19 Erwachen

Mat öffnete langsam die Augen und blickte zu der weißgetünchten Decke hoch. Er fragte sich, wo er sei und wie er hierher gekommen war. Die Stuckdecke wies einen Rand aus fein gearbeiteten, vergoldeten Blättern auf, und die Matratze unter ihm fühlte sich an, als sei sie gut mit Federn ausgestopft. Also bei irgendwelchen reichen Leuten vermutlich. Aber in seinem Kopf fehlte alles Wissen über das Wo und Wie und über eine Menge mehr.

Er hatte geträumt, und in seinem Kopf herrschte noch ein Durcheinander von Träumen und Erinnerungen. Er konnte eins noch nicht vom anderen unterscheiden. Eine wilde Flucht und Kämpfe, seltsame Leute von jenseits des Ozeans, Kurze Wege und Portalsteine und Bruchstücke anderer Leben, Sachen wie aus den Erzählungen eines Gauklers: das alles mußten Träume gewesen sein. Zumindest war er dieser Überzeugung. Aber Loial war kein Traum, und er war ein Ogier. Fragmente von Unterhaltungen spukten in seinen Gedanken herum — mit seinem Vater, mit Freunden, mit Moiraine und einer wunderschönen Frau, mit dem Kapitän eines Schiffes und mit einem gut angezogenen Mann, der mit ihm sprach wie ein Vater und ihm weise Ratschläge erteilte. Das war möglicherweise alles die Wahrheit. Doch alles war eben nur bruchstückhaft und durcheinander. Auf seinem Verstand treibende Eisschollen.

»Muaddrin tia dar allende caba'drin rhadiem«, murmelte er. Die Worte waren für ihn unverständlich, und doch klang etwas Bekanntes darin an.

Die engen Reihen der Lanzenträger erstreckten sich eine Meile und weiter nach beiden Seiten unter ihm. Aus ihnen erhoben sich die Wimpel und Flaggen der Städte und der kleineren Adelsfamilien. Zu seiner Linken diente ihm der Fluß als Absicherung seiner Flanke, und zur Rechten des Heeres befanden sich Sumpflöcher und Moore. Vom Hügel aus beobachtete er, wie sich seine Lanzenträger gegen die Mengen von Trollocs zur Wehr setzten, die immer wieder versuchten, durchzubrechen. Es waren bestimmt zehnmal soviel wie Menschen. Lanzen durchbohrten schwarze Trolloc-Panzer, während deren Dornenäxte große Lücken in die Reihen der Menschen hieben. Die Luft war von Schreien erfüllt. Über allem brannte eine heiße Sonne aus einem wolkenlosen Himmel, und Hitzeflimmern erhob sich über dem Schlachtfeld. Immer noch regnete es vom Feind her Pfeile, die sowohl Menschen wie auch Trollocs töteten. Er hatte seine Bogenschützen zurückgerufen, aber den Schattenlords war alles gleich, wenn sie nur seine Kampflinie durchbrechen konnten. Auf dem Kamm hinter ihm wartete die Herzgarde auf seine Befehle. Ihre Pferde tänzelten nervös. Die Panzerschuppen auf Menschen und Pferden glänzten wie Silber im Sonnenschein. Weder Menschen noch Tiere würden die Hitze noch viel länger ertragen können.

Sie mußten die Schlacht gewinnen oder sterben. Er war als Spieler bekannt, und nun war es Zeit, die Würfel rollen zu lassen. Mit einer Stimme, die den Tumult unten noch übertönte, gab er den Befehl, während er sich in den Sattel schwang: »Fußsoldaten Gassen bilden, damit die Kavallerie an die Front kann!« Sein Bannerträger ritt gleich neben ihm. Das Banner des Roten Adlers flatterte über seinem Kopf und gleichzeitig wurde sein Befehl nach allen Seiten hin von einem zum anderen weitergegeben.

Unten kamen die Lanzenträger mit einem Mal in Bewegung, traten diszipliniert zur Seite, zogen ihre Formationen enger zusammen und machten Gassen frei. Gassen, in die sofort die Trollocs strömten. Mit tierischem Geschrei ergossen sie sich wie eine schwarze Todesflut hinein.

Er zog sein Schwert und erhob es. »Die Herzgarde vorrücken!« Er grob seine Fersen in die Flanken des Pferdes und galoppierte den Hang hinunter. Hinter ihm donnerten die Hufe ihr Angriffslied. »Vorwärts!« Er war der erste, der auf Trollocs traf. Sein Schwert blitzte auf und fuhr hernieder, immer wieder. Sein Bannerträger blieb gleich hinter ihm. »Zur Ehre des Roten Adlers!« Die Herzgarde stürzte sich in die Lücken zwischen den Lanzenträgern, zerschmetterte die Trolloc-Flut und trieb sie zurück. »Der Rote Adler!« Halbmenschliche Mäuler knurrten ihn an, gekrümmte Schwerter suchten ihn, aber er hieb sich immer tiefer in ihre Reihen hinein. Gewinnen oder sterben. »Manetheren!«

Mats Hand zitterte, als er sich an die Stirn faßte. »Los Valdar Cuebiyari«, murmelte er. Er war sich beinahe sicher, daß er wußte, was die Worte bedeuteten — ›Herzgarde vorrücken‹, oder vielleicht ›Die Herzgarde wird jetzt vorrücken‹ —, aber das konnte doch wohl nicht sein. Moiraine hatte ihn ein paar Worte der Alten Sprache gelehrt, und mehr kannte er nicht. Der Rest war für ihn nur unverständliches Geschwätz.

»Verrückt«, sagte er mit rauher Stimme. »Es ist vielleicht noch nicht einmal in der Alten Sprache. Nur Geschwätz. Diese Aes Sedai spinnt. Es war nur ein Traum.«

Aes Sedai. Moiraine. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß sein Handgelenk viel zu dünn war und seine Hand knochig. Er blickte sie an. Er war krank gewesen. Es hatte etwas mit einem Dolch zu tun gehabt. Einem Dolch mit einem Rubin im Griff und mit einer schon lange toten und für immer verfluchten Stadt namens Shadar Logoth. Das war alles verschwommen und fern und ergab eigentlich keinen Sinn, doch er wußte, daß es kein Traum war. Egwene und Nynaeve hatten ihn nach Tar Valon gebracht, damit er dort geheilt wurde. Soviel wußte er noch.

Er versuchte, sich aufzusetzen, aber er war so schwach wie ein neugeborenes Lamm und fiel wieder in das Kissen zurück. Doch mit viel Mühe gelang es ihm dann, sich hochzurappeln und die Wolldecke beiseite zu schieben. Seine Kleider waren weg. Vielleicht steckten sie in dem rankenbeschnitzten Kleiderschrank an der Wand. Im Augenblick waren ihm Kleider gleichgültig. Er mühte sich auf die Beine, torkelte über den blumigen Teppich und hielt sich an der hohen Lehne eines Stuhls fest. Dann torkelte er weiter vom Stuhl zum Tisch, der an den Beinen und Ecken vergoldete Runen aufwies.

Das Zimmer war hell erleuchtet. Hinter den jeweils vier Bienenwachskerzen auf jedem Leuchter hing ein kleiner Spiegel, der den Kerzenschein reflektierte und vervielfachte. Aus einem großen Spiegel über dem glänzenden Waschtischchen blickte ihn sein hageres, hohlwangiges Spiegelbild an. Die Wangen waren eingefallen und die Augen tief eingesunken, das Haar mit Schweiß verklebt. Er stand krumm wie ein alter Mann da und wankte wie Gras im Wind. So zwang er sich, gerade dazustehen, aber viel besser war das auch nicht.

Auf dem Tisch vor seinen Händen stand ein großes, mit einem Tuch bedecktes Tablett, von dem es nach Essen roch. Er zog das Tuch beiseite. Zum Vorschein kamen zwei große Silberkrüge und Schüsseln und Platten aus dünnem, grünen Porzellan. Er hatte gehört, daß die Meerleute solches Porzellan in Silber aufwogen. Er hatte Tee erwartet und Zwieback — Dinge eben, die man einem Invaliden vorsetzte. Statt dessen lagen auf der einen Platte hoch aufgeschichtete Rindfleischscheiben mit braunem Senf und Rettichstücken. Dazu gab es Bratkartoffeln, Bohnen mit Zwiebeln, Grünkohl und Buttererbsen, Gurken und eine Ecke Käse. Dicke, knusprige Brotscheiben lagen daneben und ein Schüsselchen mit Butter. Ein Krug war mit Milch gefüllt, und außen rannen noch Tropfen von Kondenswasser herunter, während sich in dem anderen etwas befand, das nach Glühwein roch. Es war genug da für mindestens vier Männer. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte vernehmlich.

Zuerst finde ich heraus, wo ich bin. Doch er nahm sich schnell eine Scheibe Rindfleisch, rollte sie zusammen, stippte sie in den Senf, und dann erst stieß er sich vom Tisch ab und torkelte in Richtung der drei hohen, engen Fenster.

Hölzerne Fensterläden, in einem hübschen, durchbrochenen Spitzenmuster ausgeschnitzt, verdeckten die Sicht, aber durch die Öffnungen konnte er sehen, daß es draußen Nacht war. Lichter aus anderen Fenstern waren wie Lichtpunkte in der Dunkelheit zu sehen. Einen Augenblick lang ließ er sich entmutigt gegen das weiße, steinerne Fensterbrett sacken, doch dann begann er, nachzudenken.

Wenn du richtig darüber nachdenkst, kannst du auch noch das Schlimmste zu deinem Vorteil hindrehen, hatte sein Vater immer gesagt, und Abell Cauthon war der beste Pferdehändler der Zwei Flüsse. Wenn es schien, daß ihn jemand übers Ohr gehauen hatte, stellte sich später doch immer heraus, daß am Ende er der Gewinner war. Nicht, daß Abell Cauthon jemals etwas Unehrliches tat. Doch selbst die Leute aus Taren Fähre konnten ihn nicht hinters Licht führen, obwohl man ja weiß, wie gern die jedem das Fell über die Ohren ziehen. Alles nur, weil er alle Seiten der Dinge in Betracht zog.

Tar Valon. Das mußte Tar Valon sein. Dieses Zimmer paßte in einen Palast. Der blumige Teppich aus Arad Doman allein hatte möglicherweise soviel gekostet wie ein ganzer Bauernhof. Darüber hinaus fühlte er sich wohl schwach, aber nicht mehr krank. Und wie man ihm gesagt hatte, war Tar Valon der einzige Ort, an dem man ihn hätte heilen können. Er hatte sich wohl niemals wirklich in dem Sinne krank gefühlt, nicht einmal, als Verin — ein weiterer Name, der aus dem Nebel seiner Erinnerung auftauchte — jemandem erklärt hatte, daß er im Sterben liege. Jetzt war er so schwach wie ein Neugeborenes und hungrig wie ein Wolf, aber irgendwie war er sicher, daß die Heilung erfolgt war. Ich fühle mich — einfach gesund, das ist alles. Ich bin geheilt. Er schnitt den Fensterläden eine Grimasse.

Geheilt. Das bedeutete, sie hatten die Eine Macht bei ihm angewandt. Dieser Gedanke bereitete ihm eine Gänsehaut, aber was vorbei war, war vorbei. »Besser als Sterben«, sagte er sich. Nun fielen ihm ein paar der Geschichten über die Aes Sedai ein, die er einmal gehört hatte. »Es muß halt besser sein, als zu sterben. Selbst Nynaeve glaubte, ich würde es nicht überstehen. Auf jeden Fall ist es geschehen, und es lohnt sich nicht mehr, sich darüber viele Gedanken zu machen.« Ihm wurde klar, daß er mittlerweile die Scheibe Rindfleisch gegessen hatte und sich den Saft von den Fingern leckte.

Tapsig machte er sich auf den Weg zum Tisch zurück. Drunter stand ein Hocker. Den zog er hervor und setzte sich drauf. Er ließ Messer und Gabel liegen und rollte eine weitere Scheibe Rindfleisch zusammen. Wie konnte er die Tatsache, daß er sich in Tar Valon befand — in der Weißen Burg, das ist wohl klar — zu seinem Vorteil ausnützen?

Tar Valon bedeutete auch Aes Sedai. Das war sicherlich ein Grund, keine Stunde länger als notwendig zu bleiben. Im Gegenteil. Seine Erinnerungen an die Zeit mit Moiraine und später mit Verin gaben ihm allerdings kaum Anhaltspunkte. Er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, daß eine von beiden jemals etwas wirklich Schreckliches getan hatte. Aber er konnte sich ja überhaupt an nicht viel erinnern. Und was die Aes Sedai taten, dafür hatten sie ihre eigenen Gründe.

»Und das sind nicht immer diejenigen, von denen man glaubt, es seien ihre Motive«, murmelte er mit Kartoffeln im Mund. Dann schluckte er erst mal. »Eine Aes Sedai lügt niemals, aber die Wahrheit, die sie dir sagt, ist nicht immer dasselbe, was du glaubst. Daran muß ich mich auf jeden Fall immer erinnern: Ich kann mir nicht sicher sein bei ihnen, selbst wenn ich es glaube.« Diese Schlußfolgerung stimmte ihn keineswegs heiter. Er nahm lieber einen Löffel voll mit Buttererbsen.

Bei dem Thema Aes Sedai fielen ihm einige weitere Dinge über sie ein. Es gab sieben Ajahs: Blau, Rot, Braun, Grün, Gelb, Weiß und Grau. Die Roten waren die schlimmsten. Abgesehen von den Schwarzen Ajah, von denen sie behaupten, daß es sie nicht gibt. Aber die Roten Ajah stellten für ihn keine Bedrohung dar. Sie interessierten sich nur für Männer, die mit der Macht umgehen konnten.

Rand. Seng mich, wie konnte ich das nur vergessen? Wo ist er? Geht es ihm gut? Er seufzte bedauernd und strich Butter auf eine noch immer warme Brotscheibe. Ob er wohl mittlerweile dem Wahnsinn verfallen ist? Aber selbst wenn er die Antworten wüßte, könnte er Rand doch nicht helfen. Er war sich auch nicht sicher, ob er ihm überhaupt helfen wollte. Rand konnte die Macht lenken, und Mat war mit Geschichten aufgewachsen, in denen Männer die Macht gebrauchten. Man hatte den Kindern diese Geschichten erzählt, um ihnen angst zu machen. Auch die Erwachsenen bekamen Angst, denn manche dieser Geschichten waren nur zu wahr. Zu entdecken, was Rand konnte, war ungefähr so, als habe er herausgefunden, daß sein bester Freund kleine Tiere quälte und Kinder ermordete. Wenn man es schließlich wirklich glaubte, konnte man ihn kaum noch länger Freund nennen.

»Ich muß erst mal für mich selbst sorgen«, sagte er zornig. Er kippte den Weinkrug über seinen silbernen Becher und merkte überrascht, daß er leer war. Also füllte er statt dessen den Becher mit Milch. »Egwene und Nynaeve wollen Aes Sedai werden.« Daran hatte er sich noch gar nicht erinnert — erst jetzt, als er es laut aussprach. »Rand rennt Moiraine hinterher und bezeichnet sich als Wiedergeborenen Drachen. Das Licht weiß, was Perrin will. Er hat verrückt gespielt, seit seine Augen so komisch wurden. Ich muß zuerst an mich denken.« Seng mich, das muß einfach sein! Ich bin der letzte von uns, der noch normal ist. Nur ich allein.

Tar Valon. Na ja, man sagte ja, es sei die reichste Stadt der Welt, und es war das Zentrum allen Handels zwischen den Grenzlanden und dem Süden, das Zentrum aller Macht der Aes Sedai. Er glaubte nicht, daß er eine Aes Sedai dazu überreden könne, mit ihm zu spielen — ob Würfel oder Karten. Er würde auch in diesem Fall weder Würfeln noch Karten trauen. Aber es mußte doch Kaufleute hier geben und andere, die Silber und Gold besaßen. Die Stadt selbst wäre wohl auch ein paar Tage Aufenthalt wert. Ihm war bewußt, daß er seit ihrer Abreise von den Zwei Flüssen weit gekommen war, aber außer ein paar vagen Erinnerungen an Caemlyn und Cairhien waren ihm im Grunde die großen Städte unbekannt. Er hatte schon immer eine wirklich große Stadt sehen wollen.

»Aber keine, die voll von Aes Sedai ist«, knurrte er mürrisch, wobei er die letzten Buttererbsen verputzte. Dann wandte er sich wieder dem Rindfleisch zu.

Nebenher fragte er sich, ob ihm die Aes Sedai wohl den Rubin aus dem Dolch von Shadar Logoth geben würden. Er erinnerte sich nur ganz verschwommen an den Dolch, aber selbst das war wie die Erinnerung an eine schreckliche Verwundung. In ihm verkrampfte sich alles, und in seinen Schläfen stach der Schmerz. Doch an den Rubin erinnerte er sich ganz deutlich: daumennagelgroß, dunkel wie ein Blutstropfen, glitzernd wie ein rotes Auge. Sicher hatte er einen größeren Anspruch darauf als sie, und zu Hause mußte der Stein soviel wert sein wie ein Dutzend Bauernhöfe.

Sie werden bestimmt sagen, auch darauf läge ein Fluch. Wahrscheinlich stimmte das sogar. Trotzdem stellte er sich vor, wie er den Rubin den Coplins verschacherte und dafür ihr bestes Land bekam. Die meisten Mitglieder dieser Familie — sie waren die geborenen Stänkerer, soweit sie nicht sogar Diebe und Lügner waren — verdienten gewiß, was ihnen dann zustoßen würde. Aber er glaubte nicht im Ernst daran, daß die Aes Sedai ihn an ihn zurückgeben würden, und selbst dann wäre es ihm mehr als unangenehm gewesen, den Rubin bis Emondsfeld bei sich zu tragen. Und auch der Gedanke daran, den reichsten Bauernhof der Zwei Flüsse zu besitzen, wirkte nicht mehr so erregend wie einst. Das war einmal sein größter Ehrgeiz gewesen — das, und als ein genauso guter Pferdehändler wie sein Vater anerkannt zu werden. Das alles erschien ihm nun kleinlich und unwichtig. Da draußen wartete statt dessen eine ganze Welt auf ihn.

Als allererstes, beschloß er, mußte er Egwene und Nynaeve suchen. Vielleicht sind sie wieder zur Besinnung gekommen. Vielleicht haben sie den Wahnsinn aufgegeben, Aes Sedai werden zu wollen. Er glaubte wohl nicht daran, aber er wollte nicht gehen, ohne sie gesehen zu haben. Daß er gehen würde, war sicher. Ein Besuch bei ihnen, ein Tag, um die Stadt zu besichtigen, vielleicht ein Spielchen, um seine finanzielle Situation aufzubessern, und dann weg, irgendwohin, wo es keine Aes Sedai gab. Bevor er nach Hause zurückkehrte — ich werde eines Tages heimkommen, ganz bestimmt —, wollte er etwas von der Welt sehen, ohne daß er am Gängelband einer Aes Sedai hing.

Er suchte auf dem Tablett nach mehr Eßbarem und war erschrocken, als ihm klar wurde, daß nur ein paar Krümel Brot und Käse von alledem übrig waren. Die Krüge waren auch beide leer. Er blickte staunend auf seinen Bauch hinunter. Mit all dem innendrin sollte ihm das Essen zu den Ohren herauskommen, aber er hatte das Gefühl, kaum etwas gegessen zu haben. So kratzte er die letzten Käsereste zusammen und nahm sie mit Daumen und Zeigefinger auf. Auf halbem Weg zu seinem Mund erstarrte sein Arm.

Ich habe das Horn von Valere geblasen. Leise pfiff er ein Stück einer Melodie und brach ab, als ihm der Text dazu einfiel:

Ich bin unten am Boden eines Schachts.

Der Regen prasselt und es ist schon nachts.

Der Schacht stürzt bald ein,

Kein Seil, keine Leiter sind mein.

Ich bin unten am Boden eines Schachts.

»Ich brauche aber ein verdammtes Seil, um hochzuklettern«, flüsterte er. Er ließ die Käsereste auf das Tablett zurückfallen. Im Augenblick war ihm wieder schlecht. Entschlossen bemühte er sich, klar zu denken, den Nebel zu durchbrechen, der alles in seinem Kopf verhüllte.

Verin hatte das Horn nach Tar Valon mitgenommen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, ob ihr klar war, daß er es geblasen hatte. Sie hatte jedenfalls nie etwas darüber erwähnt. Da war er sicher. Glaubte er. Und was ist, wenn sie es weiß? Wenn sie es alle wissen? Wenn Verin nicht irgend etwas damit angestellt hat, was ich nicht weiß, dann haben sie doch das Horn. Sie brauchen mich nicht. Aber wer konnte schon sagen, was eine Aes Sedai brauchen würde?

»Wenn sie mich danach fragen«, sagte er sich grimmig, »dann habe ich es nie berührt. Falls sie es wissen... falls sie Bescheid wissen... dann entscheide ich von Fall zu Fall, was zu tun ist. Seng mich, sie können gar nichts von mir wollen! Auf keinen Fall!«

Ein leises Klopfen an die Tür ließ ihn schwankend aufstehen, bereit, wegzulaufen. Falls es irgendeine Zuflucht für ihn gegeben hätte und er mehr als drei Schritte bewältigen könnte. Weder das eine noch das andere war der Fall.

Die Tür öffnete sich.


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