29 Aufbruchstimmung

In einer Ecke lag der Küchenhund gemütlich ausgestreckt. Nynaeve sah ihn wütend an, wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und zwang sich zum Weiterarbeiten. Ich traue ihnen fast zu, daß sie mich in sein Korbrad stecken, um dort pausenlos zu treten und den Spieß zu drehen. Statt dessen muß es diese lichtverlassene Kurbel sein. Aes Sedai! Seng sie doch alle! Man konnte den Grad ihrer Erregung daran messen, daß sie sich einer solchen Sprache bediente und daß sie es noch dazu nicht einmal selbst bemerkte. Sie konnte nicht glauben, daß es in dem langen, grauen, gemauerten Kamin noch heißer sei als ihr jetzt. Und sie war sicher, daß der gefleckte Hund sie angrinste.

Elayne schöpfte mit einem langen Holzlöffel Fett aus der Pfanne, die auffangbereit unter den Braten stand, während Egwene mit einem gleichen Löffel das Fleisch übergoß. In der Großküche lief alles um sie herum wie jeden Mittag ab. Selbst die Novizinnen hatten sich so an die Aufgenommenen gewöhnt, daß sie die drei Frauen kaum noch beachteten. Nicht, daß die Köchinnen den Novizinnen überhaupt Pausen gegönnt hätten, um sie anzugaffen. Die Aes Sedai sagten immer, die Arbeit forme den Charakter, und die Köchinnen sorgten dafür, daß die Novizinnen sehr starke Charaktere entwickelten. Und auch die drei Aufgenommenen.

Laras, die Herrin der Küche — eigentlich war sie die Chefköchin, aber die andere Bezeichnung war von so vielen so lange schon benützt worden, daß sie beinahe offiziell war —, kam herüber, um die Braten zu begutachten. Und die Frauen, die daneben schwitzten. Sie war mehr als nur fett zu nennen, hatte mindestens ein Dreifachkinn und trug eine fleckenlose, weiße Schürze, aus der man die Kleider für drei Novizinnen hätte nähen können. Sie trug ihren eigenen langen Holzlöffel wie ein Szepter mit sich herum. Dieser Löffel diente nicht zum Umrühren. Er wurde dazu benützt, ihre Untergebenen zu dirigieren und derjenigen eins überzuziehen, die ihr nicht schnell genug ihren Charakter formte. Sie musterte die Braten, schnüffelte verächtlich und wandte sich stirnrunzelnd den drei Aufgenommenen zu.

Nynaeve erwiderte Laras' Blick ohne Scheu und drehte dabei weiter den Spieß. Der Gesichtsausdruck der massigen Frau änderte sich nie. Nynaeve hatte es mit Lächeln probiert, aber das bewirkte überhaupt nichts. Mit Arbeiten aufzuhören und ganz höflich mit ihr zu sprechen hatte katastrophale Auswirkungen gezeigt. Es war schon schlimm genug, sich von den Aes Sedai herumkommandieren und herumschubsen zu lassen. Damit mußte sie fertigwerden, so sehr es sie auch wurmte, wenn sie lernen wollte, ihre Fähigkeiten auszubauen und anzuwenden. Was sie tun mußte, gefiel ihr an sich auch überhaupt nicht. Einerseits waren die Aes Sedai ja noch lange keine Schattenfreunde, bloß weil sie die Macht benutzen konnten, aber andererseits graute ihr schon vor sich selbst, da sie die gleichen Fähigkeiten besaß. Aber sie mußte dazulernen, wenn sie sich eines Tages an Moiraine rächen wollte. Ihr Haß auf Moiraine, weil sie Egwene und die anderen Emondsfelder aus ihren Leben gerissen und für ihre Zwecke mißbraucht hatte, war für sie die Hauptantriebskraft bei alledem. Aber sich von dieser Laras wie ein faules, nicht gerade intelligentes Kind behandeln zu lassen, vor dieser Frau knicksen zu müssen und Laufburschendienste zu leisten, einer Frau, die sie zu Hause mit wenigen wohlüberlegten Worten zurechtgewiesen hätte, das ließ sie schon beinahe genauso mit den Zähnen knirschen wie der Gedanke an Moiraine. Wenn ich sie vielleicht nicht ansehe... Nein! Seng mich, wenn ich vor dieser... dieser Kuh kusche!

Laras schniefte lauter und stolzierte weg. Es war wie das Rollen eines Schiffs von einer Seite auf die andere, als sie so über die frischgeputzten grauen Kacheln watschelte.

Elayne stand immer noch gebückt mit dem Löffel und dem Fettnapf in der Hand da und blickte ihr finster hinterher. »Wenn diese Frau mich nur noch einmal schlägt, lasse ich sie von Gareth Bryne festnehmen und... «

»Sei ruhig«, flüsterte Egwene. Sie hörte nicht auf, die Braten zu übergießen, und sie sah Elayne dabei auch nicht an. »Sie hat Ohren wie eine...«

Laras drehte sich um, als hätte sie tatsächlich zugehört. Ihr Stirnrunzeln nahm zu, und ihr Mund öffnete sich zur vollen Breite. Bevor jedoch ein Ton herauskam, betrat die Amyrlin die Küche mit der Kraft eines Wirbelsturms. Selbst die gestreifte Stola über ihren Schultern schien aufgeladen. Ausnahmsweise einmal war Leane nirgends zu sehen.

Endlich, dachte Nynaeve grimmig. Sie hat es nicht gerade eilig gehabt. Aber die Amyrlin blickte gar nicht zu ihnen herüber. Die Amyrlin sagte kein Wort, gleich zu wem. Sie wischte mit der Hand über eine knochenweiß geschrubbte Tischfläche, sah ihre Finger an und verzog das Gesicht, als habe sie Schmutz entdeckt. Laras war einen Moment später an ihrer Seite und lächelte über das ganze breite Gesicht, aber der ausdruckslose Blick der Amyrlin ließ das Lächeln sofort wieder verschwinden.

Die Amyrlin wanderte in der Küche herum. Sie sah die Frauen an, die den Maiskuchen schnitten. Sie funkelte die Frauen an, die das Gemüse putzten. Sie blickte spöttisch in die Suppenkessel und dann auf die Frauen, die darin rührten. Diese Frauen waren mit einem Mal ganz versunken in den Anblick der Suppe. Ihr finsterer Blick ließ die Mädchen beinahe rennen, die Teller und Schüsseln hinaus in den Speisesaal trugen. Unter diesem Blick huschten die Novizinnen einher wie die Mäuse vor der Katze. Als sie die Hälfte des Wegs durch die Küche zurückgelegt hatte, arbeiteten alle Frauen doppelt so schnell wie vorher. Als sie die Runde beendet hatte, war Laras die einzige, die überhaupt noch wagte, sie anzuschauen.

Die Amyrlin blieb vor dem riesigen Bratspieß stehen, stützte die Arme auf die Hüften und sah Laras an. Sie sah sie nur einfach mit ihren ausdruckslosen, kalten und harten blauen Augen an.

Die große Frau schluckte, und ihre Kinne wabbelten. Sie glättete nervös ihre Schürze. Die Amyrlin blinzelte nicht einmal. Laras senkte den Blick und trat schwerfällig von einem Fuß auf den anderen. »Falls die Mutter mich entschuldigt«, sagte sie mit schwacher Stimme. Sie machte etwas, das einem Knicks entfernt ähnlich sah, und eilte davon. Sie vergaß sich sogar so weit, daß sie sich den Frauen an den Suppenkesseln anschloß und mit ihrem eigenen Löffel umzurühren begann.

Nynaeve lächelte, hielt aber den Kopf gesenkt, um es zu verbergen. Auch Egwene und Elayne arbeiteten weiter, blickten aber heimlich zur Amyrlin hinüber, die keine zwei Schritt entfernt stand und ihnen den Rücken zuwandte.

Von ihrem Standpunkt aus konnte die Amyrlin die gesamte Küche überblicken und alle mit ihrem Blick einschüchtern. »Wenn sie sich so leicht einschüchtern lassen«, murmelte sie ganz leise, »dann sind sie vielleicht wirklich zu lange so davongekommen.«

Allerdings leicht eingeschüchtert, dachte Nynaeve. Diese erbärmlichen Weibsbilder. Sie hat sie schließlich bloß angesehen! Die Amyrlin blickte sich über eine stolabedeckte Schulter hinweg nach hinten um, und ihre Blicke trafen sich einen Moment lang. Plötzlich wurde Nynaeve klar, daß sie den Spieß schneller drehte. Sie sagte sich, sie müsse eben genauso eingeschüchtert tun wie alle die anderen.

Der Blick der Amyrlin fiel auf Elayne, und plötzlich sprach sie, und zwar beinahe laut genug, daß die Kupferkessel und Pfannen klapperten, die an der Wand hingen: »Es gibt einige Ausdrücke, die ich nicht aus dem Mund einer jungen Frau hören will, Elayne aus dem Hause Trakand. Wenn Ihr sie einlaßt, werde ich sie herauswaschen lassen!« Jede in der Küche fuhr zusammen.

Elayne blickte verwirrt drein, und Egwenes Gesicht nahm langsam einen finsteren Ausdruck an.

Nynaeve schüttelte den Kopf hastig und warnend. Nein, Mädchen! Halt den Mund! Siehst du nicht, was sie will?

Doch Egwene öffnete den Mund und sagte in respektvollem, aber energischem Tonfall: »Mutter, sie hat nichts... «

»Ruhe!« Das Brüllen der Amyrlin löste überall weiteres Zusammenzucken aus. »Laras! Könnt Ihr irgendeinen Weg finden, zwei Mädchen beizubringen, nur zu sprechen, wenn sie gefragt sind und nur zu sagen, was man von ihnen erwartet, Herrin der Küche? Schafft Ihr das?«

Laras watschelte viel schneller heran, als Nynaeve die Frau sich jemals zuvor bewegen hatte sehen. Sie packte Egwene und Elayne jeweils an einem Ohr und wiederholte derweil unterwürfig: »Ja, Mutter. Sofort, Mutter. Wie Ihr befehlt, Mutter.« Sie zog die beiden jungen Frauen so schnell aus der Küche heraus, als sei sie heilfroh, dem Blick der Amyrlin zu entrinnen.

Die Amyrlin war Nynaeve jetzt so nahe, daß sie sie berühren konnte, sah sich aber immer noch in der Küche um. Eine junge Köchin wandte sich gerade mit einer Teigschüssel in der Hand um. Der Blick der Amyrlin fiel direkt auf sie, und sie quiekte und rannte weg zu dem Tisch, auf dem der Teig geknetet wurde.

»Ich wollte Egwene nicht darin verwickeln.« Die Amyrlin bewegte kaum die Lippen beim Sprechen. Es wirkte, als knurre sie etwas in sich hinein, und bei ihrem Gesichtsausdruck hatte niemand in der Küche Interesse daran, was sie sagte. Nynaeve konnte sie gerade noch verstehen. »Aber vielleicht lernt sie daraus, erst nachzudenken, bevor sie etwas sagt.«

Nynaeve drehte den Spieß und behielt den Kopf unten. Sie bemühte sich, ebenfalls so zu wirken, als führe sie Selbstgespräche, für den Fall, daß jemand herblickte. »Ich dachte, Ihr wolltet ständig mit uns in Kontakt bleiben, Mutter. Damit wir über unsere Erkenntnisse berichten können.«

»Wenn ich jeden Tag komme und nach euch schaue, Tochter, würden einige mißtrauisch.« Die Amyrlin behielt weiterhin die ganze Küche im Auge. Die meisten Frauen schienen jeden Blick in ihre Richtung zu vermeiden, um nicht ihren Zorn auf sich zu ziehen. »Ich wollte euch an sich nach dem Mittagessen in mein Arbeitszimmer kommen lassen, um euch zu schelten, weil ihr noch keine Studiengebiete ausgewählt habt. Jedenfalls hatte ich das Leane so gesagt. Aber es gibt Neuigkeiten, die nicht warten können. Sheriam hat wieder einen Grauen Mann gefunden. Eine Frau diesmal. Tot wie ein Fisch von der letzten Woche und keine Verletzung zu erkennen. Man hat sie hingelegt, als wolle sie sich nur ausruhen, und zwar ausgerechnet in Sheriams Bett. Nicht sehr angenehm für sie.«

Nynaeve erstarrte, und der Spieß stand einen Moment lang still, bevor sie weiter an der Kurbel drehte. »Sheriam hatte eine Möglichkeit, die Liste zu sehen, die Verin Egwene gab. Elaida übrigens auch. Ich beschuldige niemanden, aber sie hatten jedenfalls die Möglichkeit. Und Egwene sagte, Alanna habe sich auch... seltsam verhalten.«

»Das hat sie Euch auch erzählt, nicht wahr? Alanna kommt aus Arafel. Dort haben sie eigenartige Vorstellungen in bezug auf Ehre und Schuld.« Sie zuckte die Achseln, sagte aber noch: »Ich denke, ich werde ein Auge auf sie haben. Habt ihr sonst etwas Nützliches erfahren, Kind?«

»Einiges«, murmelte Nynaeve grimmig. Wie wäre es damit, auch Sheriam im Auge zu behalten? Vielleicht hat sie den Grauen Mann nicht bloß gefunden. Und außerdem könnte die Amyrlin auch Elaida beobachten. Also stimmte das mit Alanna... »Ich verstehe nicht, wieso Ihr Else Grinwell vertraut, aber Eure Nachricht war hilfreich.«

In kurzen, hastigen Sätzen berichtete Nynaeve von den Dingen, die sie in dem Vorratsraum unter der Bibliothek gefunden hatten. Sie ließ es so erscheinen, als seien nur sie und Egwene hingegangen, und fügte auch die Schlüsse hinzu, die sie aus dem Vorgefundenen gezogen hatten. Sie erwähnte Egwenes Traum nicht — oder was es gewesen sein mochte. Egwene bestand darauf, ihn als real zu betrachten — real eben in Tel'aran'rhiod. Und sie erzählte auch nichts von dem Ter'Angreal, den Verin Egwene gegeben hatte. Sie brachte es einfach nicht fertig, der Frau mit der in sieben Farben gestreiften Stola voll und ganz zu vertrauen — sie vertraute keiner Frau ganz, die hier eine Stola tragen durfte —, und es schien ihr besser, ein paar Dinge zurückzuhalten.

Als sie fertig war, schwieg die Amyrlin so lange, daß Nynaeve schon fürchtete, sie habe das alles nicht gehört. Beinahe hätte sie alles etwas lauter wiederholt, doch da äußerte sich die Amyrlin endlich, wieder fast ohne jede Lippenbewegung: »Ich habe Euch keine Botschaft gesandt, Tochter. Die von Liandrin und den anderen zurückgelassenen Sachen wurden gründlich untersucht und verbrannt, nachdem nichts zu finden war. Keine andere hätte die von Schwarzen Ajah zurückgelassenen Sachen benützt. Was Else Grinwell betrifft... Ich erinnere mich an das Mädchen. Sie hätte wirklich etwas lernen können, wenn sie sich angestrengt hätte. Aber alles, was sie im Kopf hatte, war, die Männer anzulächeln, die auf dem Übungsgelände der Behüter kämpften. Else Grinwell wurde vor zehn Tagen auf ein Schiff gebracht und zu ihrer Mutter zurückgeschickt.«

Nynaeve versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Die Worte der Amyrlin erweckten in ihr die Vorstellung von den Rüpeln, die kleinere Kinder traktierten. Sie verachteten die Kleineren immer derart, waren immer so sicher, daß die Kleinen zu dumm seien, um zu erkennen, was sie taten, daß sie ihre Fallen überhaupt nicht erst zu verschleiern versuchten. Nun schien es ihr, die Schwarzen Ajah zeigten ihr gegenüber die gleiche Verachtung, und das brachte ihr Blut zum Kochen. Daß sie ihnen überhaupt eine solche Falle stellten, drehte ihr fast den Magen herum. Licht, wenn Else weggeschickt wurde... Licht, jede, mit der ich mich unterhalte, könnte dann ja auch Liandrin sein oder eine der anderen. Licht! Der Spieß stand still. Schnell begann sie ihn weiterzudrehen. Aber niemand schien es bemerkt zu haben. Sie bemühten sich immer noch, den Blick der Amyrlin zu meiden.

»Und was wollt ihr in bezug auf diese... offensichtliche Falle unternehmen?« fragte die Amyrlin leise, wobei sie immer noch von Nynaeve weg in die Küche blickte. »Wollt ihr darauf auch wieder hereinfallen?«

Nynaeve wurde rot. »Ich weiß diesmal, daß es eine Falle ist, Mutter. Und der beste Weg, den zu fangen, der die Falle gestellt hat, ist eben nun mal, sie auszulösen und zu warten, wer dann kommt.« Es klang irgendwie kraftloser als zuvor, wo sie es Egwene und Elayne erklärt hatte. Sie war aber nach wie vor dazu entschlossen.

»Vielleicht, Kind. Vielleicht ist das die richtige Methode, sie zu finden. Falls sie nicht kommen und euch in ihrem Netz gefangen vorfinden.« Sie seufzte frustriert. »Ich werde euch Gold für eure Reise ins Zimmer bringen. Und ich werde ausstreuen lassen, daß ich euch auf einen Bauernhof geschickt habe, um dort Kohl zu ernten. Geht Elayne mit euch?«

Nynaeve vergaß sich so weit, daß sie die Amyrlin verblüfft anstarrte, doch dann senkte sie ganz schnell den Blick wieder auf ihre Hände. Ihre Knöchel an der Kurbel des Bratspießes waren ganz weiß vor Anstrengung. »Ihr alte Ränkeschmie... Warum all das Gerede, wenn Ihr es die ganze Zeit über wußtet? Eure cleveren Intrigen bringen uns fast genauso ins Schwitzen wie die Gegenwart der Schwarzen Ajah. Warum?« Das Gesicht der Amyrlin spannte sich an, so daß sie sich zu einem respektvolleren Ton genötigt sah. »Falls ich fragen darf, Mutter.«

Die Amyrlin schnaubte. »Morgase wieder auf den rechten Pfad zurückzubringen, ob sie nun will oder nicht, wird schon schwierig genug, ohne sie auch noch glauben zu lassen, daß ich ihre Tochter wieder in Gefahr gebracht habe. Auf die Art kann ich wenigstens vor vornherein sagen, es sei nicht meine Schuld. Es mag ja für Elayne ziemlich hart werden, wenn sie schließlich ihrer Mutter wieder gegenübersteht, aber jetzt habe ich drei Jagdhunde statt nur zweier. Ich habe euch ja gesagt, ich könnte hundert gebrauchen, wenn es möglich wäre.« Sie rückte die Stola auf ihren Schultern zurecht. »Das war jetzt lange genug. Wenn ich euch so nahe bleibe, wird es jemandem auffallen. Gibt es sonst noch etwas, was Ihr mir berichten müßt? Oder fragen? Dann macht schnell, Tochter.«

»Was ist Callandor, Mutter?« fragte Nynaeve.

Diesmal war es die Amyrlin, die sich vergaß und schon halb Nynaeve zugewandt war, bevor sie zurückzuckte. »Man darf ihnen nicht gestatten, das in die Hände zu bekommen.« Ihr Flüstern war kaum hörbar, als sei es nur für die eigenen Ohren bestimmt. »Sie können es bestimmt nicht bekommen, aber...« Sie atmete tief durch, und ihre Worte waren wieder laut genug, daß Nynaeve sie verstehen konnte, auch wenn sie zwei Schritte weiter nicht mehr hörbar waren. »Nicht mehr als ein Dutzend Frauen in der Burg wissen, was Callandor ist, und außerhalb vielleicht noch mal die gleiche Anzahl. Die Hochlords von Tear wissen es, aber sie sprechen nicht darüber, außer, wenn ein neuer Lord zu ihrem Rang erhoben wird und sie ihn einweihen. Das Schwert, Das Man Nicht Berühren Kann, ist ein Sa'Angreal, Mädchen. Nur zwei mächtigere wurden jemals angefertigt, und dem Licht sei Dank, daß keiner davon je benützt wurde. Mit Callandor in der Hand, Kind, könntet Ihr mit einem Schlag eine ganze Stadt vernichten. Wenn ihr sterben müßt, um das nicht in die Hände der Schwarzen Ajah fallen zu lassen — Ihr und Egwene und Elayne, alle drei —, dann habt ihr der ganzen Welt einen Dienst erwiesen, und der Preis ist noch gering zu nennen.«

»Wie könnten sie es denn in die Hände bekommen?« fragte Nynaeve. »Ich dachte, nur der Wiedergeborene Drache könne Callandor berühren?«

Die Amyrlin sah sie von der Seite her so scharf an, daß man damit den Braten am Spieß hätte schneiden können. »Sie sind vielleicht hinter etwas anderem her«, sagte sie nach einem Augenblick des Überlegens. »Hier haben sie die Ter'Angreal gestohlen. Im Stein von Tear befinden sich beinahe genauso viele Ter'Angreal wie hier in der Burg.«

»Ich glaubte, die Hochlords haßten alles, was mit der Macht zu tun hat«, flüsterte Nynaeve ungläubig.

»O ja, Kind, sie hassen alles. Sie hassen es und fürchten sich davor. Wenn sie ein Mädchen in Tear aufspüren, das die Macht lenken kann, dann verfrachten sie sie am gleichen Tag noch auf ein Schiff nach Tar Valon und geben ihr nicht einmal mehr Zeit, sich von ihrer Familie zu verabschieden.« Im Gemurmel der Amyrlin klang die Bitterkeit über das eigene Schicksal nach. »Und doch besitzen sie einen der mächtigsten Brennpunkte der Macht, die die Welt je gesehen hat, und das innerhalb ihres gehüteten Steins. Ich glaube, sie haben deshalb über die Jahre hinweg so viele Ter'Angreal und andere Dinge gesammelt, die mit der Macht zu tun haben, weil sie glauben, so die Macht des Dinges schmälern zu können, das sie nicht loswerden, das sie immer und ewig an ihr eigenes Verderben erinnert, wenn sie das Herz des Steins betreten. Ihre Festung, an der hundert Heere scheiterten, wird als eines der Vorzeichen für die Wiedergeburt des Drachen fallen. Und es wird noch nicht einmal das einzige Vorzeichen sein, sondern eben nur eines von allen. Wie das ihre stolzen Herzen zum Erzittern bringen muß! Ihr Fall wird noch nicht einmal das eine, große Fanal für die Veränderung der Welt darstellen! Und sie können es auch nicht einfach ignorieren, indem sie sich vom Herz des Steins fernhalten. Dort werden die Lords zu Hochlords erhoben, dort müssen sie viermal im Jahr etwas durchführen, was sie den Ritus der Bewachung nennen, denn sie behaupten ja, sie schützten die ganze Welt vor dem Drachen, indem sie Callandor bewachen und für ihn unerreichbar machen. Das muß an ihnen nagen wie ein Schwarm Barrakudas, und sie verdienen es!« Sie schüttelte sich leicht, als habe sie mehr gesagt, als ursprünglich vorgesehen. »Ist das alles, Kind?«

»Ja, Mutter«, sagte Nynaeve. Licht, es kommt immer alles letzten Endes auf Rand an, oder? Immer der Wiedergeborene Drache. Es kostete sie immer noch Mühe, an ihn als solchen zu denken. »Das ist alles.«

Die Amyrlin rückte noch einmal ihre Stola zurecht und überblickte finster das hastige Gewusel in der Küche. »Ich muß das wiedergutmachen. Ich mußte ohne Verzögerung mit Euch sprechen, aber Laras ist eine gute Frau, und sie verwaltet Küche und Vorratskammern ganz ausgezeichnet.«

Nynaeve schniefte und sprach zu ihren Händen am Griff der Kurbel. »Laras ist ein saurer Fettkloß und viel zu schnell mit diesem Löffel zur Hand.« Sie glaubte, das nahezu unhörbar geflüstert zu haben, aber dann hörte sie, wie die Amyrlin trocken auflachte.

»Ihr könnt aber Charaktere gut beurteilen, Kind. Ihr müßt für Euer Dorf eine gute Seherin gewesen sein. Es war Laras, die zu Sheriam ging, weil sie wissen wollte, wie lange sie euch noch die schmutzigste und härteste Arbeit zumuten müsse, ohne euch etwas Erleichterung zu gönnen. Sie sagte, sie wolle nicht verantworten, den Lebensmut und die Gesundheit einer Frau zu ruinieren, gleich, was ich befehle. Ihr könnt wirklich gut Charaktere beurteilen, Kind.«

Laras trat in dem Moment wieder in die Küchentür, zögerte aber, ihr eigenes Reich zu betreten. Die Amyrlin ging ihr entgegen, und die finsteren Blicke wichen nun dem Lächeln.

»Es sieht meiner Meinung nach alles bestens aus, Laras.« Die Worte der Amyrlin waren in der gesamten Küche gut zu hören. »Ich fand nichts Ungewöhnliches — alles ist recht. Ich muß Euch loben. Ich glaube, ich werde ›Herrin der Küche‹ zu einem offiziellen Titel machen.«

Der Gesichtsausdruck der fetten Frau wandelte sich von nervös über erschrocken hin zu einem breiten Strahlen. Als die Amyrlin aus der Küche fegte, herrschte eitel Freude. Doch als sie sich dann in der Küche umsah, runzelte sie sogleich die Stirn, und die ganze Küchenbesatzung wandte sich blitzschnell wieder der Arbeit zu. Laras' grimmiger Blick traf Nynaeve.

Die drehte den Spieß wieder und lächelte die massige Frau an.

Laras' Miene verfinsterte sich noch weiter, und sie begann, sich mit dem Löffel auf die Hüfte zu klatschen. Sie hatte wohl vergessen, daß er einmal wenigstens für seinen eigentlichen Zweck benützt worden war. Auf ihrer weißen Schürze blieben Suppenflecken zurück.

Ich lächle sie an, und wenn es mich umbringt, dachte Nynaeve, aber sie mußte dabei mit den Zähnen knirschen.

Egwene und Elayne erschienen wieder, verzogen die Gesichter und wischten sich die Münder mit den Ärmeln ab. Ein Blick von Laras, und sie zischten zum Bratspieß und nahmen ihre Arbeit wieder auf.

»Seife«, knurrte Elayne undeutlich, »schmeckt furchtbar!«

Egwene zitterte, als sie Saft aus der Pfanne über die Braten kippte. »Nynaeve, wenn du uns sagst, die Amyrlin wolle, daß wir hierbleiben, dann schreie ich. Dann laufe ich wirklich weg!«

»Wir gehen, sobald der Abwasch erledigt ist«, sagte sie zu ihnen. »So schnell wir eben unsere Sachen aus den Zimmern holen können.« Sie wünschte, sie könne die Freude teilen, die sich in zwei Augenpaaren zeigte. Licht, hilf uns, daß wir nicht in eine Falle rennen, aus der wir nicht mehr entkommen können. Licht, hilf!


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