10 Geheimnisse

Einen Augenblick lang vergaß Egwene al'Vere ihre Begleitung und stellte sich in den Steigbügeln auf, um einen Blick auf das ferne Tar Valon zu erhaschen. Doch alles, was sie sehen konnte, war ein verschwommener Fleck, der weiß im Sonnenschein schimmerte. Es mußte aber schon die Stadt auf der Insel sein. Der einsame Berg mit dem zerrissenen Gipfel, den man den Drachenberg nannte, war am Spätnachmittag des Vortags zuerst sichtbar geworden. Da hatten sie sich bereits auf dieser Seite des Erinin befunden. Dieser Berg, der sich wie ein abgebrochener Zahn aus der hügeligen Ebene erhob, war völlig unverkennbar. Man sah ihn auf viele Meilen im Umkreis und die Menschen mieden ihn; selbst diejenigen, die nach Tar Valon unterwegs waren.

Am Drachenberg war Lews Therin Telamon gestorben, sagte man. Noch weiteres war über diesen Berg geweissagt worden: Prophezeiung und Warnung zugleich. Genug Gründe, um sich von seinen schwarzen Abhängen fernzuhalten.

Sie allerdings hatte Gründe, ihm nicht fernzubleiben; und mehr als nur einen. Nur in Tar Valon konnte sie die Ausbildung erhalten, die sie benötigte, die sie erhalten mußte. Ich lasse mir nie wieder ein Halsband anlegen! Sie verdrängte den Gedanken, aber er kehrte in genau umgekehrter Bedeutung zurück. Ich werde nie wieder meine Freiheit aufs Spiel setzen! In Tar Valon würde Anaiya wieder damit beginnen, ihre Träume zu erforschen. Das mußte die Aes Sedai tun, obwohl sich bisher kein Beweis dafür gefunden hatte, daß Egwene zu den seltenen Träumern gehörte, wie Anaiya vermutete. Egwenes Träume waren beunruhigend gewesen, seit sie die Ebene von Almoth verlassen hatte. Ganz davon abgesehen, daß sie immer noch von den Seanchan träumte und dann schweißgebadet aufwachte, träumte sie nun mehr und mehr von Rand. Rand, der weglief. Der auf irgend etwas zurannte und gleichzeitig auch vor irgend jemandem wegrannte.

Sie spähte angestrengt hinüber nach Tar Valon. Dort war Anaiya. Und vielleicht auch Galad. Unwillkürlich errötete sie und verdrängte ihn dann ganz und gar aus ihren Gedanken. Denk an das Wetter. Denk an irgend etwas. Licht, aber das ist ein warmes Gefühl. Zu dieser frühen Jahreszeit, wo der Winter noch gestern geherrscht hatte, war der Drachenberg mit einer weißen Kappe überzogen, doch hier unten war aller Schnee längst geschmolzen. Die ersten grünen Sprossen schoben sich durch das Braun des verfilzten Grases aus dem letzten Jahr, und wo hier und da ein Hügel von einem Baum gekrönt wurde, sah man auch bereits das Rot neuer Schößlinge. Es tat gut, diese Anzeichen des Vorfrühlings zu sehen. Den Winter hatten sie mehr oder weniger auf den Pferden verbracht, waren manchmal im Lager oder in einem Dorf durch Schneestürme tagelang eingeschlossen gewesen. Dann wieder waren sie kaum vorwärtsgekommen, weil die Pferde sich bis zum Bauch durch Schneewehen kämpfen mußten. Bei gutem Wetter wären sie zu Fuß an einem halben Tag weiter gekommen als unter diesen Umständen an einem ganzen.

Egwene schob ihren dicken Wollumhang beiseite und ließ sich wieder in den hochgezogenen Sattel zurückfallen.

Ungeduldig strich sie ihren Rock glatt. Ihre dunklen Augen blickten angeekelt drein. Sie hatte dieses Kleid schon viel zu lange getragen. Es war geschlitzt — sie hatte es selbst abgenäht —, damit sie besser reiten konnte. Das einzige andere Kleid in ihrem Besitz war allerdings noch abgetragener. Und dann auch noch die gleiche Farbe, das gleiche Dunkelgrau, wie die Gefesselten es trugen. Doch sie hatte vor Wochen, bei ihrem Aufbruch nach Tar Valon, keine andere Wahl gehabt als eben dieses Dunkelgrau.

»Ich schwöre, ich werde niemals mehr Grau tragen, Bela«, erklärte sie ihrer zerzausten Stute, wobei sie deren Hals tätschelte. Nicht, daß ich eine Wahl hätte, sobald ich einmal in der Weißen Burg bin, dachte sie. In der Burg trugen alle Novizinnen Weiß.

»Führst du wieder Selbstgespräche?« fragte Nynaeve. Ihr brauner Wallach schob sich näher heran. Die beiden Frauen waren gleich groß und gleich angezogen, doch die unterschiedlichen Pferde ließen die frühere Seherin von Emondsfeld einen Kopf größer erscheinen. Nynaeve zog nun die Augenbrauen hoch und zupfte an dem dicken Zopf dunklen Haares, der ihr über die Schulter hing. So blickte sie immer drein, wenn sie besorgt war oder manchmal, wenn sie selbst für ihre Verhältnisse besonders stur sein wollte. Ein Schlangenring am Finger zeigte, daß sie zu den Auserwählten zählte. Sie war Egwene einen langen Schritt voraus, aber trotzdem noch keine volle Aes Sedai. »Du solltest besser aufpassen.«

Egwene hielt den Mund, obwohl sie eigentlich erwidern wollte, daß sie nach Tar Valon Ausschau gehalten habe. Hat sie geglaubt, ich stehe in den Steigbügeln, weil mir mein Sattel nicht gefällt? Nynaeve schien viel zu oft zu vergessen, daß sie nicht mehr die Seherin von Emondsfeld war und Egwene kein Kind mehr. Aber sie trägt den Ring und ich — noch! — keinen. Für sie bedeutet das: Es hat sich gar nichts geändert!

»Fragst du dich auch, wie Moiraine wohl Lan behandeln mag?« fragte sie in süßem Tonfall und erlebte einen vergnüglichen Moment, als Nynaeve hart an ihrem Zopf riß. Das Vergnügen verflog ihr aber schnell. Solche Spitzen lagen ihr nicht, und sie wußte, daß Nynaeves Gefühle dem Behüter gegenüber so wirr waren wie ein Wollknäuel, nachdem ein Kätzchen in den Wollkorb gefallen war. Doch Lan war kein Kätzchen, und Nynaeve würde sich etwas einfallen lassen müssen, bevor seine Sturheit und unerschütterliche Würde sie einmal so wild machten, daß sie ihn umbrachte.

Sie waren zu sechst, alle einfach angezogen, so daß sie in den Dörfern und kleinen Städten an ihrem Weg nicht auffielen. Und doch stellten sie vielleicht die eigenartigste Gesellschaft dar, die in jüngerer Zeit die Caralain-Steppe überquert haben mochte. Vier von ihnen waren Frauen, und einer der Männer lag auf einer zwischen zwei Pferden aufgehängten Trage. Die Packpferde trugen außerdem noch leichte Lasten mit Vorräten für die langen Strecken zwischen den Dörfern, die sie zurücklegen mußten. Sechs Menschen, dachte Egwene, und wie viele Geheimnisse? Sie alle hatten einige davon, die sie wohl auch im Weißen Turm würden wahren müssen. Das Leben zu Hause war einfacher.

»Nynaeve, glaubst du, daß es Rand gut geht? Und Perrin?« fügte sie hastig hinzu. Sie konnte es sich nicht mehr leisten, immer noch vorzugeben, daß sie eines Tages Rand heiraten würde; es wäre nur noch eine Selbsttäuschung. Es gefiel ihr nicht — sie hatte sich noch nicht damit abgefunden —, aber es war ihr klar.

»Deine Träume? Haben sie dich wieder geplagt?« Nynaeves Stimme klang besorgt, aber Egwene war nicht in der Stimmung, um Sympathiebekundungen entgegenzunehmen.

Sie bemühte sich, ihre Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen: »Den Gerüchten nach, die wir gehört haben, kann ich nicht sagen, was wirklich vorgeht. Alles, was ich weiß, ist so verdreht, so falsch.«

»Alles ist schiefgegangen, seit Moiraine in unsere Leben kam«, sagte Nynaeve grob. »Perrin und Rand... « Sie zögerte und verzog das Gesicht. Egwene dachte sich, daß Nynaeve bestimmt glaube, alles, was aus Rand geworden war, sei Moiraines Werk. »Sie müssen eben jetzt auf sich selbst aufpassen. Ich fürchte, wir haben unsere eigenen Sorgen. Irgend etwas stimmt nicht. Ich kann es... fühlen.«

»Weißt du, was?« fragte Egwene.

»Es ist beinahe wie ein Sturm.« Nynaeves dunkle Augen betrachteten den Morgenhimmel, der sich klar und blau über ihnen spannte. Nur ein paar vereinzelte Wolken waren zu sehen. Sie schüttelte den Kopf wieder. »Als ob sich ein Sturm nähert.« Nynaeve hatte schon immer das Wetter vorhersagen können. ›Dem Wind lauschen‹ nannte man das, und man erwartete von der Seherin eines Dorfes, daß sie diese Fähigkeit besaß, obwohl viele das nicht konnten. Doch seit sie Emondsfeld verließen, waren Nynaeves Fähigkeiten gewachsen oder hatten sich geändert. Die Stürme, die sie nun manchmal kommen fühlte, hatten eher mit Menschen zu tun als mit dem Wetter.

Egwene biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. Sie konnten es sich nicht leisten, sich nun, so kurz vor Tar Valon, aufhalten zu lassen. Um Mats willen und aus Gründen, von denen sie wußte, daß sie wichtiger waren als das Leben eines Dorflümmels, eines Jugendfreundes. Doch diese Gründe zählten nicht für ihr Herz. Sie sah die anderen an und fragte sich, ob sie etwas bemerkt hatten.

Verin Sedai, klein und mollig und ganz in Brauntöne gekleidet, ritt offensichtlich gedankenverloren voran. Sie hatte die Kapuze ihres Umhanges nach vorn gezogen, so daß sie ihr Gesicht fast ganz verdeckte. Ihr Pferd bestimmte das Tempo, nicht sie. Sie gehörte zu den Braunen Ajah, und den Braunen Schwestern lag gewöhnlich mehr an der Suche nach Wissen als an den Dingen der Welt um sie herum. Egwene war sich allerdings bei Verin nicht so sicher. Verin hatte sich als ihre Begleiterin engagiert in die Angelegenheiten der Welt eingemischt.

Elayne war gleich alt wie Egwene und auch Novizin, doch sie hatte goldenes Haar und, im Gegensatz zu Egwenes dunklen, blaue Augen. Sie ritt hinten neben der Trage, auf der Mat bewußtlos lag. Sie war in das gleiche Grau gekleidet wie Egwene und Nynaeve und betrachtete Mat mit der gleichen besorgten Miene wie sie alle. Mat war nun schon drei Tage lang nicht aufgewacht. Der hagere, langhaarige Mann, der an der anderen Seite der Trage ritt, schien überallhin gleichzeitig blicken zu wollen, aber ohne daß es jemand bemerkte. Die Falten in seinem Gesicht traten stärker hervor, wenn er sich konzentrierte.

»Hurin«, sagte Egwene, und Nynaeve nickte. Sie ließen ihre Pferde langsamer voranschreiten und die Trage holte auf. Verin zockelte vornweg.

»Fühlst du etwas, Hurin?« fragte Nynaeve. Elayne hob den mit einem Mal eindringlichen Blick von Mats Bahre.

Als alle drei ihn anblickten, rutschte der hagere Mann im Sattel hin und her und rieb sich einen Flügel seiner langen Nase. »Schwierigkeiten«, sagte er lakonisch und gleichzeitig zögernd. »Ich glaube, wir... bekommen Schwierigkeiten.«

Er hatte für den König von Schienar Diebe aufspüren müssen und trug nicht den üblichen Haarknoten der schienarischen Krieger, doch das kurze Schwert und der Schwertbrecher an seinem Gürtel waren alt und abgenützt. Jahre der Erfahrung schienen ihm das Talent verliehen zu haben, Übeltäter aufzuspüren, besonders solche, die Gewalt angewandt hatten.

Zweimal hatte er sie auf ihrer Reise angewiesen, ein Dorf wieder zu verlassen, obwohl sie sich erst weniger als eine Stunde lang dort aufhielten. Beim erstenmal hatten sich alle geweigert, weil sie zu müde waren, doch bevor die Nacht vorüber war, hatten der Wirt und zwei andere Männer aus dem Dorf versucht, sie in ihren Betten zu ermorden. Das waren nur einfache Diebe und keine Schattenfreunde gewesen. Sie wollten lediglich ihre Pferde und alles das stehlen, was sie in den Satteltaschen und Bündeln hatten. Aber der Rest des Dorfes wußte Bescheid und betrachtete offensichtlich Fremde als legitime Beute. Sie waren gezwungen gewesen, vor einem mit Axtstielen und Mistgabeln bewaffneten Mob zu fliehen. Beim zweitenmal gab Verin sofort den Befehl weiterzureiten, als Hurin seinen Rat ausgesprochen hatte.

Doch der Spürhund des schienarischen Königs war immer vorsichtig in seinen Äußerungen seinen Begleiterinnen gegenüber. Nur bei Mat nicht, damals, als Mat noch sprechen konnte. Da hatten die beiden miteinander gescherzt und Würfel gespielt, wenn die Frauen nicht gerade in der Nähe waren. Egwene glaubte, er fühle sich so allein einfach nicht wohl bei einer Aes Sedai und drei Frauen, die sich auf diese Rolle vorbereiteten. Manchen Männern fiel es leichter, in einen Kampf zu gehen, als einer Aes Sedai gegenüberzustehen.

»Welche Art von Schwierigkeiten?« fragte Elayne.

Sie sprach leichthin, doch ihre Stimme klang so zwingend, verlangte so eindeutig nach einer schnellen und klaren Antwort, daß Hurin den Mund öffnete: »Ich rieche... « Er brach ab und blinzelte überrascht. Sein Blick wanderte unstet von einer Frau zur anderen. »Nur ein Gefühl«, sagte er schließlich. »Eine... Vorahnung. Ich habe gestern und heute Spuren gesehen. Eine Menge Pferde. Zwanzig oder dreißig in der einen Richtung und zwanzig oder dreißig, die in die entgegengesetzte Richtung ritten. Das macht mich stutzig. Das ist alles. Nur ein Gefühl. Aber ich sehe Schwierigkeiten kommen.«

Spuren? Egwene hatte sie nicht bemerkt. Nynaeve sagte in scharfem Ton: »Ich habe daran nichts Beunruhigendes entdecken können.« Nynaeve war stolz darauf, eine ebenso gute Kundschafterin zu sein wie die besten unter den Männern. »Sie waren bereits mehrere Tage alt. Wieso glaubt Ihr, daß es von daher Schwierigkeiten geben könnte?«

»Ich glaube es einfach«, sagte Hurin bedächtig, als wolle er eigentlich mehr sagen. Er senkte den Blick, rieb sich die Nase und atmete tief ein. »Es ist lange her, daß wir durch ein Dorf kamen«, brummte er. »Wer weiß, welche Nachrichten aus Falme uns bereits voraneilen? Wir erhalten vielleicht kein so herzliches Willkommen, wie wir es erwarten. Ich glaube, diese Männer könnten Räuber und Mörder sein. Wir müssen aufpassen, denke ich. Wenn Mat auf den Beinen wäre, würde ich den Weg voraus erkunden, aber vielleicht ist es das beste, wenn ich Euch nicht allein lasse.«

Nynaeve zog die Augenbrauen hoch. »Glaubt Ihr, wir können nicht auf uns selbst aufpassen?«

»Die Eine Macht bringt Euch nichts, wenn jemand Euch tötet, bevor Ihr sie anwenden könnt«, sagte Hurin in Richtung seines hochgezogenen Sattelhorns. »Verzeiht mir, aber ich glaube, ich... werde eine Weile bei Verin Sedai vorn mitreiten.« Er ließ sein Pferd die Fersen spüren und galoppierte nach vorn, bevor eine von ihnen etwas sagen konnte.

»Das ist ja eine Überraschung«, sagte Elayne, als Hurin sein Pferd dicht bei der Braunen Schwester verhielt. Verin schien ihn genausowenig zu bemerken wie alles um sie herum, und er schien es zufrieden. »Er hat sich immer so weit wie möglich von Verin ferngehalten, seit wir die Toman-Halbinsel verließen. Er sieht sie immer an, als fürchte er, was sie sagen könnte.«

»Die Aes Sedai zu respektieren heißt noch lange nicht, daß er keine Angst vor ihnen hat«, sagte Nynaeve und fügte dann zögernd hinzu: »Vor uns.«

»Wenn er glaubt, daß es Schwierigkeiten geben könnte, sollten wir ihn als Kundschafter losschicken.« Egwene atmete tief durch und sah die beiden anderen Frauen so ruhig wie möglich an. »Wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt, können wir uns selbst besser verteidigen als er, und wenn er hundert Soldaten dabei hätte.«

»Das weiß er aber nicht«, sagte Nynaeve unnachgiebig, »und ich werde es ihm auch nicht auf die Nase binden. Auch sonst niemandem.«

»Ich kann mir vorstellen, was Verin davon hielte.« Elayne hörte sich ängstlich an. »Ich wünschte, ich hätte eine Ahnung, wieviel sie tatsächlich weiß. Egwene, ich weiß nicht, ob meine Mutter mir helfen könnte, wenn die Amyrlin alles herausfände, und euch beiden noch weniger.

Oder ob sie es überhaupt versuchen würde.« Elaynes Mutter war die Königin von Andor. »Sie selbst konnte nur ein klein wenig von der Anwendung der Macht lernen, bevor sie die Weiße Burg verließ, auch wenn sie danach so lebte, als sei sie eine der Schwestern.«

»Wir können nicht auf Morgase hoffen«, sagte Nynaeve. »Sie ist in Caemlyn, und wir werden bald in Tar Valon sein. Nein, wir dürften schon genug Schwierigkeiten bekommen, weil wir uns unerlaubt davonschlichen, gleich, was wir mit zurückbringen. Es ist das beste, wenn wir uns unauffällig verhalten und demütig tun. Wir dürfen nicht mehr Aufmerksamkeit erregen, als wir schon haben.«

Ein andermal hätte Egwene über die Vorstellung gelacht, Nynaeve könne Demut vorgeben. Selbst Elayne brachte das noch besser fertig. Doch zur Zeit war ihr nicht nach Lachen zumute. »Und wenn Hurin recht hat? Wenn wir angegriffen werden? Er kann uns nicht gegen zwanzig oder dreißig Mann beschützen, und wenn wir darauf warten, daß Verin etwas unternimmt, sind wir wohl tot. Du hast gesagt, du fühltest einen Sturm kommen, Nynaeve.«

»Tatsächlich?« sagte Elayne. Rotgoldene Locken flogen, als sie den Kopf schüttelte. »Es wird Verin nicht gefallen, wenn wir...« Sie ließ die Worte verklingen. »Ob es Verin gefällt oder nicht — wir müssen es vielleicht tun.«

»Ich werde alles Notwendige tun«, sagte Nynaeve in scharfem Tonfall, »falls etwas zu tun ist. Und ihr beiden werdet wegrennen, wenn es notwendig wird. Die Weiße Burg mag ja von euren Fähigkeiten begeistert sein, aber glaubt ja nicht, daß sie euch keiner Dämpfung unterziehen werden, wenn die Amyrlin oder der Rat es für notwendig halten.«

Elayne hatte daran schwer zu schlucken. »Wenn sie uns deswegen einer Dämpfung unterziehen«, sagte sie mit schwacher Stimme, »dann bist du auch dran. Wir sollten gemeinsam wegrennen oder gemeinsam handeln. Hurin hat auch zuvor schon recht behalten. Wenn wir überleben wollen, damit wir in der Burg in Schwierigkeiten kommen können, müssen wir wohl... das Notwendige tun.«

Egwene schauderte. Von Saidar abgeschnitten zu werden, der weiblichen Hälfte der Wahren Quelle. Wenigen Aes Sedai nur war diese Strafe zuteil geworden, und doch gab es Handlungen, die in der Burg durch die Dämpfung bestraft wurden. Von den Novizinnen verlangte man, daß sie die Namen aller Aes Sedai auswendig lernten und auch ihre Verbrechen natürlich, die so bestraft worden waren.

Sie spürte ständig die Quelle, gerade jenseits ihrer bewußten Wahrnehmungen, so wie sie die Sonne fühlte, die zu Mittag von hinten auf ihre Schultern brannte. Obwohl sie oftmals ins Leere griff, wenn sie Saidar berühren wollte, hatte sie immer den Wunsch, die Quelle zu erreichen. Je mehr sie Saidar berührte, desto stärker wurde auch der Wunsch danach, die ganze Zeit über, ganz gleich, was Sheriam Sedai, die Aufseherin über die Novizinnen, von den Gefahren erzählte, wenn man sich zu sehr nach dem Gefühl der Einen Macht sehnte. Davon abgeschnitten zu werden, immer noch fähig, Saidar zu spüren, es aber nie mehr berühren zu können...

Die anderen schienen bei dem Gedanken auch nicht gesprächiger zu werden.

Um ihr Zittern zu verbergen, beugte sie sich hinunter zu der sanft schaukelnden Trage. Mats Decken waren verrutscht und hatten den Blick auf einen gekrümmten Dolch in einer goldenen Scheide freigegeben, den er in einer Hand hielt. Der Griff war mit einem Rubin von der Größe eines Taubeneis verziert. Sie hütete sich, den Dolch zu berühren, und zog die Decken wieder zurück über seine Hand. Er war nur wenige Jahre älter als sie, aber seine eingefallenen Wangen und die fahle Haut ließen ihn viel älter erscheinen. Seine Brust hob sich kaum bei seinen rauhen Atemzügen. Zu seinen Füßen lag ein voller Ledersack. Sie zog auch über den die Decke. Wir müssen Mat in die Burg bringen, dachte sie. Und den Sack. Auch Nynaeve beugte sich hinunter und fühlte nach Mats Stirn. »Sein Fieber wird schlimmer.« Sie klang besorgt. »Wenn ich nur ein wenig Sorgenfreiwurzel dabei hätte oder Fieberbann.«

»Und wenn Verin wieder versuchte, ihn mit Hilfe der Macht zu heilen?« warf Elayne ein.

Nynaeve schüttelte den Kopf. Sie strich über Mats Haar und seufzte. Dann richtete sie sich wieder auf. »Sie sagt, sie könne nicht mehr tun, als ihn gerade noch am Leben halten, und das glaube ich ihr. Ich... ich habe gestern abend auch versucht, ihn mit Hilfe der Macht zu heilen, aber es ist nichts dabei herausgekommen.«

Elayne schnappte nach Luft. »Sheriam Sedai sagt, wir dürfen keine Heilung versuchen, bis wir jeden einzelnen Schritt hundertmal geübt haben!«

»Du hättest ihn umbringen können!« sagte Egwene scharf.

Nynaeve schniefte laut. »Ich habe schon Heilungen fertiggebracht, bevor ich je daran dachte, nach Tar Valon zu gehen. Ich wußte nicht einmal, was ich tat. Aber es scheint, daß ich meine Medikamente dazu brauche, wenn es wirken soll. Wenn ich nur etwas Fieberbann hätte. Ich glaube nicht, daß noch viel Zeit übrig bleibt. Vielleicht nur noch Stunden.«

Egwene glaubte herauszuhören, daß sie wohl genauso unglücklich darüber sei, woher sie das wußte und auf welche Art sie es festgestellt hatte, wie über Mats Zustand selbst. Sie fragte sich erneut, warum Nynaeve eigentlich beschlossen hatte, zur Ausbildung nach Tar Valon zu gehen. Sie hatte ganz unbewußt gelernt, die Macht zu lenken, auch wenn sie nicht immer alles unter Kontrolle halten konnte, und sie hatte die Krise überstanden, die drei von vier Frauen umbrachte, wenn sie ohne die Anleitung der Aes Sedai sich der Macht zu bedienen lernten. Nynaeve behauptete, sie wolle eben mehr lernen, aber sie zögerte oftmals derart und wirkte dann eher wie betäubt...

»Wir haben ihn bald in der Weißen Burg«, sagte Egwene. »Dort können sie ihn heilen. Die Amyrlin wird sich um ihn kümmern. Sie wird sich überhaupt um alles kümmern.« Sie blickte nicht zu dem Fleck hinüber, wo Mats Decken den Sack bedeckten. Die beiden anderen Frauen mieden ebenfalls bewußt jeden Blick in diese Richtung. Es gab Geheimnisse, die sie alle nur zu gern loswerden wollten.

»Reiter«, sagte Nynaeve plötzlich, aber Egwene hatte sie auch bereits gesehen. Zwei Dutzend Männer erschienen auf einer kleinen Erhebung vor ihnen. Weiße Umhänge flatterten, als sie in einem Bogen auf sie zu galoppierten.

»Kinder des Lichts«, sagte Elayne, und sie sprach es wie einen Fluch aus. »Ich denke, hier haben wir deinen Sturm und Hurins Schwierigkeiten.«

Verin hatte ihr Pferd angehalten und eine Hand auf Hurins Arm gelegt, damit er sein Schwert nicht ziehen konnte. Egwene berührte das vordere der beiden Pferde, zwischen denen die Trage hing, damit es gleich hinter der rundlichen Aes Sedai stehenblieb.

»Laßt nur mich sprechen, Kinder«, sagte die Aes Sedai gelassen. Sie schob ihre Kapuze zurück und enthüllte das Grau ihrer Haare. Egwene war nicht sicher, wie alt Verin wirklich war. Alt genug auf jeden Fall für eine Großmutter, doch die grauen Strähnen waren das einzige Anzeichen von Alter, das die Aes Sedai zeigte. »Und was ihr auch tut, gestattet es ihnen nicht, euch zu provozieren.«

Verins Gesicht blieb genauso ruhig wie ihre Stimme, aber Egwene glaubte gesehen zu haben, wie sie nach Tar Valon hinüberblickte, um die Entfernung abzuschätzen. Die Turmspitzen waren jetzt sichtbar und eine hohe Brücke, die sich über den Fluß zur Insel spannte, hoch genug, damit die Handelsschiffe unter vollen Segeln darunter hindurchfahren konnten.

Nahe genug, um es sehen zu können, dachte Egwene, doch zu fern, um uns zu helfen.

Einen Augenblick lang wußte sie nicht, ob die herankommenden Weißmäntel nicht wirklich angreifen wollten, doch dann hob ihr Anführer eine Hand, und sie hielten alle auf einmal kaum vierzig Schritt entfernt von ihnen an. Staub und Schmutz spritzte beim Anhalten vor den Hufen ihrer Pferde auf.

Nynaeve knurrte wütend etwas und Elayne setzte sich stolz kerzengerade im Sattel auf. Sie schien im nächsten Augenblick die Weißmäntel ihrer schlechten Manieren wegen beschimpfen zu wollen. Hurin hielt noch immer seinen Schwertgriff gepackt. Er schien bereit, sich zwischen die Frauen und die Weißmäntel zu werfen, gleich, was Verin gesagt hatte. Verin fächelte sich derweil milde lächelnd den Staub vor dem Gesicht weg. Die Reiter in den weißen Umhängen bildeten einen Bogen um sie und versperrten ihnen den Weg vollständig.

Ihre Brustpanzer und die kegelförmigen Helme schimmerten, so gut waren sie geputzt, und selbst die Metallschuppen an ihren Armen glänzten noch. Jeder Mann hatte auf der Brust eine strahlende goldene Sonnenscheibe. Einige legten Pfeile auf. Sie hoben wohl die Bögen nicht, hielten sie aber kampfbereit. Ihr Anführer war ein junger Mann, und doch trug er schon die beiden goldenen Knoten, die seinen hohen Rang auswiesen, unter der Sonne auf seinem Umhang.

»Zwei Hexen aus Tar Valon, wenn mich meine Augen nicht täuschen, oder?« sagte er mit einem angespannten Lächeln, das sein schmales Gesicht kaum berührte. Sein Blick war von Arroganz überschattet, als wisse er etwas, was die anderen zu sehen zu dumm waren. »Und zwei Hühnchen und ein Paar Wachhunde, einer krank und der andere alt.« Hurin schäumte, doch Verins Hand hielt ihn zurück. »Wo kommt ihr her?« wollte der Weißmantel wissen.

»Wir kommen aus dem Westen«, sagte Verin gelassen. »Geht uns aus dem Weg und laßt uns weiterreiten. Die Kinder des Lichts haben hier keine Befehlsgewalt.«

»Die Kinder haben überall Befehlsgewalt, wo das Licht ist, und wo kein Licht ist, bringen wir es hin. Beantwortet meine Fragen! Oder muß ich Euch in mein Lager und zu den Zweiflern bringen lassen, damit die Euch befragen?«

Sie konnten sich Mats wegen keine weitere Verzögerung leisten. Ihm mußte in der Weißen Burg geholfen werden. Und was noch wichtiger war, obwohl Egwene bei dem Gedanken innerlich zusammenzuckte, daß es wichtiger sei als Mat: Sie konnten den Inhalt des Sacks nicht in die Hände der Weißmäntel fallen lassen.

»Ich habe Euch geantwortet«, sagte Verin immer noch in ruhigem Tonfall, »und höflicher, als Ihr verdient.

Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet uns aufhalten?« Einige der Weißmäntel hoben erzürnt ihre Bögen, als habe sie eine Drohung geäußert, doch sie fuhr mit gleichmäßiger Stimme fort: »In einigen Ländern gibt man vielleicht Eurer Drohungen wegen nach, aber nicht hier in Sichtweite von Tar Valon. Glaubt Ihr im Ernst, daß man Euch an diesem Ort gestatten wird, Aes Sedai zu entführen?«

Der Offizier rutschte unsicher im Sattel umher, als hege er plötzlich Zweifel daran, seine eigenen Forderungen durchsetzen zu können. Dann blickte er zu seinen Männern zurück — entweder um bei ihnen Rückhalt zu gewinnen, oder weil er sich daran erinnerte, daß sie ihn beobachteten — und brachte sich wieder unter Kontrolle. »Ich fürchte Eure Schattenfreund-Methoden nicht, Hexe. Antwortet mir, oder Ihr antwortet den Zweiflern.« Es klang aber nicht so entschlossen wie vorher.

Verin öffnete den Mund, als wolle sie ein wenig Konversation machen, doch bevor sie etwas sagen konnte, warf Elayne mit einer wahren Kommandostimme ein: »Ich bin Elayne, die Tochter-Erbin von Andor. Wenn Ihr nicht sofort Platz macht, werdet Ihr es mit Königin Morgase zu tun bekommen, Weißmantel!« Verin zischte frustriert durch die Zähne.

Der Weißmantel blickte einen Moment lang verblüfft drein, aber dann lachte er. »Das glaubt Ihr vielleicht, ja? Möglicherweise werdet Ihr feststellen, daß Morgase die Hexen gar nicht mehr so sehr liebt, Mädchen. Wenn ich Euch denen wegnehme und zu ihr zurückbringe, wird sie mir dafür dankbar sein. Der Lordhauptmann Eamon Valda würde gern mit Euch sprechen, Tochter-Erbin von Andor.« Er hob eine Hand. Egwene wußte nicht, ob er es nur als Geste verstanden haben wollte oder seinen Männern ein Zeichen gab. Einige der Weißmäntel strafften ihre Zügel.

Wir können nicht mehr warten, dachte Egwene. Ich lasse mich nicht noch einmal in Ketten legen! Sie öffnete sich dem Fluß der Einen Macht. Es war einfach für sie, und nachdem sie ja nun einige Übung hatte, ging es auch viel schneller als beim erstenmal. Ein Herzschlag, und ihr Geist war von allem geleert außer einer einzelnen Rosenknospe, die in der Leere schwebte. Sie war die Rosenknospe und öffnete sich dem Licht, öffnete sich Saidar, der weiblichen Hälfte der Wahren Quelle. Die Macht durchströmte sie und drohte, sie wegzuschwemmen. Es war, als sei sie mit Licht gefüllt, eins mit dem Licht in strahlender, überwältigender Ekstase. Sie kämpfte dagegen an, überwältigt zu werden, und konzentrierte sich auf den Boden vor dem Pferd des Weißmantel-Offiziers. Ein kleiner Fleck Bodens nur, denn sie wollte niemanden töten. Mich bekommt Ihr nicht! Die Hand des Mannes bewegte sich noch immer aufwärts. Aufbrüllend explodierte der Boden vor ihm, und eine Fontäne von Erdbrocken und Steinen erhob sich bis über seinen Kopf. Wiehernd bäumte sich sein Pferd auf, und er fiel wie ein Sack aus dem Sattel.

Bevor er noch am Boden lag, lenkte Egwene ihre Aufmerksamkeit auf die anderen Weißmäntel, und eine weitere kleine Explosion zerfetzte den Boden vor ihnen. Bela tänzelte zur Seite, aber sie kontrollierte die Stute völlig unbewußt durch Zügel und Schenkeldruck. Obwohl sie in die Leere gehüllt war, war sie überrascht über eine dritte Explosion, die nicht ihr Werk war, und eine vierte. Ganz entfernt war sie sich Nynaeves und Elaynes bewußt, die beide in das Glühen gehüllt waren, das ihr sagte, auch sie hatten Saidar erfaßt, seien von Saidar erfaßt worden. Diese Aura konnte nur eine Frau bemerken, die selbst die Macht lenken konnte, aber die Auswirkungen waren für jeden sichtbar. Explosionen scheuchten die Weißmäntel nach allen Seiten weg und überschütteten sie mit Erdbrocken. Der Lärm schüttelte sie durch und ließ ihre Pferde durchgehen.

Hurin sah sich mit offenem Mund um. Er war offensichtlich nicht weniger verängstigt als die Weißmäntel. Doch er hielt die Packpferde und sein eigenes Reittier davon ab, ebenfalls durchzugehen. Verin riß die Augen auf vor Erstaunen und Zorn. Ihr Mund bewegte sich lebhaft, doch ihre Worte gingen in dem Aufdonnern unter.

Und dann rannten die Weißmäntel davon. Einige ließen in panischer Angst die Bögen fallen und galoppierten los, als sei ihnen der Dunkle König selbst auf den Fersen. Alle, bis auf den jungen Offizier, der sich mühsam vom Boden erhob. Mit gesenkten Schultern starrte er Verin an. Das Weiße seiner Augen zeigte sich deutlich. Sein weißer Umhang und das Gesicht waren verdreckt, doch das schien er nicht zu bemerken. »Dann tötet mich doch, Hexe!« sagte er mit zitternder Stimme. »Los doch. Tötet mich, so wie Ihr meinen Vater umgebracht habt!«

Die Aes Sedai ignorierte ihn. Ihre Aufmerksamkeit galt allein ihrer Begleitung. Als hätten auch sie ihren Offizier vergessen, verschwanden die fliehenden Weißmäntel über die gleiche Anhöhe, auf der sie zuerst erschienen waren — alle zugleich, und sie blickten nicht zurück. Das Pferd des Offiziers galoppierte mit ihnen mit.

Unter Verins wütendem Blick ließ Egwene Saidar fahren, wenn auch nur langsam und unwillig. Das war immer sehr schwierig. Das Glühen um Nynaeve löste sich noch langsamer. Nynaeve blickte den Weißmantel vor ihnen finster an, als sei er noch zu irgendeinem hinterhältigen Manöver fähig. Elayne dagegen wirkte erschrocken über das, was sie getan hatte.

»Was ihr getan habt«, begann Verin, und dann unterbrach sie sich und holte erst mal tief Luft. Ihr Blick erfaßte alle drei jungen Frauen. »Was ihr getan habt, ist eine Freveltat! Ein Frevel! Eine Aes Sedai benützt die Macht nicht als Waffe, außer gegen Abkömmlinge des Schattens und in der letzten Not, um nicht getötet zu werden. Die Drei Eide...«

»Sie waren dabei, uns umzubringen«, fiel ihr Nynaeve hitzig ins Wort. »Uns umzubringen oder zu verschleppen und zu foltern. Er gab das Signal dazu!«

»Wir... wir haben die Macht nicht direkt als Waffe verwandt, Verin Sedai.« Elayne hielt den Kopf hoch erhoben, aber ihre Stimme zitterte. »Wir haben niemanden verletzt und es auch gar nicht versucht. Sicher... «

»Versucht keine Haarspaltereien mit mir!« fauchte Verin. »Wenn ihr volle Aes Sedai werdet — falls das jemals geschehen sollte —, werdet ihr die Drei Eide befolgen müssen, aber man erwartet auch von Novizinnen, daß sie sich bemühen, sich so zu verhalten, als hätten sie bereits die Eide abgelegt!«

»Was wird mit ihm?« Nynaeve deutete auf den Weißmantel-Offizier, der immer noch wie betäubt auf dem gleichen Fleck stand. Ihre Gesichtshaut war wie ein Trommelfell gespannt. Sie schien beinahe genauso zornig zu sein wie die Aes Sedai. »Er wollte uns gerade gefangennehmen. Mat wird sterben, wenn er nicht bald in die Burg kommt, und... und... «

Egwene wußte, was Nynaeve nicht sagen wollte. Und wir können diesen Sack nicht in andere Hände fallen lassen als die der Amyrlin. Verin musterte den Weißmantel mißtrauisch. »Er wollte uns nur Angst einjagen, Kind. Er wußte ganz genau, daß er uns nicht zwingen konnte, irgendwohin zu gehen, wo wir nicht hin wollten. Das hätte ihm mehr Schwierigkeiten bereitet, als er in Kauf nehmen wollte. Nicht hier, in Sichtweite von Tar Valon. Ich hätte uns allein mit Worten an ihm vorbeigebracht. Es hätte nur ein bißchen Zeit und Geduld gekostet. O ja, er hätte vielleicht versucht, uns zu töten, wenn er das aus einem Versteck heraus anstellen könnte, aber kein Weißmantel mit dem Gehirn eines Ziegenbocks wird riskieren, einer Aes Sedai etwas anzutun, die weiß, daß er da ist. Seht nur, was ihr da angestellt habt! Was werden diese Männer weitererzählen? Welchen Schaden wird das wiederum anrichten?«

Das Gesicht des Offiziers lief rot an, als sie das Versteck erwähnte. »Es ist keine Feigheit, wenn man die Macht nicht angreift, die die Welt zerstört hat«, brach es aus ihm heraus. »Ihr Hexen wollt die Welt noch einmal zerstören — im Dienst des Dunklen Königs!« Verin schüttelte ungläubig den Kopf.

Egwene wünschte sich, sie könne etwas von dem Schaden wiedergutmachen, den sie angerichtet hatte. »Es tut mir leid, was ich getan habe«, sagte sie zu dem Offizier. Sie war froh, daß sie noch nicht durch Eid daran gebunden war, kein unwahres Wort zu sagen, so wie die Aes Sedai, denn was sie sagte, war höchstens eine Halbwahrheit. »Ich hätte es nicht tun sollen und entschuldige mich deshalb. Ich bin sicher, daß Verin Sedai Eure Schrammen heilen wird.« Er trat zurück, als habe sie ihm angeboten, sich die Haut bei lebendigem Leib abziehen zu lassen, und Verin schniefte vernehmlich.

»Wir haben eine lange Reise hinter uns«, fuhr Egwene fort, »den ganzen Weg von der Toman-Halbinsel her, und wenn ich nicht so übermüdet wäre, hätte ich nie... «

»Seid ruhig, Mädchen!« rief Verin zur gleichen Zeit, als der Weißmantel knurrte: »Die Toman-Halbinsel? Falme! Ihr wart in Falme!« Er stolperte noch einen Schritt rückwärts und zog sein Schwert halb aus der Scheide. Seinem Blick nach konnte Egwene nicht entscheiden, ob der Mann angreifen oder sich verteidigen wollte. Hurin trieb sein Pferd näher an den Weißmantel heran und hatte eine Hand an seinem Schwertbrecher. Doch der schmalgesichtige Mann fuhr in ohnmächtigem Zorn fort, wobei ihm Speichel aus dem Mund spritzte: »Mein Vater ist bei Falme gestorben! Byar hat es mir erzählt! Ihr Hexen habt ihn für euren falschen Drachen getötet! Ich werde dafür sorgen, daß ihr sterbt! Ich werde euch verbrennen lassen!«

»Unfolgsame Kinder«, seufzte Verin. »Fast genauso schlimm wie Jungens — könnt eure Zungen nicht im Zaum halten. Wandle im Licht, mein Sohn«, sagte sie zu dem Weißmantel.

Ohne ein weiteres Wort führte sie die anderen um den Mann herum, doch seine Schreie folgten ihnen: »Ich heiße Dain Bornhald! Vergeßt den Namen nicht, Schattenfreunde! Ich werde Euch diesen Namen fürchten lehren! Vergeßt meinen Namen nicht!«

Als Bornhalds Schreie hinter ihnen verklangen, ritten sie eine Weile lang schweigend weiter. Schließlich sagte Egwene in das Schweigen hinein: »Ich habe es nur gut gemeint.«

»Gut!« murmelte Verin. »Ihr müßt lernen, daß es eine Zeit gibt, die volle Wahrheit zu sagen, und eine, wo man seine Zunge hüten sollte. Das ist die geringste aller Lehren, die Ihr beherzigen müßt, wenn Ihr lang genug leben wollt, um die Stola einer vollwertigen Schwester zu tragen. Habt Ihr jemals daran gedacht, daß uns die Nachrichten aus Falme vorangeeilt sein könnten?«

»Warum hätte sie daran denken sollen?« fragte Nynaeve. »Keiner von denen, die wir getroffen haben, hatte mehr als bloße Gerüchte gehört, und im letzten Monat haben wir auch die Gerüchte hinter uns gelassen.«

»Und alle Nachrichten kommen auf dem Weg, den wir gewählt haben?« antwortete Verin. »Wir sind langsam vorangekommen. Gerüchte fliegen über hundert verschiedene Pfade. Plant immer für den schlimmsten Fall, Kind, dann werdet Ihr nur angenehm überrascht.«

»Was hat er gemeint in bezug auf meine Mutter?« sagte Elayne plötzlich. »Er muß gelogen haben. Sie würde sich nie gegen Tar Valon stellen.«

»Die Königinnen von Andor waren schon immer mit Tar Valon befreundet, aber alle Dinge können sich ändern.« Verins Gesicht wirkte wieder ruhig, aber in ihrer Stimme lag eine gewisse Anspannung. Sie drehte sich im Sattel um, damit sie alle überblicken konnte: die drei jungen Frauen, Hurin und Mat auf der Trage. »Die Welt ist seltsam und alles ändert sich.« Sie überquerten einen Hügelkamm. Vor ihnen war nun ein Dorf in Sicht gekommen. Gelbe Ziegeldächer drängten sich um das Ende der großen Brücke, die nach Tar Valon führte. »Jetzt müßt ihr euch wirklich hüten«, sagte Verin. »Jetzt beginnt die eigentliche Gefahr.«


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