40 Ein Held in der Nacht

Mat lehnte an der Reling und sah zu, wie die ummauerte Stadt Aringill immer näher kam. Die Ruder trieben die Graue Möwe an die langen Anlegestege aus geteerten Balken heran. Hohe Steinmauern schoben sich davor in den Fluß hinaus, um die Anlegestellen zu schützen, auf denen sich die Menschen drängten. Viele verließen Schiffe aller Größenordnungen, die dort vertäut lagen. Einige der Menschen schoben Karren vor sich her oder zogen Schlitten oder hochrädrige Wagen mit aufgestapelten Möbelstücken und Truhen, die man darauf festgebunden hatte. Die meisten trugen aber nur kleine Bündel auf dem Rücken, wenn überhaupt etwas. Nicht alle von ihnen beeilten sich. Viele Männer und Frauen drängten sich ängstlich und unsicher zusammen, und Kinder klammerten sich an ihre Beine. Soldaten in roten Röcken und glänzenden Brustpanzern versuchten, sie dazu zu bewegen, die Stege zu verlassen und in die Stadt zu gehen, aber die meisten waren wohl zu verängstigt, um sich vom Fleck zu rühren.

Mat drehte sich um und hielt die Hand über seine Augen, damit er im Gegenlicht den Fluß sehen konnte, den sie nun verließen. Es herrschte hier mehr Leben auf dem Fluß als im Süden Tar Valons. Mindestens ein Dutzend Schiffe konnte er allein jetzt erkennen, von einer langen Jacht mit scharfem Bug und zwei dreieckigen Segeln, die flußaufwärts gegen die Strömung gute Fahrt machte, bis zu einem breiten Schiff mit quadratischen Segeln und stumpfem Bug, das schwerfällig von Norden heranschwankte.

Allerdings hatte fast die Hälfte aller Schiffe nichts mit dem Flußhandel zu tun. Zwei Leichter mit leerem Deck schoben sich langsam über den Fluß zu einem kleineren Ort am anderen Ufer, während drei weitere auf Aringill zuhielten, die Decks mit Menschen vollgepackt wie Fässer mit Fisch. Die Flagge, die über dieser anderen Stadt flatterte, lag im Schatten, obwohl die Sonne noch ungefähr um ihren eigenen Durchmesser über dem Horizont hing. Dieses Ufer gehörte zu Cairhien, aber er mußte die Flagge nicht erst sehen, um zu wissen, daß sich darauf der Weiße Löwe von Andor befand. In den wenigen andoranischen Dörfern, bei denen die Graue Möwe vorübergehend angelegt hatte, hatte es deswegen viel Gerede gegeben.

Er schüttelte den Kopf. Politik interessierte ihn nicht. Solange sie mir nicht wieder erzählen wollen, ich sei ein Bürger Andors, bloß weil irgendeine Landkarte darauf besteht. Seng mich, vielleicht wollen sie mich sogar dazu zwingen, in ihrer verfluchten Armee mitzumarschieren und zu kämpfen, falls sich diese Sache in Cairhien ausweitet. Befehlen gehorchen müssen! Licht! Schaudernd wandte er sich wieder Aringill zu. Barfüßige Besatzungsmitglieder der Grauen Möwe hielten schon die Leinen bereit, die sie anderen auf den Stegen zuwerfen würden.

Kapitän Mallia beobachtete ihn vom Steuerruder aus. Der Bursche hatte keineswegs aufgegeben, sie zu umwerben, weil er erfahren wollte, welche wichtige Mission sie zu erfüllen hätten. Mat hatte ihm schließlich den versiegelten Brief gezeigt und ihm gesagt, daß er ihn von der Tochter-Erbin erhalten habe und der Königin überbringen müsse. Eine persönliche Botschaft der Tochter an die Mutter, nicht mehr. Mallia schien aber nur die Worte ›Königin Morgase‹ gehört zu haben.

Mat grinste in sich hinein. In einer Innentasche seines Mantels steckten zwei Geldbeutel, die um einiges fetter waren als zu der Zeit, da sie an Bord gegangen waren, und er hatte noch genug einzelne Münzen in anderen Taschen, um zwei weitere zu füllen. Er hatte nicht ganz soviel Glück gehabt wie in jener ersten, seltsamen Nacht, als die Würfel und alles andere völlig verrückt gespielt hatten, aber immer noch genug. Nach der dritten Nacht hatte Mallia es aufgegeben, sich entgegenkommend zu zeigen, indem er mit ihm spielte, aber da war seine Geldtruhe bereits etwas leichter geworden. Nach Aringill würde sie noch einmal leichter werden. Mallia mußte seinen Lebensmittelvorrat ergänzen, falls er das hier bei diesen Preisen konnte. Mat dachte dabei an die vielen Menschen, die sich am Hafen drängten.

Das Grinsen verging ihm, als er wieder an den Brief dachte. Ein klein wenig Arbeit mit einer heißen Messerklinge, und das Siegel mit der goldenen Lilie war angehoben. Er hatte aber nichts gefunden. Elayne schrieb nur, daß sie fleißig und gern lerne und Fortschritte mache. Sie sei eine folgsame Tochter. Die Amyrlin habe sie für ihr Weglaufen bestraft und ihr gesagt, sie dürfe es nie mehr erwähnen, also müsse ihre Mutter verstehen, warum sie darüber nicht berichten könne. Sie sagte, sie sei zur Aufgenommenen erhoben worden und das sei nach so kurzer Zeit doch wunderbar, und nun vertraue man ihr wichtigere Aufgaben an. Sie würde für kurze Zeit Tar Valon im Auftrag der Amyrlin selbst verlassen müssen. Ihre Mutter solle sich keine Sorgen machen.

Es war ja alles schön und gut, wenn sie Morgase schrieb, sie solle sich keine Sorgen machen. Er war es, der deswegen im Suppenkessel landete. Dieser dumme Brief war bestimmt der Grund gewesen, warum diese Männer hinter ihm her waren, aber selbst Thom hatte nichts daran entdecken können. Er murmelte nur etwas über ›Chiffre‹ und ›Code‹ und das ›Spiel der Häuser‹.

Mat trug den Brief nun sicher ins Futter seines Mantels eingenäht. Das Siegel war wieder an Ort und Stelle, und er hätte wetten können, daß niemand etwas festzustellen vermochte. Wenn jemand unbedingt an den Brief kommen wollte und bereit war, ihn deshalb zu töten, dann sollte er es nur probieren. Ich habe gesagt, daß ich ihn überbringe, Nynaeve, und das werde ich, verdammt noch mal, tun, gleich, wer mich aufzuhalten versucht. Trotzdem würde er beim nächstenmal, wenn er diese drei verflixten Frauen traf, ein ernstes Wörtchen mit ihnen reden. Falls ich sie je wiedersehe. Licht, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Das würden sie wohl überhaupt nicht gern hören, aber es mußte sein.

Als die Besatzungsmitglieder den Hafenarbeitern die Halteleinen zuwarfen, kam Thom an Deck, die Instrumentenbehälter auf dem Rücken und sein Bündel in einer Hand. Obwohl er hinkte, schritt er majestätisch zur Reling und ließ mit Absicht seinen Umhang ein wenig stärker flattern, damit die bunten Flicken besser zu sehen waren.

»Es sieht doch niemand zu, Thom«, sagte Mat. »Ich glaube, sie würden einen Gaukler im Moment nicht einmal bemerken, es sei denn, er hätte etwas zu essen in den Händen.«

Thom starrte das Hafengelände entgeistert an. »Licht! Ich hörte ja, es sei schlimm, aber das habe ich doch nicht erwartet! Arme Narren. Die Hälfte sieht aus, als sei sie am Verhungern. Ein Zimmer für diese Nacht kann uns gut und gern eine deiner Geldbörsen kosten. Und eine Mahlzeit die andere, falls du so weiteressen willst wie bisher. Es hat mich beinahe krank gemacht, dir zusehen zu müssen. Wenn du so ißt und dabei diese Leute dort draußen zusehen läßt, dann schlagen sie dir den Schädel ein.«

Mat lächelte ihn lediglich an.

Während die Graue Möwe an ihrem Anlegeplatz festgezurrt wurde, stapfte Mallia über das Deck auf sie zu. Er zupfte nervös an seinem Spitzbart. Besatzungsmitglieder rannten mit einer Planke herbei, um sie hinüberzulegen, und Sanor stellte sich als Wache daneben. Seine mächtigen Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Falls einige aus der Menge das Schiff betreten wollten, würde er ausreichen, sie abzuschrecken. Niemand wagte es denn auch.

»Also werdet Ihr mich hier verlassen«, sagte Mallia zu Mat. Das Lächeln des Kapitäns war nicht mehr so zuckersüß wie vorher. »Seid Ihr sicher, daß ich Euch nicht mehr weiterhelfen kann? Seng meine Seele, ich habe noch nie ein solches Pack gesehen! Diese Soldaten sollten den Hafen räumen, wenn nötig mit dem Schwert, damit anständige Kaufleute ihrem Geschäft nachgehen können. Vielleicht kann Euch Sanor einen Weg durch diesen Abschaum bahnen, damit Ihr zu Eurer Schenke kommt.«

Damit du weißt, wo wir übernachten? Nicht die Bohne. »Ich hatte daran gedacht, vor dem Landgang noch zu essen und vielleicht ein Würfelspielchen zu wagen, um uns die Zeit zu vertreiben.« Mallia wurde ganz blaß. »Aber ich glaube, ich möchte doch lieber wieder festen Boden unter die Füße bekommen, bevor ich esse. Also werden wir Euch jetzt verlassen, Kapitän. Es ist eine angenehme Reise gewesen.«

Auf dem Gesicht des Kapitäns spiegelten sich sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung. Mat nahm seine Siebensachen vom Boden auf, benützte seinen Bauernspieß als Wanderstock und ging mit Thom zu der Planke hinüber. Mallia folgte ihnen verlegen echtes und erlogenes Bedauern über ihre Abreise murmelnd. Mat war sicher, daß der Mann mehr als ungern die Chance sausen ließ, sich bei seinem Hochlord Samon einzuschmeicheln, indem er ihm Einzelheiten eines Bündnisses zwischen Andor und Tar Valon verriet.

Als sich Mat und der Gaukler durch die Menge drängten, knurrte Thom: »Ich weiß, daß der Mann ein unangenehmer Typ ist, aber warum mußt du ihn immer wieder herausfordern? War es nicht genug, jeden Krümel aufzuessen, von dem er geglaubt hatte, es würde bis nach Tear ausreichen?«

»Ich habe zwei Tage lang fast nichts mehr gegessen!« Der Hunger war eines Morgens einfach weg gewesen — zu seiner großen Erleichterung. Das war so gewesen, als habe Tar Valon auch das letzte bißchen Einfluß auf ihn verloren. »Ich habe das meiste davon über Bord geworfen, und das war schwer, da ja niemand etwas merken durfte.« Wenn er diese ausgemergelten Gesichter anblickte, besonders die der Kinder, kam ihm das gar nicht mehr lustig vor. »Mallia hatte es einfach verdient, auf den Arm genommen zu werden. Wie zum Beispiel gestern dieses Schiffes wegen, das auf einer Schlammbank oder so festsaß. Er hätte beidrehen und helfen können, aber er näherte sich ihnen nicht einmal, so viel sie auch rufen mochten.« Vor ihnen lief eine Frau mit langem dunklen Haar, die wirklich hübsch gewesen wäre, wenn sie nicht so zu Tode erschöpft ausgesehen hätte. Sie blickte jeden Mann an, der an ihr vorbeikam, als suche sie jemanden. Ein Junge, der ihr bis über die Hüfte reichte, und zwei noch kleinere Mädchen klammerten sich an sie und weinten. »Dieses ganze Geschwätz von Flußpiraten und Fallen. Auf mich hat es nicht wie eine Falle gewirkt.«

Thom wich einem Karren mit hohen Rädern aus, auf den man einen Käfig mit zwei quiekenden Schweinen gebunden hatte. Dabei wäre er beinahe über einen Schlitten gestolpert, der von einem Mann und einer Frau über die Pflastersteine geschleift wurde. »Und du tust alles, um anderen Menschen zu helfen, ja? Seltsam, das muß mir doch glatt entgangen sein.«

»Ich helfe jedem, der dafür bezahlen kann«, sagte Mat standhaft. »Nur die Narren in den Geschichten machen etwas umsonst.«

Die beiden Mädchen schluchzten in den Rock ihrer Mutter hinein, während der Junge mit den Tränen kämpfte. Der Blick aus den tiefliegenden Augen der Frau ruhte einen Augenblick lang auf Mat, musterte sein Gesicht, bevor er weiterglitt. Sie sah aus, als hätte auch sie am liebsten geweint. Impulsiv griff er in die Tasche und holte eine Handvoll Münzen heraus, ohne nachzusehen, welche es waren, und drückte sie ihr in die Hand. Sie fuhr überrascht auf und blickte verständnislos auf das Silber und Gold in ihrer Hand. Dann lächelte sie und öffnete den Mund, während Tränen der Dankbarkeit ihre Augen füllten.

»Kauft ihnen etwas zu essen«, sagte er schnell und eilte weg, bevor sie etwas sagen konnte. Er merkte, daß Thom ihn ansah. »Was gaffst du mich an? Münzen kann ich schnell ersetzen, solange ich jemanden zum Spielen finde.« Thom nickte bedächtig, aber Mat war nicht sicher, ob er ihn wirklich verstanden hatte. Das verfluchte Heulen der Kinder ging mir auf die Nerven, das ist alles. Der idiotische Gaukler wird ja wohl jetzt von mir erwarten, daß ich jeder Witwe oder so Geld in die Hand drücke. Narr! Dummerweise war ihm in dem Moment selbst nicht klar, ob er letzteres auf sich selbst oder auf Thom bezogen hatte.

Er riß sich zusammen und vermied es, irgendein Gesicht lange genug anzusehen, um es wirklich wahrzunehmen. Dann fand er jedoch eines, nach dem er Ausschau gehalten hatte, am Fuß eines Landestegs. Der helmlose Soldat in rotem Rock und Brustpanzer, der die Menschen in die Stadt hineinwies, wirkte wie ein erfahrener Feldwebel, der seine Gruppe von zehn oder mehr Soldaten lange Jahre geführt hat. Wenn er in die untergehende Sonne hineinblinzelte, erinnerte er Mat an Uno, obwohl dieser hier noch beide Augen besaß. Er sah schon beinahe genauso müde aus wie die Menschen, die er einwies. »Bewegt Euch!« rief er mit heiserer Stimme. »Ihr könnt, verflucht noch mal, nicht hier stehen bleiben. Rührt Euch! In die Stadt mit Euch!«

Mat stellte sich breitbeinig vor den Soldaten und setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Verzeiht mir, Hauptmann, aber könnt Ihr mir sagen, wo ich eine anständige Schenke finde? Und einen Stall, in dem man ein gutes Pferd kaufen kann? Wir müssen morgen noch einen langen Weg zurücklegen.«

Der Soldat musterte ihn von oben bis unten, betrachtete dann Thom und seinen Gauklerumhang und dann wieder Mat. »Hauptmann? Na ja. Also, junger Mann, Ihr müßtet schon des Dunklen Königs eigenes Glück haben, wenn Ihr auch nur einen Stall findet, um darin selbst zu schlafen. Die meisten in dieser Menge schlafen irgendwo in den Büschen. Und falls Ihr ein Pferd findet, das noch nicht geschlachtet wurde, dann müßt Ihr vermutlich mit dem Besitzer darum kämpfen, damit er es überhaupt verkauft.«

»Pferde essen!« knurrte Thom angewidert. »Ist es wirklich auf dieser Seite des Flusses schon so schlimm? Schickt die Königin keine Lebensmittel?«

»Es ist schlimm, Gaukler.« Der Soldat wirkte, als wolle er ausspucken. »Sie kommen schneller herüber, als die Mühlen Mehl mahlen können oder Wagen Lebensmittel von den Bauernhöfen hierherbringen. Ich denke, es wird nicht mehr lange so gehen. Der Befehl ist bereits eingetroffen. Ab morgen halten wir jeden auf, der noch herüberkommen will, und wenn nötig, schicken wir sie zurück.« Er sah finster auf die Menschen, die sich im Hafen drängten, als sei alles ihre Schuld, und dann wandte sich dieser harte Blick wieder Mat zu. »Ihr nehmt zuviel Platz ein, Reisender. Geht weiter.« Seine Stimme erhob sich wieder zum lauten Ruf, der jedermann in Hörweite galt: »Geht weiter! Ihr könnt, verdammt noch mal, nicht hier stehenbleiben! Geht weiter!«

Mat und Thom schlossen sich dem dünnen Strom von Menschen, Karren und Schlitten an, der auf das Tor in der Stadtmauer zu und dann nach Aringill hineinfloß.

Die Hauptstraße war mit flachen, grauen Steinen gepflastert, aber so viele Menschen drängten sich darin, daß man kaum die Steine unter den eigenen Stiefeln erkennen konnte. Die meisten schienen sich ziellos einherzuschieben, und jene, die aufgegeben hatten, hockten am Straßenrand, die Glücklicheren mit ihren zusammengeschnürten Habseligkeiten vor sich oder in ihre Arme geschlossen. Mat sah drei Männer, die Uhren umklammerten, und ein Dutzend mehr mit silbernen Pokalen oder Tellern. Die Frauen hielten meist Kinder an die Brust gedrückt. Ein Gemurmel erfüllte die Luft — die wortlose Melodie der Not. Er drängte sich mit finsterer Miene durch die Menge und suchte nach dem Schild einer Schenke. Die Gebäude zeigten keinen einheitlichen Stil. Holz-, Klinker- und Natursteinhäuser standen bunt gemischt, genau wie ihre mit Schieferplatten, Ziegeln oder Stroh gedeckten Dächer.

»Das klingt gar nicht nach Morgase«, sagte Thom nach einer Weile und halb zu sich selbst. Seine buschigen Augenbrauen waren so weit zusammengezogen, daß sie wie ein weißer Pfeil auf seine Nase zielten.

»Was klingt nicht nach ihr?« fragte Mat abwesend.

»Den Flüchtlingsstrom aufzuhalten. Menschen zurückzuweisen. Sie hatte immer schon Wutanfälle, aber andererseits auch ein weiches Herz für die Armen und Hungrigen.« Er schüttelte den Kopf.

Dann sah Mat ein Schild — ›Zum Flußmatrosen‹ stand darauf, und es zeigte einen barfüßigen Burschen ohne Hemd beim Tanzen — und dorthin wandte er sich. Mit Hilfe seines Bauernspießes bahnte er sich den Weg durch die Menge. »Tja, es muß ja wohl sie gewesen sein. Wer auch sonst? Vergiß Morgase, Thom. Bis Caemlyn ist es noch weit. Zuerst sehen wir mal, wieviel Gold es uns kostet, ein Bett für die Nacht zu bekommen.«

Der Schankraum im ›Flußmatrosen‹ war genauso überfüllt wie die Straße draußen. Als der Wirt hörte, was Mat wollte, lachte er, daß sein Mehrfachkinn wackelte. »Wir schlafen hier schon schichtweise — vier teilen sich ein Bett. Wenn meine eigene Mutter zu mir käme, könnte ich ihr noch nicht einmal eine Decke und einen Platz am Herd bieten.«

»Wie Ihr bemerkt haben solltet«, sagte Thom, und seine Stimme hatte wieder diesen gewissen Hall an sich, »bin ich ein Gaukler. Ihr könnt doch sicher Strohsäcke und einen Platz in einer Ecke dafür auftreiben, daß ich Eure Gäste mit Geschichten und Jonglierkünsten, Feuerschlucken und Zauberkunststücken unterhalte.« Der Wirt lachte ihm ins Gesicht.

Als Mat ihn wieder zur Straße hinausschleppte, grollte Thom mit wieder normal klingender Stimme: »Du hast mir nicht einmal die Chance gegeben, ihn nach seinem Stall zu fragen. Bestimmt hätte ich uns wenigstens einen Platz auf seinem Heuboden ergattern können.«

»Ich habe schon genug in Ställen oder Scheunen geschlafen, seit ich aus Emondsfeld wegging«, sagte Mat, »und auch unter vielen Büschen. Ich brauche ein Bett.«

Doch in den nächsten vier Schenken, die er fand, gaben ihm die Wirte das gleiche zur Antwort wie der erste. Die letzten beiden warfen sie beinahe mit Gewalt hinaus, als er ihnen anbot, mit ihnen um ein Bett zu würfeln. Und als der Eigentümer der fünften Schenke ihm sagte, er könne nicht einmal der Königin einen Strohsack geben — und das in einer Schenke, die sich ›Zur Guten Königin‹ nannte — seufzte er und fragte: »Wie steht es dann mit Eurem Stall? Sicher können wir doch gegen Bezahlung ein Plätzchen auf Eurem Heuboden bekommen?«

»Mein Stall ist für Pferde bestimmt«, sagte der Mann mit dem runden Gesicht, »und es gibt nicht mehr viele davon in der Stadt.« Er hatte einen silbernen Becher poliert, und nun öffnete er einen Türflügel eines schmalen Schränkchens, das auf einer großen, geschnitzten Kommode stand, und stellte ihn zu anderen Bechern und Pokalen hinein. Keiner davon paßte zum anderen. Auf der Kommode stand ein Würfelbecher aus gehämmertem Leder gerade so, daß ihn die Türflügel des Schränkchens nicht mehr umwerfen konnten. »Ich lasse da keine Leute hinein, die vielleicht die Pferde erschrecken oder gar welche stehlen. Diejenigen, die mich dafür bezahlen, ihre Tiere in meinem Stall unterzustellen und zu versorgen, verlangen all meine Sorgfalt, und außerdem habe ich auch noch zwei eigene drinnen stehen. In meinem Stall gibt es keine Betten für Euch.«

Mat betrachtete den Würfelbecher nachdenklich. Er zog eine andoranische Goldkrone aus seiner Tasche und legte sie auf die Kommode. Die nächste Münze war eine Silbermark aus Tar Valon, dann folgten eine Goldmark und eine Goldkrone aus Tear. Der Wirt sah die Münzen an und leckte sich die dicken Lippen. Mat legte noch zwei Silbermark aus Illian dazu und eine weitere andoranische Goldkrone. Dann sah er den Mann mit dem runden Gesicht an. Der Wirt zögerte. Mat faßte nach den Münzen. Die Hand des Wirts erreichte sie jedoch zuerst.

»Vielleicht würdet Ihr zwei die Pferde doch nicht allzusehr stören.«

Mat lächelte ihn an. »Was Pferde betrifft: Was würden denn Eure beiden kosten? Mit Sätteln und Zaumzeug natürlich.«

»Ich verkaufe meine Pferde nicht«, sagte der Mann und drückte die Münzen an seine Brust. Mat nahm den Würfelbecher und schüttelte ihn. »Noch einmal doppelt soviel für die Pferde, Sättel und Zaumzeug.« Er schüttelte seine Manteltasche, daß die Münzen darin klimperten, um zu beweisen, daß er noch einen höheren Einsatz wagen könne. »Ein Wurf für mich gegen den besten von zwei Würfen für Euch.« Er hätte beinahe laut gelacht, als er die Gier im Gesicht des Wirtes aufflammen sah.

Als Mat in den Stall ging, suchte er als erstes das halbe Dutzend Boxen nach einem Paar brauner Hengste ab. Es waren unauffällige Tiere, aber sie gehörten ihm. Sie mußten unbedingt gestriegelt werden, aber ansonsten schienen sie in Ordnung zu sein, besonders wenn man bedachte, daß alle Stallburschen bis auf einen auf und davon waren. Der Wirt hatte auf ihre Klagen, sie könnten von dem, was er ihnen zahlte, nicht mehr leben, nicht die geringste Rücksicht genommen, und er schien es beinahe für ein Verbrechen zu halten, daß der eine übriggebliebene Mann die Frechheit besessen hatte, nach Hause ins Bett zu gehen, nachdem er die Arbeit von drei Männern getan hatte.

»Fünf Sechser«, murmelte Thom hinter ihm. Die Blicke, mit denen er sich im Stall umsah, waren keineswegs so begeistert wie anzunehmen war, da doch er selbst diesen Schlafplatz vorgeschlagen hatte. Staubteilchen wirbelten in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die durch das große Stalltor fielen. Die Seile, mit denen die Heuballen hochgezogen wurden, hingen wie Ranken von den an den Dachbalken angebrachten Rollen. Der Heuboden über ihnen wirkte düster in dieser Beleuchtung. »Als er beim zweiten Wurf vier Sechser und einen Fünfer schaffte, glaubte er, du hättest bereits verloren. Ich übrigens auch. In letzter Zeit hast du nicht jedesmal gewonnen.«

»Ich gewinne oft genug.« Mat war erleichtert darüber, nicht mehr mit jedem Wurf zu gewinnen. Glück war ja etwas Schönes, aber wenn er sich an jene Nacht erinnerte, lief ihm immer noch ein Schauer über den Rücken. Trotzdem — einen Augenblick lang hatte er beim Schütteln des Bechers bereits gewußt, welches Ergebnis herauskommen würde. Als er den Bauernspieß hoch auf den Heuboden warf, grollte der Donner vom Himmel. Er kletterte die Leiter hinauf und rief zu Thom hinunter: »Das war eine gute Idee. Ich denke doch, du solltest dich glücklich schätzen, an einem solchen stürmischen Abend nicht draußen im Regen zu stehen.«

Das meiste Heu war in Ballen an den Außenwänden aufgestapelt, aber es lag auch noch mehr als genug loses Heu herum, um es mit einem ausgebreiteten Umhang darüber zu einem bequemen Bett zu machen. Thom erschien am oberen Ende der Leiter, als er gerade zwei Kanten Brot und einen Brocken grüngeäderten Quark aus seiner Ledertasche zog. Der Wirt — er hieß Jeral Florry — hatte ihnen einige Lebensmitte zu einem Preis verkauft, für den man in friedlicheren Tagen die beiden Pferde hätte erstehen können. Sie aßen, während der Regen auf das Dach zu trommeln begann. Wasser aus ihren Feldflaschen ersetzte ihnen Wein, denn den konnte Florry ihnen um keinen Preis der Welt verkaufen, und als sie fertig waren, holte Thom seine Zunderschachtel heraus, stopfte die Pfeife mit dem langen Stiel und lehnte sich gemütlich zum Rauchen zurück.

Mat lag auf dem Rücken, starrte zu dem im Dunkeln liegenden Dach empor und fragte sich, ob es bis zum Morgen mit Regnen aufhören werde. Er wollte diesen Brief so schnell wie möglich loswerden. Da hörte er das Quietschen einer Achse von der Stalltür her. Er rollte sich zur Kante des Heubodens und spähte hinunter. Das Dämmerlicht reichte gerade noch, um sehen zu können.

Eine schlanke Frau richtete sich von den Deichseln des hochrädrigen Karrens auf, den sie gerade aus dem Regen hineingezogen hatte, zog sich den Umhang von den Schultern und murrte in sich hinein, während sie die Nässe herausschüttelte. Ihr Haar war zu unzähligen kleinen Zöpfen geflochten, und ihr Seidenkleid — er glaubte, es müsse wohl blaßgrün sein — war auf der Brust mit vielen Stickereien verziert. Das Kleid war einst kostbar gewesen, doch nun war es zerlumpt und hatte Flecken. Sie rieb sich den Rücken, wobei sie immer noch leise Selbstgespräche führte, und eilte dann zur Stalltür, um in den Regen hinauszublicken. Genauso hastig zog sie dann das große Tor von innen zu. Der Stall lag nun vollständig im Dunkeln. Drunten raschelte es, klickte und ratschte, und plötzlich flammte ein kleines Licht auf und entzündete eine Laterne, die sie in Händen hielt. Sie sah sich um, entdeckte einen Haken an einem Balken, hängte die Laterne auf und ging zu ihrem Karren. Dort kramte sie unter der mit Leinen festgezurrten Plane herum.

»Die war aber schnell«, sagte Thom leise, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Sie hätte den ganzen Stall in Brand stecken können — so im Dunklen mit Feuerstein und Stahl herumzufuchteln.«

Die Frau zog schließlich ein Ende eines Brotlaibs heraus, an dem sie dann herumkaute, als sei es ziemlich hart und sie ziemlich hungrig.

»Ist noch etwas von dem Käse übrig?« flüsterte Mat. Thom schüttelte den Kopf. Die Frau hob die Nase und schnupperte. Mat wurde klar, daß sie möglicherweise den Tabaksrauch aus Thoms Pfeife roch. Er wollte schon aufstehen und ihre Gegenwart preisgeben, als sich ein Torflügel des Stalls erneut öffnete.

Die Frau duckte sich, bereit wegzulaufen, als vier Männer aus dem Regen hereinkamen. Sie legten ihre nassen Umhänge beiseite. Drunter trugen sie helle Jacken mit weiten Ärmeln und Stickereien auf der Brust; dazu Pumphosen, die ebenfalls bis zum Knie herab bestickt waren. Ihre Kleidung war vielleicht vornehm, aber es waren alles große Männer mit grimmigen Gesichtern.

»Tja, Aludra«, sagte ein Mann in gelbem Mantel, »du bist nicht so schnell vorwärtsgekommen, wie du glaubtest, eh?« Er hatte einen Akzent, der Mats Ohren unbekannt war.

»Tammuz«, sagte die Frau in einem Tonfall, als fluche sie. »Reicht es noch nicht, daß du mich durch deine Fehler aus der Gilde ausschließen läßt, du großes Ochsenhirn? Nein, jetzt mußt du mich auch noch verfolgen!« Sie sprach mit dem gleichen Akzent wie der Mann. »Glaubst du, ich sei nun glücklich, dich zu sehen?«

Der, den sie Tammuz genannt hatte, lachte. »Du bist schon eine große Närrin, Aludra, aber das wußte ich ja schon immer. Wärst du einfach nur abgehauen, dann könntest du noch lange an irgendeinem beliebigen, ruhigen Ort leben. Aber die Geheimnisse in deinem Kopf konntest du nicht vergessen, oder? Hast du geglaubt, wir würden nicht davon hören, wenn du deinen Lebensunterhalt damit verdienst, was nur der Gilde rechtmäßig zusteht?« Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand. »Es wird mir ein Vergnügen sein, dir die Kehle durchzuschneiden, Aludra.«

Mat wurde nicht einmal bewußt, daß er aufgestanden war, bis er eines der von der Decke herunterbaumelnden Seile in Händen hielt und daran vom Heuboden herunterglitt. Seng mich, ich bin doch ein verdammter Narr!

Es blieb ihm nur Zeit für diesen einen verzweifelten Gedanken, und dann schwang er sich mitten zwischen den Männern hindurch. Sie fielen zur Seite wie die Kegel auf der Kegelbahn. Das Seil rutschte ihm durch die Hände, und er stürzte, taumelte über den strohbedeckten Boden, wobei ihm Münzen aus den Taschen fielen, und konnte sich gerade noch an der Wand abstützen. Als er wieder auf den Beinen war, erhoben sich auch die vier Männer schon wieder. Und jetzt hatten alle Messer in den Händen. Lichtblinder Narr! Seng mich! Seng mich!

»Mat!«

Er blickte hoch, und Thom warf ihm seinen Bauernspieß herunter. Er schnappte ihn sich aus der Luft — gerade rechtzeitig, um Tammuz das Messer aus der Hand zu schlagen und ihm einen harten Schlag gegen die Schläfe zu versetzen. Der Mann sackte zusammen, aber die anderen drei kamen gleich hinterher. Ein paar hektische Augenblicke über konnte Mat nur noch mit wirbelndem Stock die Messer davon abhalten, sich in ihn zu bohren. Er hieb ihnen auf Knie und Knöchel und in die Rippen, bis er einem dann einen gezielten Schlag auf den Kopf versetzen konnte. Als so schließlich der letzte Mann fiel, blickte er sie einen Moment lang an und sah dann böse der Frau in die Augen. »Mußtet Ihr euch ausgerechnet diesen Stall aussuchen, um Euch umbringen zu lassen?«

Sie steckte einen Dolch mit schmaler Klinge zurück in eine Scheide an ihrem Gürtel. »Ich hätte Euch ja geholfen, aber ich fürchtete, Ihr würdet mich mit einem dieser großen Hohlköpfe verwechseln, falls ich mich Euch mit einer Klinge in der Hand näherte. Und ich wählte diesen Stall, weil der Regen naß ist und ich auch und niemand diesen Ort bewachte.«

Sie war älter, als er geglaubt hatte, mindestens zehn oder fünfzehn Jahre älter als er, aber immer noch hübsch, mit großen, dunklen Augen und einem kleinen Schmollmund mit vollen Lippen. Gerade richtig zum Küssen. Er lachte ein wenig und stützte sich auf seinen Stock. »Na ja, was vorbei ist, ist vorbei. Ich denke, Ihr wolltet uns ja nicht gerade in Schwierigkeiten bringen.«

Thom kletterte vom Heuboden herab, ein wenig ungeschickt seines Beines wegen, und Aludra musterte beide. Der Gaukler hatte seinen Umhang wieder angelegt. Er ließ sich ohnehin nur selten ohne ihn sehen, besonders beim ersten Kennenlernen. »Das ist ja eine schöne Geschichte«, stellte sie fest. »Ich werde von einem Gaukler und einem jungen Helden vor diesen« — sie deutete mit dem Kopf in Richtung der am Boden liegenden Männer — »Hundesöhnen gerettet!«

»Warum wollten sie Euch töten?« fragte Mat. »Er sagte etwas von Geheimnissen.«

»Die Geheimnisse«, sagte Thom beinahe mit seiner Bühnenstimme, »wie man Feuerwerk macht, wenn ich mich nicht irre. Ihr seid eine der Feuerwerker, nicht wahr?« Er verbeugte sich höflich mit wehendem Umhang. »Ich heiße Thom Merrilin und bin Gaukler, wie Ihr festgestellt habt.« Im nachhinein fügte er noch hinzu: »Und das ist Mat, ein junger Mann mit einem Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen.«

»Ich gehörte zu den Feuerwerkern«, sagte Aludra steif, »aber dieses große Schwein von Tammuz hier ruinierte eine Vorführung für den König von Cairhien und zerstörte dabei beinahe noch das Gildehaus! Aber ich war die Herrin des Gildehauses, und so machte mich die Gilde dafür verantwortlich.« Ihre Stimme klang verteidigend. »Ich gebe die Geheimnisse der Gilde nicht weiter, gleich, was Tammuz behaupten mag, aber ich will auch nicht gerade verhungern, wenn ich statt dessen Feuerwerkskörper anfertigen kann. Ich bin kein Mitglied der Gilde mehr, also gelten die Regeln der Gilde auch nicht mehr für mich.«

»Galldrian«, sagte Thom mit fast ebenso hölzernem Tonfall wie sie zuvor. »Na ja, er ist jetzt ein toter König und wird kein Feuerwerk mehr sehen.«

»Die Gilde«, sagte sie müde, »macht mich auch fast noch verantwortlich für den Bürgerkrieg in Cairhien, als sei diese eine Katastrophennacht an Galldrians Tod schuld.« Thom verzog das Gesicht. »Es scheint, daß ich nicht mehr hierbleiben kann«, fuhr sie fort. »Tammuz und diese anderen Ochsen werden bald aufwachen. Vielleicht erzählen sie diesmal den Soldaten, ich hätte gestohlen, was ich selbst anfertigte.« Sie beäugte erst Thom und dann Mat, runzelte nachdenklich die Stirn und schien schließlich einen Entschluß gefaßt zu haben. »Ich muß Euch belohnen, aber ich habe kein Geld. Ich besitze jedoch etwas, das genauso wertvoll wie Gold sein mag. Vielleicht wertvoller. Wir werden ja sehen, was Ihr davon haltet.«

Mat tauschte einen Blick mit Thom, während sie erneut unter der Plane ihres Wagens kramte. Ich helfe jedem, der dafür zahlen kann. Er glaubte, auch bei Thom eine gewisse Berechnung im Blick aus seinen blauen Augen erkannt zu haben.

Aludra nahm ein Bündel von mehreren gleichartigen weg — eine kurze Rolle schweren Ölzeugs, die sie kaum mit ihren beiden Armen umfassen konnte. Sie legte sie auf das Stroh, band die Schnüre auf und rollte den Stoff auf dem Boden aus. Vier Reihen von Taschen zogen sich auf der Innenseite entlang. Die Taschen wurden von einer Seite zur anderen hin immer größer. In jeder steckte ein mit Wachs überzogener Papierzylinder, der jeweils am Ende ein wenig überstand. Darin steckte bei jedem ein Stück dunkler Schnur.

»Feuerwerkskörper«, sagte Thom. »Ich wußte es doch. Aludra, das dürft Ihr nicht machen. Ihr könnt das verkaufen und von dem Erlös zehn Tage oder länger in einer guten Schenke wohnen und jeden Tag gut essen. Jedenfalls überall, nur nicht hier in Aringill.«

Sie kniete neben der langen Bahn aus Ölzeug und schniefte. »Seid ruhig, Alter.« Es klang bei ihr nicht unfreundlich. »Ihr erlaubt mir nicht, meine Dankbarkeit zu zeigen? Glaubt Ihr, ich würde Euch das hier geben, wenn ich sonst nichts mehr zu verkaufen hätte? Seht genau her.«

Mat hockte sich fasziniert neben sie. Er hatte erst zweimal in seinem Leben Feuerwerkskörper gesehen. Händler hatten sie nach Emondsfeld gebracht, und das hatte den Gemeinderat einiges gekostet. Als er zehn war, hatte er versucht, einen aufzuschneiden, um zu sehen, was drinnen war, und damit hatte er beinahe einen Aufruhr verursacht. Bran al'Vere, der Bürgermeister, hatte ihm eine Ohrfeige verpaßt, und Doral Barran, die damalige Seherin, hatte ihm die Kehrseite mit der Rute versohlt. Sein Vater hatte ihn dann zu Hause auch noch einmal kräftig verhauen. Die Leute im Dorf hatten einen Monat lang nicht mehr mit ihm gesprochen, außer Rand und Perrin, und die hatten ihm meist auch nur gesagt, was für ein Idiot er sei. Er streckte die Hand nach einem der Zylinder aus. Aludra schlug ihm die Hand aber schnell weg.

»Paßt gefälligst zuerst auf! Die kleinsten hier werden lediglich laut knallen, sonst nichts.« Sie waren nur so groß wie ihr kleiner Finger. »Die nächsten knallen und leuchten dabei hell. Die nächsten knallen, leuchten und sprühen Funken. Die letzten« — sie waren dicker als Mats Daumen — »ergeben die gleichen Effekte, aber die Funken sind vielfarbig. Beinahe wie eine Nachtblüte, aber nicht oben am Himmel.«

Nachtblüte? dachte Mat.

»Bei denen müßt Ihr besonders vorsichtig sein. Wie Ihr seht, ist die Zündschnur sehr lang.« Sie bemerkte seinen verständnislosen Blick und winkte ihm mit einer dieser langen, dunklen Schnüre zu. »Das hier ist eine Zündschnur.«

»Dort muß man es anzünden«, murmelte er. »Das weiß ich.« Thom gab einen Laut von sich und strich sich über die Schnurrbartenden, als wolle er ein Lächeln verbergen.

Aludra knurrte. »Wo man es anzündet. Ja. Bleibt keinem davon zu nahe, aber bei diesen großen hier rennt Ihr weg, sobald Ihr die Zündschnur angebrannt habt. Versteht Ihr?« Sie rollte die lange Stoffbahn energisch wieder zusammen. »Ihr könnt sie verkaufen oder auch benützen. Denkt daran, Ihr dürft sie nie in die Nähe des Feuers legen. Dann kann es passieren, daß alle explodieren. So viele auf einmal, und möglicherweise würde ein ganzes Haus zerstört.« Sie zögerte, bevor sie die Schnüre wieder zuband, und fügte dann hinzu: »Und da ist noch etwas, wovon Ihr vielleicht schon gehört habt. Schneidet keinen davon auf, wie es ein paar Idioten schon gemacht haben, um zu sehen, was sich drinnen befindet. Manchmal explodiert der Inhalt, ohne daß eine Flamme notwendig ist, wenn Luft darankommt. Ihr könnt Eure Finger oder gar eine ganze Hand dabei verlieren.«

»Das wußte ich schon«, sagte Mat trocken.

Sie runzelte die Stirn und sah ihn an, als halte sie es für möglich, daß er es trotzdem tun werde, und dann schob sie das zusammengerollte Bündel zu ihm hin. »Hier. Ich muß jetzt weg, bevor diese Ziegenabkömmlinge erwachen.« Sie blickte zu der immer noch geöffneten Tür herüber, sah, wie der Regen in der Nacht herniederprasselte und seufzte. »Vielleicht finde ich woanders einen trockenen Fleck. Ich glaube, morgen fahre ich weiter nach Lugard. Diese Schweine werden erwarten, daß ich nach Caemlyn gehe, klar?«

Nach Lugard war es noch weiter als nach Caemlyn, und Mat mußte plötzlich an den harten Kanten Brot denken. Und sie sagte, sie habe kein Geld. Die Feuerwerkskörper würden ihr nichts einbringen, bis sie jemanden fand, der sie sich leisten konnte. Sie hatte sich noch nicht einmal nach dem Gold und Silber umgeschaut, das beim Sturz aus seinen Taschen gefallen war. Es glitzerte und funkelte im Laternenschein zwischen den Strohhalmen. Ach, Licht, ich kann sie nicht hungern lassen, denke ich. Er las auf, was er leicht erreichen konnte.

»Äh... Aludra? Ich habe genug, wie Ihr sehen könnt. Ich dachte, vielleicht... « Er hielt ihr die Münzen hin. »Ich kann immer mehr dazugewinnen.«

Sie hielt inne, den Umhang über eine Schulter geschwungen, und dann lächelte sie Thom an, während sie ihn vollends überwarf. »Er ist noch jung, wie?«

»Er ist jung«, stimmte Thom zu. »Und nicht halb so schlecht, wie er selbst von sich denkt. Manchmal jedenfalls.«

Mat funkelte beide an und senkte die Hand mit den Münzen.

Aludra hob die Deichseln ihres Karrens an, drehte das Gefährt herum und zog es in Richtung Tor. Sie trat Tammuz schnell im Vorbeigehen in die Rippen. Er stöhnte verwirrt auf.

»Ich hätte gern etwas gewußt, Aludra«, sagte Thom. »Wie habt Ihr die Laterne so schnell im Dunklen zum Brennen gebracht?«

Sie blieb vor der Tür stehen und lächelte ihn über die Schulter an. »Ihr möchtet wohl, daß ich Euch alle meine Geheimnisse enthülle? Ich bin dankbar, aber doch nicht verliebt genug. Dieses Geheimnis kennt noch nicht einmal die Gilde. Es ist meine eigene Entdeckung. Ich sage Euch nur soviel: Wenn ich erst weiß, wie es richtig funktioniert und immer dann, wenn ich es will, werde ich mit Hölzern ein Vermögen verdienen.« Sie drückte mit all ihrem Gewicht gegen die Deichseln und zog den Karren in den Regen hinaus. Die Nacht verschluckte sie.

»Hölzer?« fragte Mat. Er fragte sich, ob sie ganz klar im Kopf sei.

Tammuz stöhnte wieder.

»Am besten machen wir das gleiche wie sie, Junge«, sagte Thom. »Sonst haben wir die Wahl, ob wir vier Kehlen durchschneiden wollen oder die nächsten paar Tage damit verbringen werden, der königlichen Garde zu erklären, was geschehen ist. Die hier sehen aus, als ob sie die aus Rachsucht auf uns hetzen würden. Und Gründe für Rachsucht haben sie wohl in genügendem Maße, denke ich.« Einer von Tammuz' Begleitern zuckte, als käme er langsam zur Besinnung, und murmelte etwas Unverständliches.

Als sie schließlich alles zusammengerafft und die Pferde gesattelt hatten, stützte sich Tammuz mit herunterhängendem Kopf auf Hände und Knie, und auch die anderen rührten sich stöhnend.

Mat schwang sich in den Sattel und blickte in den Regen hinaus, der noch stärker herniederprasselte als zuvor. »Ein verfluchter Held«, sagte er. »Thom, falls ich jemals wieder so aussehe, als wolle ich den Helden spielen, gib mir bitte einen Tritt.«

»Und was hättest du dann anders gemacht?«

Mat blickte ihn finster an, zog seine Kapuze über den Kopf und breitete seinen Umhang über die dicke Ölzeugrolle, die er hinter dem Sattel festgebunden hatte. Selbst bei Ölzeug würde ein wenig mehr Schutz vor dem Regen bestimmt nicht schaden. »Gib mir einfach nur einen Tritt!« Er hieb seinem Pferd die Fersen in die Rippen und galoppierte in die Regennacht hinaus.


Загрузка...