenne er sie, doch das war ja wohl unmöglich. Kein Mann würde eine Frau wie sie vergessen können.

»Ihr seht vielleicht ganz ordentlich aus, schätze ich, wenn Ihr wieder etwas zugelegt habt«, sagte sie, »aber im Augenblick könntet Ihr eventuell etwas anziehen.«

Mat starrte sie noch einen Moment lang verdutzt an, bevor ihm plötzlich klar wurde, daß er nackt vor ihr stand. Mit hochrotem Gesicht schlurfte er zum Bett, zog die Decke hoch und um sich herum, und dann fiel er mehr, als daß er sich gesetzt hätte, auf die Bettkante. »Es tut mir... ich meine... ich habe nicht erwartet... ich... ich... « Er atmete tief durch. »Ich entschuldige mich für diese Ungebührlichkeit.«

Seine Wangen brannten immer noch. Beinahe wünschte er sich, Rand, was auch aus ihm geworden war, oder Perrin wären bei ihm und könnten ihm raten, wie er sich am besten verhielte. Sie schienen immer mit Frauen klarzukommen. Selbst Mädchen, die wußten, daß Rand so gut wie verlobt war, machten ihm schöne Augen, und sie hielten Perrins Langsamkeit für Sanftmut und fanden ihn attraktiv. Was er dagegen auch versucht hatte, war immer darauf hinausgelaufen, daß er sich vor den Mädchen zum Narren machte. Wie gerade eben wieder.

»Ich hätte Euch hier nicht so überraschend besucht, Mat, wenn ich nicht sowieso aus einem anderen Grund in der... in der Weißen Burg gewesen wäre« — sie lächelte, als amüsiere sie sich über diese Bezeichnung —, »und ich wollte euch alle sehen.« Mats Gesicht lief erneut rot an, und er zog die Decke noch fester um sich zusammen, doch offensichtlich hatte sie ihn nicht aufziehen wollen. Eleganter als ein Schwan glitt sie zum Tisch. »Ihr habt Hunger. Das ist zu erwarten, so, wie sie die Dinge in Angriff nehmen. Eßt auch wirklich alles auf, was sie Euch geben. Ihr werdet überrascht sein, wie schnell Ihr wieder Gewicht zulegt und zu Kräften kommt.«

»Verzeiht«, sagte Mat unsicher, »aber kennen wir uns? Ich will Euch nicht kränken, denn irgendwie wirkt Ihr... vertraut.« Sie sah ihn an, bis er unruhig hin- und herzurutschen begann. Eine Frau wie sie erwartete bestimmt, daß man sich an sie erinnerte.

»Ihr habt mich vielleicht schon einmal gesehen«, sagte sie schließlich. »Irgendwo. Nennt mich Selene.« Sie hielt den Kopf ein wenig schräg und schien darauf zu warten, daß er auf den Namen reagierte.

Es zupfte auch etwas am Rand seines Gedächtnisses. Er glaubte, ihn schon gehört zu haben, aber er wußte nicht mehr, wann oder wo. »Seid Ihr eine Aes Sedai, Selene?«

»Nein.« Das Wort wurde leise ausgesprochen, klang aber überraschend nachdrücklich.

Zum erstenmal musterte er sie nun genauer. Er sah jetzt mehr als nur ihre Schönheit. Sie war beinahe genauso groß wie er, schlank, und, wie er aus ihren Bewegungen schloß, kräftig. Bei ihrem Alter war er sich nicht sicher — vielleicht nur ein oder zwei Jahre älter als er, vielleicht aber auch zehn — doch ihre Wangen waren glatt. Ihre Halskette aus glatten, weißen Halbedelsteinen und gewirktem Silber paßte zu ihrem breiten Gürtel, aber sie trug keinen Ring mit der Großen Schlange. Das Fehlen des Rings hätte ihn nicht weiter überraschen müssen, denn keine Aes Sedai sagte geradeheraus, was sie war, aber in ihrem Fall überraschte es ihn doch. Da war etwas an ihr — eine Selbstsicherheit wie die einer Königin und noch etwas mehr —, das ihn an die Aes Sedai erinnerte.

»Ihr seid nicht zufällig Novizin, oder?« Er hatte gehört, daß die Novizinnen Weiß trugen, aber er konnte kaum glauben, sie sei eine davon. Neben ihr wirkt Elayne wie ein kleines Mädchen. Elayne. Ein weiterer Name, der ihm durch den Kopf ging.

»Wohl kaum«, sagte Selene trocken und verzog den Mund etwas dabei. »Sagen wir einfach, ich sei jemand, dessen Interessen zufällig die gleichen sind wie die Euren. Diese... Aes Sedai wollen Euch benützen, auch wenn Euch das im allgemeinen durchaus nicht unangenehm sein wird. Ihr werdet es hinnehmen. Es ist nicht nötig, Euch erst davon zu überzeugen, daß Ihr den Ruhm suchen müßt.«

»Mich benützen?« Er erinnerte sich daran, das geglaubt zu haben, aber im Hinblick auf Rand und nicht auf sich selbst. Sie haben verdammt keine Verwendung für mich. Licht, bestimmt nicht! »Was meint Ihr damit? Ich bin doch nicht wichtig. Ich nütze höchstens mir selbst. Toller Ruhm, den man dabei erwerben kann.«

»Ich wußte, das würde Euch anlocken. Vor allem gerade Euch.«

Ihr Lächeln machte ihn schwindlig. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Decke rutschte, und er fing sie schnell auf, bevor sie ganz herabfallen konnte. »Jetzt hört aber mal — sie interessieren sich überhaupt nicht für mich!« Was ist damit, daß ich das Horn geblasen habe? »Ich bin nur ein Bauer.« Vielleicht glauben sie, daß ich irgendwie an Rand gebunden bin? Nein, Verin sagte... Er war nicht mehr sicher, was Verin gesagt hatte oder auch Moiraine, aber er glaubte, daß die meisten Aes Sedai überhaupt nichts von Rand wußten. Das sollte auch so bleiben, zumindest, bis er weit weg war. »Nur ein einfacher Landmann. Ich will nur ein wenig von der Welt sehen und dann auf den Hof meines Vaters zurückkehren.« Was meint sie mit Ruhm?

Selene schüttelte den Kopf, als habe sie in seinen Gedanken gelesen. »Ihr seid wichtiger, als Ihr wißt. Und ganz bestimmt wichtiger, als diese sogenannten Aes Sedai wissen. Ihr könnt Euch wirklich Ruhm erwerben, wenn Ihr schlau genug seid, ihnen nicht zu trauen.«

»Ihr hört Euch aber ganz danach an, als traut Ihr ihnen nicht.« Sogenannte? Ein Gedanke kam ihm, doch er konnte ihn kaum aussprechen. »Seid Ihr ein... ? Seid Ihr...?« Es war nicht gerade etwas, dessen man jemand leichthin beschuldigte.

»Ein Schattenfreund?« sagte Selene spottend. Es klang amüsiert und nicht verärgert, sogar verächtlich. »Einer dieser elenden Anhänger Ba'alzamons, der glaubt, er werde Unsterblichkeit und Macht erlangen? Ich folge niemandem. Es gibt einen Mann, neben dem ich stehen möchte, aber ich folge niemandem.«

Mat lachte nervös. »Natürlich nicht.« Blut und Asche, ein Schattenfreund würde sich selbst nicht als solchen bezeichnen. Vielleicht hat sie auch noch ein vergiftetes Messer dabei. Er erinnerte sich schwach an eine Frau, die wie eine Adlige gekleidet gewesen war und doch ein Schattenfreund mit einem tödlichen Dolch in der schmalen Hand. »Das habe ich nicht gemeint. Ihr seht aus... Ihr wirkt wie eine Königin. Das habe ich gemeint. Seid Ihr eine adlige Lady?«

»Mat, Mat, Ihr müßt lernen, mir zu vertrauen. O ja, ich werde Euch auch benützen — ihr seid von Natur aus zu mißtrauisch, besonders, seit Ihr den Dolch getragen habt, um es ableugnen zu können —, aber bei mir wird Euch das Reichtum einbringen und Macht und Ruhm. Ich werde Euch nicht drängen. Ich war immer der Meinung, daß Männer mehr leisten, wenn man sie überzeugt und nicht zwingt. Diese Aes Sedai erkennen überhaupt nicht, wie wichtig Ihr seid, und er wird versuchen, Euch abzulenken oder zu töten, aber ich kann Euch geben, was Ihr euch wünscht.«

»Er?« fragte Mat scharf. Mich töten? Licht, sie sind doch hinter Rand her und nicht hinter mir. Woher weiß sie das mit dem Dolch? Ich glaube fast, die ganze Burg weiß Bescheid. »Wer will mich töten?«

Selene verzog den Mund, als habe sie schon zuviel gesagt. »Ihr wißt, was Ihr wollt, Mat, und ich weiß das genausogut wie Ihr. Ihr müßt wählen, wem Ihr zutraut, alles für Euch zu tun. Ich gebe zu, daß ich Euch benützen werde. Diese Aes Sedai werden das nicht zugeben. Ich werde Euch zu Ruhm und Reichtum führen. Sie werden Euch an die Leine legen, bis Ihr sterbt.«

»Ihr sagt viel«, stellte Mat fest, »aber woher weiß ich, daß es stimmt? Wie kann ich Euch mehr trauen als ihnen?«

»Indem Ihr darauf hört, was sie Euch sagen und was sie Euch verschweigen. Werden sie Euch sagen, daß Euer Vater nach Tar Valon kam?«

»Mein Pa war hier?«

»Ein Mann namens Abell Cauthon und ein anderer namens Tam al'Thor. Sie machten soviel Ärger, sagt man, daß man ihnen schließlich eine Audienz gewährte. Sie wollten wissen, wo Ihr und Eure Freunde seid. Und Siuan Sanche schickte sie mit leeren Händen zu den Zwei Flüssen zurück und ließ sie noch nicht einmal wissen, daß Ihr am Leben seid. Werden sie Euch das erzählen, falls Ihr nicht direkt danach fragt? Vielleicht noch nicht einmal dann, denn es könnte sein, daß Ihr nach Hause zurücklauft.«

»Mein Pa glaubt, daß ich tot bin?« fragte Mat bedächtig.

»Man kann ihm sagen, daß Ihr lebt. Ich kann dafür sorgen. Überlegt gut, wem Ihr trauen könnt, Mat Cauthon. Werden sie Euch sagen, daß gerade jetzt Rand versucht, ihnen zu entkommen und daß diejenige namens Moiraine ihn verfolgt? Werden sie Euch sagen, daß die Schwarzen Ajah in ihrer kostbaren Weißen Burg umgehen? Werden sie Euch überhaupt sagen, auf welche Weise sie Euch benützen wollen?«

»Rand versucht, zu entkommen? Aber... « Vielleicht wußte sie, daß Rand sich zum Wiedergeborenen Drachen ausgerufen hatte, vielleicht wußte sie es auch nicht. Er würde es ihr sicherlich nicht sagen. Die Schwarzen Ajah! Blut und blutige Asche! »Wer seid Ihr, Selene? Wenn Ihr keine Aes Sedai seid, was seid Ihr dann?«

Ihr Lächeln ließ Geheimnisse ahnen. »Denkt nur daran, daß Ihr eine Wahl habt. Ihr braucht keine Marionette der Weißen Burg sein und keine Beute für Ba'alzamons Schattenfreunde. Die Welt ist komplizierter, als Ihr glaubt. Tut im Moment das, was die Aes Sedai von Euch wollen, aber denkt auch an die anderen Möglichkeiten. Wollt Ihr das tun?«

»Ich habe wohl kaum eine andere Wahl«, sagte er niedergeschlagen. »Ich denke, ich werde mich daran halten.«

Selene sah ihn scharf an. Die Freundlichkeit fiel von ihrer Stimme ab wie eine abgelegte Schlangenhaut. »Ihr denkt? Ich kam nicht so zu Euch und sprach nicht so zu Euch, nur um zu hören: Ihr denkt, Ihr würdet es so halten, Matrim Cauthon.« Sie streckte eine schmale Hand aus.

Ihre Hand war leer, und sie stand einen halben Raum weit von ihm entfernt, doch er wich vor ihrer Hand zurück, als hielte sie einen Dolch an seine Kehle. Er wußte nicht einmal genau, warum, doch in ihrem Blick lag eine ganz reale Drohung. Seine Haut begann zu jucken und die Kopfschmerzen kehrten zurück.

Mit einem Mal war jedoch sowohl das Jucken wie auch der Kopfschmerz weg, und Selenes Kopf fuhr herum. Es schien, als lausche sie nach etwas jenseits der Wand. Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich ein wenig und sie ließ die Hand sinken. Dann wirkte sie wieder wie vorher. »Wir werden uns wieder unterhalten, Mat. Ich habe Euch viel zu sagen. Denkt an die Wahl, die Ihr habt. Denkt daran, daß es viele Hände gibt, die Euch meucheln möchten. Ich allein kann Euch das Überleben garantieren und alles, wonach Ihr strebt, wenn Ihr tut, was ich sage.« Sie schlüpfte genauso leise und graziös aus dem Zimmer, wie sie gekommen war.

Mat stieß erleichtert die Luft aus. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Wer im Licht ist sie? Vielleicht ein Schattenfreund. Aber sie hatte, was Ba'alzamon betraf, genauso verächtlich geklungen wie den Aes Sedai gegenüber. Schattenfreunde sprachen sonst über Ba'alzamon so, wie andere über den Schöpfer. Und sie hatte ihn nicht einmal gebeten, ihren Besuch vor den Aes Sedai geheimzuhalten.

Richtig, dachte er mürrisch. Verzeihung, Aes Sedai, aber diese Frau kam mich besuchen. Sie war keine Aes Sedai, aber ich glaube, daß sie gerade dabei war, die Eine Macht bei mir anzuwenden, und sie sagte, sie sei kein Schattenfreund, aber sie behauptete, Ihr wolltet mich benützen und daß sich Schwarze Ajah in Eurer Burg befanden. Oh, und sie meinte, ich sei wichtig. Ich weiß nicht, warum. Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich jetzt gehe, oder?

Einfach wegzugehen erschien ihm von Minute zu Minute besser. Er glitt ungeschickt vom Bett herunter und schlich mühsam zum Kleiderschrank. Dabei hielt er immer noch die Decke um sich geschlossen. Seine Stiefel standen auf dem Schrankboden, und sein Umhang hing an einem Haken unter seinem Gürtel, komplett mit Gürteltasche und dem Messer in der Scheide. Es war ein einfaches Messer mit kräftiger Klinge, aber es würde genauso viel ausrichten wie ein feiner Dolch. Der Rest seiner Kleider — zwei dicke Wollmäntel, drei Hosen, ein halbes Dutzend Leinenhemden und Unterwäsche — war ausgebürstet und gewaschen worden und lag sauber gefaltet auf den Wäschebrettern in der anderen Schrankhälfte. Er tastete in die Gürteltasche hinein, doch sie war leer. Der Inhalt lag zusammen mit dem Inhalt seiner Taschen auf einem anderen Brett.

Er schob die Feder eines Rotfalken beiseite, dazu einen glatten, gestreiften Stein, dessen Farben ihm gefallen hatten, seine Rasierklinge und sein Taschenmesser mit dem Knochengriff. Dann befreite er seinen waschledernen Geldbeutel von den Schlingen einer Ersatz-Bogensehne. Als er ihn öffnete, merkte er, daß sein Gedächtnis in dieser Hinsicht nur zu gut funktioniert hatte.

»Zwei Silbermark und eine Handvoll Kupfermünzen«, knurrte er. »Damit komme ich nicht weit.« Einst wäre ihm das wie ein kleines Vermögen vorgekommen, aber das war gewesen, bevor er Emondsfeld verlassen hatte.

Er bückte sich und sah noch einmal in den Schrank hinein. Wo sind sie? Er fürchtete schon, die Aes Sedai hätten sie weggeworfen, so wie seine Mutter, wenn sie sie jemals gefunden hätte. Wo...? Erleichterung überkam ihn. Ganz hinten, hinter seiner Zunderschachtel und der Fadenrolle für Fangschlingen und ähnlichem, lagen seine beiden ledernen Würfelbecher.

Sie rasselten, als er sie hervorzog, aber trotzdem öffnete er sicherheitshalber die engen Lederdeckel. Alles war so, wie es sein sollte. Fünf Würfel mit eingeschnitzten Symbolen für Kronen und fünf mit den üblichen Punkten darauf. Die waren geeignet für eine ganze Reihe von Spielen, aber noch mehr Männer schienen sich auf das Kronenspiel verlegt zu haben. Jedenfalls würden ihm diese Würfel helfen, aus seinen zwei Mark genug zu machen, um ihn weit weg von Tar Valon zu bringen. Weg sowohl von den Aes Sedai, wie auch von Selene.

Auf ein energisches Klopfen hin öffnete sich sofort die Tür. Er fuhr herum. Die Amyrlin und die Behüterin der Chronik traten ein. Er hätte sie auch ohne die breite, gestreifte Stola der Amyrlin und die schmalere, blaue der Behüterin erkannt. Er hatte sie nur ein einziges Mal zuvor gesehen, weit weg von Tar Valon, aber die beiden mächtigsten Frauen unter den Aes Sedai konnte er nicht vergessen.

Die Amyrlin zog die Augenbrauen hoch, als sie ihn so dastehen sah mit der Decke, die von seinen Schultern hing und seinem Geldbeutel sowie den beiden Würfelbechern in der Hand. »Ich glaube nicht, daß Ihr die in der nächsten Zeit schon gebrauchen könnt, mein Sohn«, sagte sie trocken. »Legt sie weg und geht ins Bett zurück, bevor Ihr umfallt.«

Er zögerte und machte ein steifes Kreuz, aber gerade in dem Moment begannen seine Knie nachzugeben, und außerdem blickten ihn die beiden Aes Sedai so an, dunkle Augen und blaue Augen, die jeden rebellischen Gedanken lesen zu können schienen... Na ja, also tat er, was man ihm gesagt hatte. Mit krampfhaft festgehaltener Decke legte er sich auf das Bett, steif ausgestreckt und unentschlossen, wie er sich verhalten solle.

»Wie fühlt Ihr Euch?« fragte die Amyrlin kurz angebunden, während sie eine Hand auf seine Stirn legte. Er bekam eine Gänsehaut. Hatte sie irgend etwas mit der Einen Macht angefangen oder lag es nur daran, daß er von einer Aes Sedai berührt wurde?

»Mir geht es gut«, berichtete er. »Also, ich bin bereit, meiner Wege zu gehen. Laßt mich nur Egwene und Nynaeve auf Wiedersehen sagen und Ihr habt mich los. Ich meine, ich werde gehen... äh, Mutter.« Moiraine und Verin hatte seine Sprache nicht viel ausgemacht, aber das hier war doch immerhin der Amyrlin-Sitz.

»Unsinn«, sagte die Amyrlin. Sie zog den Lehnstuhl näher ans Bett heran, setzte sich und sagte zu Leane: »Männer wollen wohl niemals zugeben, daß sie krank sind, bis sie so krank sind, daß sie den Frauen die doppelte Arbeit machen. Und dann behaupten sie viel zu früh, sie seien wieder gesund, natürlich mit dem gleichen Ergebnis.«

Die Behüterin sah Mat an und nickte. »Ja, Mutter, aber der hier kann nicht behaupten, er sei gesund, wenn er kaum aufstehen kann. Wenigstens hat er das Tablett leergegessen.«

»Ich wäre überrascht, wenn er genug Krümel übriggelassen hätte, daß sich ein Fink dafür interessieren könnte. Und er hat immer noch Hunger, wenn mich nicht alles täuscht.«

»Ich könnte ihm noch einen Auflauf bringen lassen, Mutter. Oder etwas Kuchen.«

»Nein, ich glaube, er hat soviel gegessen, wie es gerade möglich war. Wenn er sich erbrechen muß, hilft es ihm nicht.«

Mat blickte finster drein. Es schien ihm, wenn er krank war, sei er für Frauen praktisch unsichtbar, außer, sie redeten ihn direkt an. Und dann taten sie so, als sei er mindestens zehn Jahre jünger. Nynaeve, seine Mutter, seine Schwestern, die Amyrlin, alle verhielten sie sich gleich.

»Ich habe überhaupt keinen Hunger«, verkündete er. »Ich fühle mich gut. Wenn Ihr mich nur anziehen laßt, dann zeige ich Euch schon, wie gut es mir geht. Ich bin draußen, bevor Ihr euch umdrehen könnt.« Nun sahen ihn beide an. Er räusperte sich. »Äh... Mutter.«

Die Amyrlin schnaubte. »Ihr habt ein Mahl für fünf Leute gegessen und Ihr werdet noch tagelang solche Mahlzeiten verdrücken, sonst verhungert Ihr! Ihr seid gerade von einer Verbindung geheilt worden mit einem Verderben, das jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Aridhol getötet hat und das auch nach zweitausend Jahren Warten nicht schwächer geworden ist, bis Ihr es auflesen mußtet. Es war dabei, Euch genauso sicher zu töten, wie es sie getötet hatte. Das ist nicht das gleiche, als hättet Ihr eine Fischgräte im Daumen stecken, Junge. Wir hätten Euch beinahe getötet beim Versuch, Euch zu retten!«

»Ich habe keinen Hunger.« Er bestand darauf. Sein Magen knurrte laut genug, um seine Worte Lügen zu strafen.

»Ich habe Euch schon beim ersten Zusammentreffen richtig eingeschätzt«, sagte die Amyrlin. »Ich wußte auch damals schon, daß Ihr wie ein aufgeschreckter Eisvogel durchgeht, wenn Ihr glaubt, jemand wolle Euch festhalten. Gut, daß ich meine Vorkehrungen getroffen habe.«

Er beäugte sie mißtrauisch. »Vorkehrungen?« Sie sahen ihm würdevoll in die Augen. Er hatte das Gefühl, sie steckten ihn mit ihren Blicken wie mit Nadeln am Bett fest.

»Euer Name und Eure Personenbeschreibung sind auf dem Weg zu den Brückenwächtern«, sagte die Amyrlin, »und zu den Wächtern an den Schiffsanlegestellen. Ich werde Euch nicht in der Burg festhalten, aber Tar Valon verlaßt Ihr nicht eher, als bis Ihr gesund seid. Solltet Ihr versuchen, Euch in der Stadt zu verstecken, wird Euch der Hunger schließlich wieder hierher treiben, und wenn nicht, finden wir Euch schon, bevor Ihr verhungert.«

»Warum wollt Ihr mich unbedingt hierbehalten?« wollte er wissen. Er hörte im Geist Selenes Stimme. Sie wollen Euch benützen. »Warum kümmert es Euch, ob ich verhungere oder nicht? Ich kann für mich selbst sorgen.«

Die Amyrlin lachte kurz auf, doch das Lachen klang nicht sehr amüsiert. »Mit zwei Silbermark und ein paar Kupfermünzen, mein Sohn? Ihr müßtet wirklich besonders viel Glück beim Würfeln haben, wenn Ihr damit all das Essen kaufen wolltet, das Ihr in den nächsten Tagen benötigt. Wir heilen nicht die Menschen, damit dann unsere Mühe umsonst war und sie sterben, obwohl sie noch pflegebedürftig sind. Und zudem könnte es sein, daß wir Euch noch weiter behandeln müssen.«

»Noch weiter? Ihr sagtet doch, ich sei geheilt. Warum sollte ich weitere Behandlung benötigen?«

»Mein Sohn, Ihr habt diesen Dolch monatelang getragen. Ich glaube, daß wir alle Spuren davon in Euch gefunden und beseitigt haben, aber sollten wir nur die kleinste übersehen haben, könnte sich das als tödlich erweisen. Und wer weiß, welche Wirkung es haben könnte, daß Ihr ihn so lange in Eurem Besitz hattet? In einem halben Jahr oder in einem Jahr wünscht Ihr euch vielleicht, es wäre eine Aes Sedai da, die Euch wieder heilt.«

»Ihr wollt, daß ich ein Jahr lang hierbleibe?« Er sagte das ungläubig und sehr laut. Leane verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß und sah ihn scharf an, doch die Gesichtszüge der Amyrlin blieben ruhig und gelassen.

»Vielleicht nicht ganz so lang, mein Sohn. Aber lang genug jedenfalls, bis wir sicher sein können. Das wollt Ihr doch wohl auch. Würdet Ihr in einem Schiff lossegeln, wenn Ihr nicht einmal wißt, ob es dicht ist oder ob vielleicht Planken angefault sind?«

»Ich habe noch nie was mit Schiffen zu tun gehabt«, brummte Mat. Es mochte ja stimmen. Die Aes Sedai logen nie, aber es enthielt für seinen Geschmack zu viele Ungewißheiten. »Ich bin schon eine lange Zeit von zu Hause weg, Mutter. Mein Pa und meine Mutter glauben vielleicht, ich sei tot.«

»Wenn Ihr ihnen einen Brief schreiben wollt, sorge ich dafür, daß er nach Emondsfeld gebracht wird.«

Mat wartete auf weitere Äußerungen, doch die blieben aus. »Danke, Mutter.« Er brachte ein kurzes Auflachen zustande. »Ich bin ja schon einigermaßen überrascht, daß mein Pa nicht gekommen ist, um mich aufzuspüren. Er ist die Art von Vater, die das tun würde.« Er war sich nicht sicher, glaubte aber, ein ganz kurzes Zögern in der Stimme der Amyrlin zu vernehmen, bevor sie antwortete: »Er ist gekommen. Leane hat mit ihm gesprochen.«

Die Behüterin fuhr ihrerseits gleich fort: »Wir wußten zu der Zeit nicht, wo Ihr wart, Mat. Ich habe ihm das gesagt, und er reiste noch vor den schwereren Schneefällen wieder ab. Ich gab ihm etwas Gold mit, damit die Heimreise leichter würde.«

»Zweifellos wird er froh sein«, sagte die Amyrlin, »von Euch zu hören. Genau wie Eure Mutter. Gebt mir den Brief, wenn Ihr ihn fertig habt, und ich kümmere mich darum.«

Sie hatten es ihm gesagt, aber er hatte danach fragen müssen. Und Rands Pa haben sie nicht erwähnt. Vielleicht dachten sie, es sei mir gleich, und vielleicht... Seng mich, ich weiß es nicht. »Ich war mit einem Freund unterwegs, Mutter. Rand al'Thor. Erinnert Ihr euch? Wißt Ihr, ob es ihm gutgeht? Ich wette, sein Vater macht sich auch Sorgen.«

»Soweit ich weiß«, sagte die Amyrlin verbindlich, »geht es ihm gut genug, aber wer weiß das schon genau? Ich habe ihn nur einmal gesehen, zur gleichen Zeit wie Euch, in Fal Dara.« Sie wandte sich der Behüterin zu. »Vielleicht könnte er doch noch ein kleines Stück Auflauf vertragen, Leane. Und etwas für seinen Hals, wenn er soviel redet. Sorgt Ihr dafür, daß ihm etwas gebracht wird?«

Die hochgewachsene Aes Sedai ging mit einem gemurmelten: »Wie Ihr wünscht, Mutter.«

Als sich die Amyrlin wieder Mat zuwandte, lächelte sie, doch ihre Augen waren wie blaues Eis. »Es gibt Dinge, die zu gefährlich für Euch sind, um vor anderen, selbst vor Leane, darüber zu sprechen. Eine lose Zunge hat schon mehr Männer umgebracht als plötzliche Gewitterstürme.«

»Gefährlich, Mutter?« Sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet, doch er widerstand dem Drang, sich die Lippen zu lecken. Licht, wieviel weiß sie von Rand? Wenn nur Moiraine nicht um alles solche Geheimnisse machte! »Mutter, ich weiß nichts Gefährliches. Ich kann mich kaum an die Hälfte dessen erinnern, was ich einmal wußte.«

»Erinnert Ihr euch an das Horn?«

»Welches Horn soll das sein, Mutter?«

Sie war so schnell auf den Beinen und ragte plötzlich drohend über ihm auf, daß er gar nicht so schnell schalten konnte. »Wenn Ihr Spielchen mit mir spielt, Junge, werde ich dafür sorgen, daß Ihr Euch nach Eurer Mutter Rockzipfel zurücksehnt. Ich habe keine Zeit für Spiele und Ihr genausowenig. Also, erinnert-Ihr-Euch-jetzt?«

Er hielt sich erschrocken an der Decke fest und schluckte, bevor er zugab: »Ich erinnere mich daran, Mutter.«

Sie schien sich ein wenig zu entspannen, und Mat rollte die Schultern, um die Verkrampfung zu lösen. Er hatte das Gefühl, er habe gerade den Kopf vom Richtklotz des Henkers weggezogen.

»Gut. Das ist gut, Mat.« Sie setzte sich betont langsam wieder hin und musterte ihn. »Wißt Ihr, daß Ihr an das Horn gebunden seid?« Er formte lautlos das Wort ›gebunden‹ mit den Lippen, so überrascht und erschrocken war er. Sie nickte. »Ich glaubte auch nicht, daß Ihr das wußtet. Ihr wart der erste, der das Horn von Valere blies, nachdem es gefunden worden war. Für Euch wird es nun tote Helden aus den Gräbern zurückholen. Für jeden anderen ist es nur ein Horn — solange Ihr am Leben seid.«

Er atmete tief ein. »Solange ich am Leben bin«, sagte er mit tonloser Stimme, und die Amyrlin nickte. »Ihr hättet mich sterben lassen können.« Sie nickte erneut. »Dann hättet Ihr jeden in das Horn stoßen lassen können, der Euch recht ist, und es hätte ihm gedient.« Wieder ein Nicken. »Blut und Asche! Ihr wollt, daß ich es für Euch benütze! Wenn die Letzte Schlacht kommt, dann wollt Ihr, daß ich für Euch die toten Helden aus den Gräbern rufe, um gegen den Dunklen König zu kämpfen. Blut und blutige Asche!«

Sie stützte einen Ellbogen auf die Stuhllehne und ihren Kopf wiederum auf diese Hand. Ihr Blick ruhte die ganze Zeit über auf ihm. »Zieht Ihr die Alternative vor?«

Er runzelte die Stirn, und dann wurde ihm klar, was die Alternative war. Wenn jemand anders das Horn blasen mußte... »Ihr wollt, daß ich das Horn blase? Dann werde ich es tun. Ich habe nie gesagt, daß ich es nicht tue, oder?«

Die Amyrlin seufzte ergeben. »Ihr erinnert mich an meinen Onkel Huan. Keiner konnte ihn jemals irgendwie festnageln. Er spielte auch gern, und er vergnügte sich lieber, als zu arbeiten. Er starb, als er Kinder aus einem brennenden Haus rettete. Er ging immer wieder zurück, solange noch eines darin war. Seid Ihr genauso, Mat? Werdet Ihr da sein, wenn die Flammen hochschlagen?«

Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er betrachtete seine Finger, die ungeduldig an der Decke zupften. »Ich bin kein Held. Ich tue, was sein muß, aber ein Held bin ich nicht.«

»Die meisten derer, die wir Helden nennen, taten auch nur das, was sein mußte. Ich denke, das muß genügen. Für den Augenblick. Ihr dürft mit niemandem außer mir über das Horn sprechen, mein Sohn. Oder davon, daß Ihr daran gebunden seid.«

Für den Augenblick? dachte er. Mehr werdet Ihr nie zu hören bekommen, weder jetzt noch später. »Ich habe nicht vor, jedem verdammten...« Sie zog die Augenbrauen hoch, und er beherrschte sich. »Ich will es ja niemandem erzählen. Ich wünschte, niemand wüßte davon. Warum wollt Ihr es so geheim halten? Traut Ihr euren Aes Sedai nicht?«

Einen sehr langen Augenblick über glaubte er, er sei zu weit gegangen. Ihr Gesicht verhärtete sich, und mit ihrem Blick hätte man Axtstiele schneiden können.

»Wenn ich dafür sorgen könnte, daß nur Ihr und ich davon wissen«, sagte sie kalt, »dann würde ich es tun. Je mehr Leute von einer Sache wissen, desto schneller verbreitet sich die Kunde davon. Das ist sogar bei den Besten so. Der größte Teil der Welt hält das Horn von Valere für eine bloße Legende, und diejenigen, die es besser wissen, glauben, es müsse erst von einem der Jäger gefunden werden. Aber Shayol Ghul weiß, daß es gefunden wurde, und das bedeutet, daß auch zumindest ein paar Schattenfreunde davon wissen. Doch sie wissen nicht, wo es ist, und falls uns das Licht gnädig ist, wissen sie auch nicht, daß Ihr es geblasen habt. Möchtet Ihr wirklich die Schattenfreunde hinter Euch her haben? Halbmenschen oder andere Abkömmlinge des Schattens? Sie wollen das Horn haben. Das müßt Ihr wissen. Es wirkt genauso für den Schatten wie für das Licht. Aber wenn es auf ihrer Seite sein soll, müssen sie Euch finden oder Euch töten. Wollt Ihr das riskieren?«

Mat wünschte sich eine zweite Decke oder vielleicht sogar ein Federbett. Im Raum war es mit einem Mal sehr kalt. »Wollt Ihr damit sagen, daß mich die Schattenfreunde sogar hier jagen könnten? Ich glaubte, in der Weißen Burg gebe es keine Schattenfreunde.« Er dachte daran, was Selene über die Schwarzen Ajah gesagt hatte, und fragte sich, was die Amyrlin wohl antworten werde.

»Ein guter Grund hierzubleiben, ja?« Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. »Ruht Euch aus, mein Sohn. Bald fühlt Ihr euch viel besser. Ruht.« Sie schloß die Tür leise hinter sich.

Lange Zeit lag Mat nur da und starrte die Decke an. Er bemerkte kaum, daß eine Dienerin mit seinem Auflauf kam und einem weiteren Krug Milch. Sie nahm das geleerte Tablett wieder mit. Sein Bauch knurrte wieder vernehmlich, als es so gut nach warmen Äpfeln und Gewürzen duftete, aber auch das beachtete er nicht. Die Amyrlin glaubte, sie habe ihn wie ein Schaf im Pferch gefangen. Und Selene... Wer zum Licht noch mal ist sie? Was will sie eigentlich? Selene hatte in mancher Hinsicht recht gehabt. Aber die Amyrlin hatte ihm gegenüber zugegeben, daß sie ihn benützen wolle und auch, wie. Auf gewisse Weise. Es gab in dem, was sie gesagt hatte, zu viele Lücken, durch die etwas Tödliches schlüpfen konnte. Die Amyrlin wollte etwas von ihm, und Selene wollte etwas von ihm. Er war das Tau, an dem sie beide zogen. Er hätte lieber Trollocs gegenübergestanden, als zwischen diesen beiden aufgerieben zu werden.

Es mußte einen Weg aus Tar Valon heraus geben, um beiden zu entkommen. Wenn er einmal auf der anderen Seite des Flusses war, konnte er sich von den Aes Sedai fernhalten und auch von Selene und den Schattenfreunden. Da war er sicher. Es mußte einen Weg geben. Alles, was er zu tun hatte, war eben, die Dinge von allen Seiten zu betrachten.

Der Auflauf auf dem Tisch wurde kalt.


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