16 Drei Jägerinnen

Nynaeves Zimmer war um einiges größer als die Zimmer der Novizinnen. Sie hatte ein richtiges Bett darin und nicht eine in die Wand eingebaute Koje, zwei Lehnstühle statt eines Hockers und einen Kleiderschrank. Die Möbel waren schlicht wie in einem besseren Bauernhaus, aber verglichen mit der Einrichtung bei den Novizinnen waren die Aufgenommenen von Luxus umgeben. Es gab sogar einen kleinen Teppich, der auf blauem Untergrund gelbe und rote Runenmuster aufwies. Das Zimmer war aber nicht leer, als Egwene und Nynaeve eintraten.

Elayne stand vor dem Kamin und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Augen waren gerötet, und das offensichtlich zumindest teilweise vor Zorn. Zwei hochgewachsene junge Männer saßen auf den Lehnstühlen. Einer hatte seinen dunkelgrünen Mantel geöffnet, so daß sein schneeweißes Hemd sichtbar war. Seine Augen waren genauso blau wie die Elaynes und sein Haar genauso rotblond. Auch sein grinsendes Gesicht wies ihn ganz klar als Elaynes Bruder aus. Der andere, etwa gleich alt wie Nynaeve und mit einem grauen, ordentlich zugeknöpften Mantel angetan, war gertenschlank und hatte dunkles Haar und ebenso dunkle Augen. Er erhob sich mit einer fließend eleganten Bewegung und offensichtlich großem Selbstvertrauen, als Egwene und Nynaeve eintraten. Egwene konnte sich nicht helfen, aber sie hielt ihn für den bestaussehenden Mann, den sie jemals kennengelernt hatte. Er hieß Galad.

»Es ist schön, Euch wiederzusehen«, sagte er und nahm ihre Hand in die seine. »Ich habe mir Euretwegen Sorgen gemacht. Wir waren sehr besorgt.«

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, und sie zog schnell ihre Hand zurück, bevor er es bemerkte. »Danke, Galad«, murmelte sie. Licht, sieht der gut aus! Sie sagte sich, daß sie aufhören müsse, an ihn zu denken. Das war nicht leicht. Statt dessen ertappte sie sich dabei, wie sie ihr Kleid glattstrich und sich wünschte, es wäre aus Seide anstelle dieser einfachen Wolle — vielleicht eines dieser Domani-Kleider, von denen Min ihr erzählt hatte, die so dünn und anschmiegsam waren, daß man glaubte, sie seien durchsichtig, auch wenn das gar nicht der Fall war. Sie errötete heftig und verbannte die Vorstellung aus ihrem Geist. Sie hoffte, er werde ihr Erröten nicht bemerken. Es half nichts, daß die Hälfte aller Frauen in der Burg — von den Küchenmädchen bis hin zu den Aes Sedai selbst — ihn auf genau die gleiche Weise angafften. Es half auch nichts, daß sein Lächeln wirkte, als sei es nur für sie allein bestimmt. Das machte die Dinge nur noch schlimmer. Licht, wenn er auch nur ahnt, was ich denke, sterbe ich auf der Stelle!

Der goldhaarige junge Mann beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Die Frage ist nur, wo habt ihr gesteckt? Elayne weicht meinen Fragen aus, als habe sie die Taschen voller Feigen und wolle mir keine abgeben.«

»Ich habe es dir doch gesagt, Gawyn«, sagte Elayne genervt. »Es geht dich nichts an. Ich bin hierhergekommen«, fuhr sie zu Nynaeve gewandt fort, »weil ich nicht allein sein wollte. Sie sahen mich und folgten mir einfach. Sie akzeptieren einfach kein Nein.«

»Anscheinend nicht«, bemerkte Nynaeve trocken.

»Aber es geht uns etwas an, Schwester«, sagte Galad.

»Deine Sicherheit geht uns sogar sehr viel an.« Er sah Egwene dabei an, und sie fühlte, wie ihr Herz höher schlug. »Eure Sicherheit ist für mich sehr wichtig. Für uns.«

»Ich bin nicht deine Schwester«, fauchte ihn Elayne an.

»Wenn ihr Gesellschaft braucht«, sagte Gawyn lächelnd zu Elayne, »sind wir ja wohl gut genug. Und nach allem, was wir durchgemacht haben, um überhaupt hier sein zu können, verdienen wir auch eine Erklärung, wo ihr gewesen seid. Ich lasse mich lieber den ganzen Tag lang von Galad über das Übungsgelände scheuchen, als Mutter eine einzige Sekunde lang gegenüberzustehen. Mir ist noch lieber, wenn Coulin wütend auf mich ist.« Coulin war der Waffenmeister und brachte den jungen Männern, die in die Burg kamen, um sich von ihm ausbilden zu lassen, strengste Disziplin bei, gleich, ob sie nun Behüter werden wollten oder nur von ihnen lernen.

»Du kannst unsere Familienbande verleugnen, soviel du willst«, sagte Galad ernst zu Elayne, »aber sie existieren deshalb immer noch. Und Mutter hat uns für deine Sicherheit verantwortlich gemacht.«

Gawyn schnitt eine Grimasse. »Sie zieht uns das Fell über die Ohren, Elayne, wenn dir irgend etwas zustößt. Wir mußten uns den Mund fußlig reden, sonst hätte sie uns gleich mit nach Hause geschleppt. Ich habe noch nie davon gehört, daß eine Königin ihre eigenen Söhne zum Henker geschickt hat, aber bei Mutter klang es danach, als werde sie die erste sein, die das tut, wenn wir dich nicht sicher nach Hause bringen.«

»Ich bin sicher«, meinte Elayne, »daß ihr euch ganz gewiß nur meinetwegen den Mund fußlig geredet habt, und überhaupt nicht, weil ihr hierbleiben wolltet, um von den Behütern zu lernen.« Gawyn war nun mit dem Erröten an der Reihe.

»Deine Sicherheit war unser Hauptanliegen.« Es klang durchaus ernst gemeint bei Galad, und Egwene war auch davon überzeugt. »Wir brachten es fertig, Mutter davon zu überzeugen, daß ihr bei eurer Rückkehr jemanden braucht, der auf euch aufpaßt.«

»Auf mich aufpassen!« rief Elayne, doch Galad sprach einfach weiter.

»Die Weiße Burg ist zu einem gefährlichen Ort geworden. Es hat Todesfälle gegeben — Morde —, die nicht richtig geklärt worden sind. Sogar ein paar Aes Sedai sind getötet worden, obwohl man versucht hat, das zu vertuschen. Und ich habe gerüchteweise von Schwarzen Ajah gehört, und das sogar in der Burg selbst. Mutter hat befohlen, dich nach Caemlyn zurückzubringen, sobald deine Ausbildung so weit fortgeschritten ist, daß du in Sicherheit zurückkehren kannst.«

Anstatt einer Antwort hob Elayne nur die Nase noch ein wenig höher und wandte sich von ihm ab.

Gawyn fuhr sich entmutigt mit der Hand durch das Haar. »Licht, Nynaeve, Galad und ich sind doch keine Verbrecher. Alles, was wir wollen, ist doch zu helfen! Wir würden das sowieso tun, aber Mutter hat es befohlen, also könnt ihr uns das auch nicht ausreden.«

»Morgases Befehle haben in Tar Valon keine Gültigkeit«, sagte Nynaeve gelassen. »Was euer Angebot betrifft, uns zu helfen, so werde ich mich daran erinnern. Sollten wir Hilfe benötigen, werdet ihr unter den ersten sein, die davon erfahren. Aber jetzt wünsche ich, daß ihr geht.« Sie deutete entschlossen auf die Tür, doch er ignorierte sie.

»Das ist alles schön und gut, aber Mutter wird wissen wollen, ob Elayne zurückgekommen ist. Und warum sie, ohne ein Wort zu sagen, fortgelaufen ist und was sie all diese Monate über getan hat. Licht, Elayne! Die ganze Burg war in Aufruhr. Mutter war halb verrückt vor Angst. Ich glaubte schon, sie wolle die ganze Burg mit den Händen niederreißen.« Elaynes Gesicht nahm einen leicht schuldbewußten Ausdruck an und Gawyn nützte das aus. »Das bist du ihr schuldig, Elayne. Und das bist du auch mir schuldig. Seng mich, aber du bist so stur wie ein Maulesel. Du warst monatelang weg, und alles, was ich vor dir weiß, ist, daß du dich mit Sheriam angelegt hast. Und das weiß ich auch nur, weil du geheult hast und dich nicht hinsetzen willst.« Elaynes beleidigter Blick zeigte, daß er den errungenen Vorteil wieder verspielt hatte.

»Genug«, sagte Nynaeve. Galad und Gawyn öffneten gleichzeitig den Mund, doch sie erhob ihre Stimme: »Ich sagte: Genug!« Sie funkelte die beiden derart an, daß sie verstummten, und fuhr dann fort: »Elayne ist euch beiden nichts schuldig. Wenn sie es vorzieht, euch nichts zu sagen, dann ist das ihre Sache. Das hier ist mein Zimmer und kein öffentlicher Schankraum. Also raus mit euch!«

»Aber, Elayne...«, begann Gawyn in der gleichen Sekunde, in der Galad sagte: »Wir wollen doch nur... «

Nynaeve sagte so laut, daß sie die beiden übertönte: »Ich bezweifle, daß ihr um Erlaubnis gebeten habt, die Quartiere der Aufgenommenen betreten zu dürfen.« Sie sahen sie überrascht an. »Das dachte ich mir. Ihr werdet aus meinem Zimmer und aus meinen Augen sein, bevor ich bis drei gezählt habe, sonst schicke ich dem Waffenmeister eine Beschwerde über euch. Coulin Gaidin ist viel kräftiger als Sheriam Sedai, und ihr könnt sicher sein, daß ich dabeisein werde, um zu sehen, ob er euch auch richtig versohlt.«

»Nynaeve, das würdest du doch...«, fing Gawyn besorgt an, doch Galad bedeutete ihm, zu schweigen, und er trat auf Nynaeve zu.

Ihre Miene blieb streng, doch unbewußt strich sie ihr Kleid glatt, als er auf sie herablächelte. Egwene war nicht überrascht. Sie hatte wohl außer den Roten Ajah noch keine Frau erlebt, die von Galads Lächeln unbeeindruckt geblieben war.

»Ich entschuldige mich dafür, Nynaeve, daß wir uns unerwünscht aufgedrängt haben«, sagte er verbindlich. »Wir werden natürlich gehen. Aber denkt daran, daß wir hier sind, falls ihr uns braucht. Und was immer euch dazu brachte, von hier fortzulaufen: Wir können euch auch dabei helfen.«

Nynaeve erwiderte sein Lächeln. »Eins«, sagte sie.

Galad blinzelte, und sein Lächeln erstarb. Ruhig wandte er sich Egwene zu. Gawyn stand auf und ging zur Tür. »Egwene«, sagte Galad, »du weißt, daß gerade du immer darauf zählen kannst, daß ich dir zu jeder Zeit und bei allem helfe. Ich hoffe, das vergißt du nicht.«

»Zwei«, sagte Nynaeve.

Galad sah sie irritiert an. »Wir sprechen noch miteinander«, sagte er zu Egwene und beugte sich über ihre Hand. Mit einem Abschiedslächeln trat er ohne jede Eile auf die Tür zu.

»Drrrrrr... « — Gawyn schoß durch die Tür, und selbst Galads Schritt verlor durch eine plötzliche Beschleunigung viel von seiner üblichen Grazie — »ei«, vollendete Nynaeve, als die Tür auch schon zuknallte.

Elayne klatschte begeistert in die Hände. »Gut gemacht«, sagte sie. »Sehr gut gemacht. Ich wußte noch nicht einmal, daß es Männern verboten ist, die Quartiere der Aufgenommenen zu betreten.«

»Ist es nicht«, sagte Nynaeve trocken, »aber das haben diese Halunken eben auch nicht gewußt.« Elayne klatschte noch einmal lachend Beifall. »Ich hätte sie ja einfach auf gewöhnliche Art gehen lassen«, fügte Nynaeve hinzu, »wenn Galad nicht so ein Theater gemacht hätte. Dieser junge Mann sieht einfach zu gut aus für sein eigenes Wohlergehen.« Egwene hätte beinahe aufgelacht. Galad war kaum ein Jahr jünger als Nynaeve, wenn überhaupt, und Nynaeve strich sich schon wieder über das Kleid.

»Galad!« fauchte Elayne. »Er wird uns wieder belästigen, und ich weiß nicht, ob dein Trick ein zweitesmal klappen wird. Er tut, was er für richtig hält, gleich, wem er damit weh tut, und wenn er selbst der Leidtragende ist.«

»Dann lasse ich mir etwas anderes einfallen«, sagte Nynaeve. »Wir können es uns nicht leisten, wenn sie uns ständig hinterherlaufen. Elayne, wenn du möchtest, bereite ich dir eine Salbe, die deine Schmerzen lindert.«

Elayne schüttelte den Kopf und legte sich dann der Länge nach auf dem Bauch aufs Bett. »Wenn Sheriam das merkt, haben wir zweifellos beide einen weiteren Besuch bei ihr vor uns. Du hast nicht viel gesagt, Egwene. Hat es dir die Sprache verschlagen?« Ihr Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Oder ist Galad daran schuld?«

Egwene errötete unwillkürlich. »Ich wollte mich einfach nicht mit ihnen herumärgern«, sagte sie so würdevoll wie möglich.

»Selbstverständlich«, meinte Elayne knurrig. »Ich gebe ja zu, daß Galad gut aussieht. Aber er ist auch schrecklich. Er tut immer das Richtige, so wie er es sieht. Er hat niemals Mutters Befehlen zuwidergehandelt — nicht mal in der kleinsten Sache. Er bringt keine Lüge über die Lippen, nicht mal eine Notlüge, und er übertritt keine Vorschrift. Falls er dich verpetzt, weil du etwas Verbotenes gemacht hast, empfindet er keinerlei Schadenfreude. Er ist höchstens traurig darüber, daß du seinem Maßstab nicht gerecht wurdest. Aber das ändert nichts daran, daß er dich verpetzen wird.«

»Das klingt... unangenehm«, sagte Egwene zurückhaltend, »aber nicht schrecklich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Galad etwas Schreckliches tut.«

Elayne schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, daß Egwene so blind sei. »Wenn du dich irgend jemandem widmen willst, dann versuch's mal mit Gawyn. Der ist wirklich nett — jedenfalls meistens —, und er ist in dich verknallt.«

»Gawyn? Er hat mir noch nie einen zweiten Blick zugeworfen.«

»Natürlich nicht, du Närrin! So, wie du Galad anhimmelst, daß man glauben könnte, dir fallen gleich die Augen aus dem Kopf.« Egwenes Wangen brannten, doch sie befürchtete, es könne etwas Wahres daran sein. »Galad hat ihm das Leben gerettet, als Gawyn noch ein Kind war«, fuhr Elayne fort. »Gawyn wird niemals zugeben, daß er sich für eine Frau interessiert, falls Galad auf sie wild ist, aber ich habe gehört, wie er über dich spricht und ich weiß Bescheid. Vor mir konnte er noch nie etwas verbergen.«

»Schön, das zu wissen«, sagte Egwene, und dann lachte sie über Elaynes Grinsen. »Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, daß er mir ein paar dieser Sachen erzählt und nicht bloß dir.«

»Du könntest die Grünen Ajah wählen, ja? Die Grünen Schwestern heiraten manchmal. Gawyn ist wirklich in dich verknallt, und du wärst gut für ihn. Außerdem hätte ich dich schon gern zur Schwägerin.«

»Wenn ihr zwei mit eurem Geschnatter fertig seid«, unterbrach Nynaeve sie, »dann können wir vielleicht zur Abwechslung mal über etwas Wichtiges sprechen.«

»Ja«, sagte Elayne, »wie zum Beispiel darüber, was die Amyrlin euch gesagt hat, nachdem ich gehen mußte.«

»Ich möchte darüber lieber nicht sprechen«, sagte Egwene verlegen. Sie wollte Elayne nicht gern anlügen. »Sie hat jedenfalls nichts Angenehmes gesagt.«

Elayne schnaubte ungläubig. »Die meisten Leute glauben, daß ich bei allem besser wegkomme, weil ich Tochter-Erbin von Andor bin. In Wirklichkeit aber ist es umgekehrt, und mich trifft alles um so härter, gerade weil ich Tochter-Erbin bin. Keine von euch hat etwas anderes getan als ich, und wenn die Amyrlin mit euch hart ins Gericht gegangen wäre, hätte ich das Doppelte abbekommen. Also, was hat sie gesagt?«

»Du mußt das aber vertraulich behandeln«, sagte Nynaeve. »Die Schwarzen Ajah... «

»Nynaeve!« rief Egwene. »Die Amyrlin sagte, daß Elayne aus dem Spiel bleiben solle!«

»Die Schwarzen Ajah!« Elayne schrie das beinahe heraus und rappelte sich auf dem Bett zu einer knienden Haltung hoch. »Ihr könnt mich nicht im Unklaren lassen, nachdem ihr schon soviel herausgelassen habt. Ich lasse mich nicht zur Seite schieben.«

»Das hatte ich auch niemals vor«, versicherte Nynaeve ihr. Egwene blickte sie mit großen Augen an. »Egwene, du und ich, uns betrachtete Liandrin als Bedrohung. Wir beide wurden eben erst beinahe getötet... «

»Beinahe getötet?« flüsterte Elayne.

»... vielleicht, weil wir immer noch eine Bedrohung darstellen, oder vielleicht auch, weil sie bereits wissen, daß wir allein mit der Amyrlin gesprochen haben und was sie uns berichtete. Wir brauchen jemanden auf unserer Seite, die sie nicht kennen, und wenn auch die Amyrlin keine Ahnung davon hat, um so besser. Ich bin nicht sicher, ob wir der Amyrlin viel mehr trauen können als den Schwarzen Ajah. Sie will uns benützen, wozu auch immer. Ich werde dafür sorgen, daß wir dabei nicht verlieren. Verstehst du das?«

Egwene nickte zögernd. Trotzdem sagte sie: »Es wird gefährlich, Elayne, genauso gefährlich wie alles, was wir in Falme erlebten. Vielleicht noch mehr. Du mußt dich diesmal nicht darin verwickeln lassen.«

»Das weiß ich«, sagte Elayne leise. Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Wenn Andor in den Krieg zieht, dann befehligt der Erste Prinz des Schwertes das Heer, aber die Königin reitet auch mit. Vor siebenhundert Jahren wurden die Mannen aus Andor in der Schlacht bei Cuallin Dhen bereits zurückgeschlagen, als Königin Modrellein allein und unbewaffnet losritt und das Löwenbanner mitten unter die Soldaten aus Tear brachte. Die Mannen von Andor fingen sich noch einmal und griffen wieder an, retteten sie und gewannen die Schlacht. Diese Art von Mut erwartet man von der Königin von Andor. Wenn ich jetzt noch nicht gelernt habe, meine eigene Angst unter Kontrolle zu bringen, dann muß ich das spätestens, bevor ich den Platz meiner Mutter auf dem Löwenthron einnehme.« Plötzlich löste sich ihre düstere Stimmung in einem Kichern auf. »Außerdem, glaubt ihr etwa, ich wolle ein Abenteuer verpassen, damit ich Töpfe auskratzen kann?«

»Das wirst du sowieso tun müssen«, erwiderte Nynaeve. »Und dazu hoffen, daß alle glauben, du tätest nichts anderes. Jetzt höre gut zu.«

Elayne lauschte, und ihre Kinnlade klappte immer mehr herunter, als ihr Nynaeve eröffnete, was die Amyrlin ihnen berichtet hatte, und die Aufgabe, die sie ihnen anvertraut hatte, und den Anschlag auf ihr Leben. Sie schauderte bei der Erwähnung des Grauen Mannes und las staunend das Dokument, das die Amyrlin Nynaeve gegeben hatte. Sie gab es zurück und knurrte: »Wenn ich das nur bei meiner nächsten Begegnung mit Mutter hätte.« Als Nynaeve schließlich fertig war, blickte Elayne ziemlich frustriert drein.

»Also, das ist ja so, als sage man euch, ihr sollt in die Hügel hinaufmarschieren und Löwen suchen, nur daß ihr gar nicht wißt, ob es dort Löwen gibt, und falls es sie gibt, kann es sein, daß sie euch jagen und daß sie sich hinter jedem Busch verborgen haben können. Oh, und falls ihr Löwen findet, schaut ja zu, daß sie euch nicht auffressen, bevor ihr weitermelden könnt, wo sie sind.«

»Wenn du Angst hast«, stellte Nynaeve fest, »kannst du dich immer noch heraushalten. Wenn du aber einmal damit begonnen hast, ist es zu spät.«

Elayne rümpfte die Nase. »Klar habe ich Angst. Ich bin keine Närrin. Aber ich habe nicht soviel Angst, daß ich einen Rückzieher mache, bevor ich überhaupt angefangen habe.«

»Da ist noch etwas«, sagte Nynaeve. »Ich fürchte, die Amyrlin plant, Mat sterben zu lassen.«

»Aber eine Aes Sedai muß doch jeden heilen, der sie darum bittet!« Die Tochter-Erbin schien zwischen Zorn und Ungläubigkeit zu schwanken. »Warum sollte sie Mat sterben lassen? Das kann ich nicht glauben. Das will ich nicht glauben!«

»Ich auch nicht«, keuchte die völlig überraschte Egwene. Das kann sie nicht gemeint haben! Sie kann ihn nicht einfach sterben lassen! »Den ganzen Weg nach hier über hat Verin gesagt, die Amyrlin werde dafür sorgen, daß er geheilt wird.«

Nynaeve schüttelte den Kopf. »Verin sagte, die Amyrlin werde sich um ihn kümmern! Das ist nicht das gleiche. Und die Amyrlin vermied jedes klare Ja oder Nein, als ich sie danach fragte. Vielleicht hat sie sich noch nicht entschieden.«

»Aber warum?« fragte Elayne.

»Die Weiße Burg hat für alles, was sie tut, ihre eigenen Gründe.« Der Klang von Nynaeves Stimme ließ Egwene schaudern. »Ich weiß nicht, warum. Ob sie Mat wieder zum Leben erwecken oder ihn sterben lassen, hängt davon ab, was ihnen am besten dient. Keiner der Drei Eide besagt, daß sie ihn heilen müssen. Mat ist einfach ein Werkzeug in den Augen der Amyrlin. Sie benützt uns, um die Schwarzen Ajah zu suchen, aber wenn man ein Werkzeug kaputtmacht, so daß es nicht mehr repariert werden kann, weint man ihm deshalb noch lange keine Träne nach. Man holt sich einfach ein neues. Daran solltet ihr beiden auch immer denken.«

»Was sollen wir seinetwegen unternehmen?« fragte Egwene. »Was können wir tun?«

Nynaeve ging zu ihrem Kleiderschrank und kramte tief darin herum. Als sie wieder auftauchte, hielt sie einen gestreiften Stoffbeutel mit Kräutern in der Hand. »Mit meiner eigenen Medizin — und ein wenig Glück — kann ich ihn vielleicht selbst heilen.«

»Verin hat es nicht fertiggebracht«, sagte Elayne. »Moiraine und Verin gemeinsam konnten es nicht, und Moiraine hatte einen Angreal. Nynaeve, wenn du zuviel von der Einen Macht auf einmal heranziehst, kannst du dich selbst zu Asche verbrennen. Oder dich selbst einer Dämpfung unterziehen, falls du Glück hast. Wenn man das Glück nennen kann.«

Nynaeve zuckte die Achseln. »Sie sagen mir immer wieder, daß ich das Potential habe, die stärkste Aes Sedai der letzten tausend Jahre zu werden. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, herauszufinden, ob sie recht haben.« Sie zupfte schon wieder an ihrem Zopf.

Es war klar: Wie tapfer ihre Worte auch klingen mochten — sie hatte trotzdem Angst. Aber sie wird Mat nicht sterben lassen, auch wenn sie ihr eigenes Leben dabei riskiert. »Sie sagen doch, wir drei seien alle derart mächtig — oder werden es eines Tages sein. Vielleicht können wir den Strom zwischen uns aufteilen, wenn wir zusammenarbeiten.«

»Wir haben noch nie versucht, zusammenzuarbeiten«, sagte Nynaeve bedächtig. »Ich bin nicht sicher, daß ich es fertigbringe, unsere Fähigkeiten irgendwie zusammenzuführen. Der Versuch allein könnte schon genauso gefährlich sein wie die Entnahme von zuviel Energie.«

»Ach, wenn wir es tun wollen«, sagte Elayne und kletterte vom Bett, »dann los. Je länger wir darüber reden, desto mehr Angst bekommen wir. Mat ist in einem der Gästezimmer. Ich weiß nicht, in welchem, aber soviel wenigstens hat mir Sheriam gesagt.«

Als wolle sie einen Schlußstrich unter ihre Worte ziehen, sprang die Tür auf, und eine Aes Sedai trat so selbstverständlich ein, als sei es ihr eigenes Zimmer und die anderen Eindringlinge.

Egwene knickste besonders tief, um ihr erschrockenes Gesicht zu verbergen.


Загрузка...