Aus dem Augenwinkel glaubte Nynaeve einen hochgewachsenen Mann mit rötlichem Haar und einem wehenden, braunen Umhang entdeckt zu haben, ein ganzes Stück die sonnenbeschienene Straße hinunter, doch als sie sich dorthin wandte und unter dem breiten Rand des blauen Strohhuts, den ihr Ailhuin gegeben hatte, hervorlugte, befand sich zwischen ihnen bereits ein schwerfälliger Ochsenkarren. Als er aus ihrer Sicht rollte, konnte sie den Mann nirgends mehr sehen. Sie war beinahe sicher gewesen, auf seinem Rücken einen hölzernen Flötenkasten hängen gesehen zu haben, und seine Kleidung stammte bestimmt nicht aus Tear. Das kann doch wohl nicht Rand gewesen sein. Nur, weil ich ständig von ihm träume, muß er ja nicht gleich den ganzen Weg von der Ebene von Almoth nach hier zurückgelegt haben.
Einer der barfüßigen Männer, die an ihr vorbeiliefen, trug auf dem Rücken einen Korb, aus dem die sichelförmigen Schwänze von einem Dutzend großer Fische herausragten. Plötzlich stolperte er, und silberngeschuppte Fische flogen im hohen Bogen über seinen Kopf weg, als er zu Boden stürzte. Er landete auf Händen und Knien im Schlamm und starrte die Fische an, die aus seinem Korb gefallen waren. Jeder dieser langen, schmalen Fische stand aufrecht mit dem Kopf im Schlamm und dem Schwanz hoch in der Luft. Sie bildeten einen sauberen Kreis. Selbst ein paar Passanten starrten dieses Bild fassungslos an. Langsam erhob sich der Mann. Offensichtlich war er sich gar nicht bewußt, daß er voller Schlamm war. Er ließ den Korb von seinem Rücken gleiten und sammelte seine Fische wieder ein. Dabei schüttelte er den Kopf und knurrte etwas in sich hinein.
Nynaeve zwinkerte, doch sie war gerade mit diesem kuhgesichtigen Räuber beschäftigt, der ihr an der Tür seines Ladens gegenüberstand. Hinter ihm hingen blutige Fleischstücke an Haken. Sie zupfte an ihrem Zopf und warf dem Burschen einen scharfen Blick zu.
»Also gut«, sagte sie streng. »Ich nehme es, aber wenn Ihr soviel für ein derart armseliges Stück verlangt, werdet Ihr mich als Kundin verlieren.«
Er zuckte gelassen die Achseln, als er ihr Geld entgegennahm. Dann wickelte er das fettige Hammelfleisch in ein Tuch, das sie aus ihrem Korb geholt hatte. Sie sah ihn böse an, während er ihr das Fleisch in den Korb steckte, doch das machte ihm offensichtlich nichts aus.
Sie wirbelte herum, um davonzustolzieren — und wäre beinahe gestürzt. Sie hatte sich noch immer nicht an die Klogs gewöhnt. Die blieben ihr ständig im Schlamm stecken, und ihr war nicht klar, wie die Leute, die so etwas trugen, damit fertigwurden. Sie hoffte, die Sonne würden den Boden bald trocknen, doch wurde sie das Gefühl nicht los, daß der Schlamm mehr oder weniger zum Mauleviertel dazugehöre.
Vorsichtig schritt sie weiter in Richtung auf Ailhuins Haus zu und fluchte dabei in sich hinein. Die Preise für alles und jedes waren einfach empörend, die Qualität miserabel, und trotzdem schien es niemanden zu kümmern — weder die Käufer noch die Verkäufer. Es war eine Erleichterung für sie, im Vorbeigehen eine Frau zu beobachten, die einen Ladenbesitzer anschrie und mit einer leicht lädierten, rötlichgelben Frucht in jeder Hand vor seiner Nase herumfuchtelte. Nynaeve kannte die hiesigen Obstsorten nicht, und auch von vielen Gemüsesorten aus diesem Land hatte sie noch nie gehört. Jedenfalls rief die Frau alle Umstehenden auf, sich anzusehen, was für einen Abfall der Mann verkaufe. Doch der Ladeninhaber sah sie nur müde an und machte sich nicht einmal die Mühe, mit ihr zu streiten.
Es gab natürlich eine Entschuldigung für diese Preise, wie sie wußte. Elayne hatte ihr erklärt, daß in den Lagerhäusern das Getreide von den Ratten gefressen wurde, weil in Cairhien niemand etwas kaufen konnte, und welch enorme Bedeutung der Getreidehandel mit Cairhien nach dem Aiel-Krieg erlangt hatte. Aber diese Weltuntergangsstimmung war durch nichts zu erklären. Sie hatte an den Zwei Flüssen erlebt, wie der Hagel die ganze Ernte zerschlagen hatte, oder wie Heuschrecken sie gefressen hatten, wie die Schwarzzungenkrankheit die Schafherden und der Rotfleck den Tabak dezimiert hatten, so daß es nichts zu verkaufen gab, als die Kaufleute aus Baerlon heruntergekommen waren. Sie konnte sich an zwei Jahre hintereinander erinnern, als es bis auf Zwiebelsuppe und alten Hafer kaum etwas zu essen gab. Damals waren selbst die Jäger froh gewesen, ein mageres Kaninchen mit nach Hause zu bringen. Aber die Menschen von den Zwei Flüssen rissen sich trotz aller Niedergeschlagenheit zusammen und kehrten an ihre Arbeit zurück. Diese Leute hier hatten nur ein schlechtes Jahr erlebt, und der Fischfang und auch der übrige Handel schien zu florieren. Sie hatte einfach keine Geduld mit ihnen. Das Dumme daran war, daß sie wußte, sie müßte eigentlich etwas Geduld aufbringen. Es waren eigenartige Leute mit eigenartigen Sitten, und das, was sie für Resignation hielt, schien selbst für Ailhuin und Sandar etwas ganz Normales zu sein. Sie sollte also wirklich ein bißchen mehr Verständnis für sie zeigen.
Warum dann nicht auch für Egwene? Sie schob diesen Gedanken beiseite. Das Kind benahm sich unmöglich, fauchte sie wegen der offensichtlichsten Einwände an und sperrte sich gegen die vernünftigsten Vorschläge. Selbst wenn völlig klar war, was sie zu tun hatten, wollte Egwene erst überzeugt werden. Nynaeve war es nicht gewöhnt, Menschen überzeugen zu müssen, und schon gar nicht Menschen, bei denen sie einst die Windeln gewechselt hatte. Die Tatsache, daß sie nur etwa sieben Jahre älter war als Egwene, tat hier nichts zur Sache.
Es liegt alles an diesen schlimmen Alpträumen, sagte sie sich. Ich verstehe ihre Bedeutung nicht, und jetzt haben Elayne und ich sie auch, und ich weiß immer noch nicht, was sie zu bedeuten haben, und Sandar gibt nichts von sich, außer, daß er beim Suchen ist, und ich bin so frustriert, ich... ich könnte ausspucken! Sie riß so stark an ihrem Zopf, daß es schmerzte. Wenigstens hatte sie es fertiggebracht, Egwene zu überreden, den Ter'Angreal nicht mehr zu benützen und ihn in ihren Beutel zurückzustecken, anstatt ihn immer auf der Haut zu tragen. Wenn die Schwarzen Ajah sich in Tel'aran'rhiod befanden... Über diese Möglichkeit dachte sie besser erst gar nicht nach. Wir werden sie finden!
»Ich werde sie zu Fall bringen«, knurrte sie in sich hinein. »Versuchen, mich wie ein Schaf zu verkaufen! Mich wie ein Tier zu jagen! Diesmal bin ich die Jägerin und nicht das Kaninchen! Diese Moiraine! Wenn sie nie nach Emondsfeld gekommen wäre, hätte ich Egwene schon genug beibringen können. Und Rand... ich hätte... irgend etwas hätte ich tun können!« Doch sie wußte, das stimmte nicht, und das machte alles nur noch schlimmer. Sie haßte Moiraine beinahe ebenso wie Liandrin und die Schwarzen Ajah, vielleicht genauso sehr wie die Seanchan.
Sie kam um eine Ecke, und Juilin Sandar mußte geschwind zur Seite springen, um nicht von ihr überrannt zu werden. Obwohl er ja an sie gewöhnt war, stolperte er doch beinahe über die eigenen Klogs. Nur sein Stock hielt ihn davon ab, mit dem Gesicht voran in den Matsch zu fallen. Dieses helle, eigenartige Holz nannte man Bambus, hatte sie erfahren, und es war viel härter, als es aussah.
»Frau... äh... Frau Maryim«, stotterte Sandar, als er das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte. »Ich habe... nach Euch gesucht.« Er lächelte sie nervös an. »Seid Ihr zornig? Warum seht Ihr mich so finster an?«
Sie glättete die Falten auf ihrer Stirn. »Ich habe nicht Euretwegen so finster geschaut, Meister Sandar. Dieser Metzger... Na ja, es spielt keine Rolle. Warum habt Ihr mich gesucht?« Ihr stockte der Atem. »Habt Ihr sie gefunden?«
Er sah sich um, als verdächtige er jeden Passanten, ihr Gespräch zu belauschen. »Ja. Ja, Ihr müßt mit mir zurückkommen. Die anderen warten schon. Die anderen. Und Mutter Guenna.«
»Warum seid Ihr so nervös? Euer Interesse an ihnen ist doch wohl hoffentlich nicht bemerkt worden?« fragte sie in scharfem Ton. »Was hat Euch solche Angst eingejagt?«
»Nein! Nein, Frau Maryim, ich — ich habe mich nicht verraten.« Sein Blick blieb unstet. Er trat näher zu ihr heran, und seine Stimme wurde zu einem heiseren, eindringlichen Flüstern: »Diese Frauen, die Ihr sucht, sind im Stein! Gäste eines Hochlords! Des Hochlords Samon! Warum habt Ihr sie als Diebinnen bezeichnet? Gäste des Hochlords Samon!« preßte er entsetzt hervor. Auf seinem Gesicht stand der Schweiß.
Im Stein! Bei einem Hochlord! Licht, wie können wir dort an sie herankommen? Sie unterdrückte mit einer Gewaltanstrengung ihre Ungeduld. »Entspannt Euch«, sagte sie in beruhigendem Ton. »Beruhigt Euch, Meister Sandar. Wir können Euch alles erklären.« Hoffentlich können wir das wirklich. Licht, wenn er zum Stein rennt und diesem Hochlord berichtet, daß wir nach ihnen suchen... »Kommt mit mir zu Mutter Guennas Haus. Joslyn, Caryla und ich werden Euch alles erklären. Bestimmt. Kommt!«
Er nickte kurz, fast niedergeschlagen, und ging dann neben ihr her. Er mußte seinen Schritt dem ihren mit den ungewohnten Klogs anpassen. Es schien, als wäre er lieber gerannt.
Am Haus der Weisen Frau angekommen, eilte sie gleich nach hinten. Niemand benutzte je die Vordertür, das hatte sie schon bemerkt — nicht einmal Mutter Guenna selbst. Die Pferde waren jetzt an eine Bambusstange angebunden und weit genug von Ailhuins jungen Feigen und ihren Kräutern entfernt. Die Sättel waren im Haus verstaut. Ausnahmsweise blieb sie nicht stehen, um Gaidins Nase zu tätscheln und ihm zu sagen, er sei ein guter Junge und vernünftiger als sein Namensvetter. Sandar blieb dagegen stehen und kratzte mit dem Ende seines Stocks den Schlamm von seinen Klogs. Sie eilte hinein.
Ailhuin Guenna saß mit steifen Armen auf einem ihrer Lehnstühle, der mitten im Raum stand. Die Augen quollen der grauhaarigen Frau vor Zorn und Angst beinahe heraus und sie kämpfte offenbar verzweifelt, ohne einen Muskel zu rühren. Nynaeve mußte das feine Gewebe aus dem Element Luft gar nicht erst fühlen, um zu wissen, was geschehen war. Licht, sie haben uns gefunden! Seng dich, Sandar!
Heiße Wut stieg in ihr auf und schwemmte die Sperren in ihrem Innern weg, die sie normalerweise davon abhielten, die Macht zu gebrauchen. Als der Korb aus ihren Händen fiel, war sie bereits eine weiße Blüte an einem Schlehenbusch, öffnete sich Saidar, öffnete... Es war, als sei sie gegen eine andere Wand gerannt, eine Wand aus durchsichtigem Glas. Sie konnte die Wahre Quelle fühlen, aber die Wand ließ nichts durch außer der Sehnsucht, sich von der Einen Macht erfüllen zu lassen.
Der Korb schlug auf dem Boden auf, und als er aufsprang, öffnete sich die Tür hinter ihr, und Liandrin trat ein, gefolgt von einer schwarzhaarigen Frau mit einer weißen Strähne über dem linken Ohr. Sie trugen lange, bunte Seidengewänder, die ihre Schultern unbedeckt ließen, und das Glühen Saidars umgab sie.
Liandrin strich sich das rote Kleid glatt und lächelte mit diesem Rosenknospen-Schmollmund. Ihr Puppengesicht strahlte triumphierend. »Siehst du jetzt, Wilde«, begann sie, »du hast keine... «
Nynaeve schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht. Licht, ich muß entkommen. Sie knallte Rianna den Handrücken mit solcher Gewalt gegen den Kopf, daß die schwarzhaarige Frau mit einem Ächzen auf ihr in Seide gehülltes Hinterteil fiel. Sie haben bestimmt die anderen gefangen, aber wenn ich aus der Tür komme, wenn ich weit genug wegkomme, daß sie mich nicht mehr abschirmen können, kann ich etwas unternehmen. Sie schob Liandrin mit Macht von der Tür weg. Laß mich nur aus dieser Abschirmung entkommen, und ich werde...
Von allen Seiten prasselten Schläge auf sie ein, wie mit Fäusten und Stöcken. Weder Liandrin, aus deren nicht mehr lächelndem Mundwinkel Blut rann, noch Rianna, deren Haar genauso verwirrt war wie ihr Kleid, hoben auch nur eine Hand. Nynaeve fühlte die Ströme, die mit Hilfe des Elements Luft um sie gewoben wurden, genauso wie die Schläge selbst. Sie kämpfte immer noch, zur Tür zu kommen, aber ihr wurde schlagartig klar, daß sie nun auf den Knien lag. Die Schläge hörten nicht auf. Unsichtbare Stöcke und Fäuste trommelten auf ihren Rücken, in ihren Magen, auf ihren Kopf und die Hüften, die Schultern, die Brüste, die Beine... Ächzend sackte sie zur Seite und rollte sich zusammen, um sich vor den Schlägen zu schützen. O Licht, ich habe es versucht. Egwene! Elayne! Ich habe mich bemüht. Ich werde nicht weinen! Seng mich, ihr könnt mich zu Tode prügeln, aber ich werde nicht weinen!
Die Schläge endeten aber Nynaeve konnte nicht aufhören zu zittern. Sie fühlte sich von Kopf bis Fuß zerschlagen und erledigt.
Liandrin hockte neben ihr und hatte ihre Arme um ihre Knie gelegt. Seide raschelte auf Seide. Sie hatte sich das Blut vom Mund gewischt. Ihre dunklen Augen blickten hart, und auf ihrem Gesicht lag nun kein Triumph mehr. »Vielleicht bist du zu dumm, um zu erkennen, wann du geschlagen bist, Wilde. Du hast beinahe genauso wild gekämpft wie dieses andere idiotische Mädchen, diese Egwene. Sie ist beinahe verrückt geworden. Ihr müßt alle Unterwerfung lernen. Du wirst es lernen, dich zu unterwerfen!«
Nynaeve schauderte und faßte wieder nach Saidar. Sie hatte wohl nicht viel Hoffnung, aber irgend etwas mußte sie unternehmen. Sie zwang sich trotz der Schmerzen dazu... und stieß wieder auf diese unsichtbare Wand. Nun amüsierte sich Liandrin offensichtlich wieder. Es glich dem grimmigen Vergnügen böser Kinder, die einer Fliege die Flügel ausreißen.
»Die hier brauchen wir aber bestimmt nicht mehr«, sagte Rianna, die neben Ailhuin stand. »Ich werde ihr Herz zum Stillstand bringen.« Ailhuin quollen beinahe die Augen aus dem Kopf.
»Nein!« Liandrins kurze, honigfarbene Zöpfe flogen herum, als sie sich zu Rianna umwandte. »Ihr tötet immer vorschnell, und nur der Große Herr kann mit den Toten noch etwas anfangen.« Sie lächelte die Frau an, die von unsichtbaren Banden auf ihrem Stuhl festgehalten wurde. »Ihr habt die Soldaten gesehen, die mit uns kamen, alte Frau. Ihr wißt, wer im Stein auf uns wartet: Hochlord Samon. Es wird ihm nicht gefallen, wenn Ihr von dem erzählt, was sich heute in Eurem Haus abgespielt hat. Wenn Ihr eure Zunge hütet, werdet Ihr weiterleben. Vielleicht könnt Ihr ihm eines Tages wieder einen Gefallen tun. Wenn Ihr plaudert, werdet Ihr dem Großen Herrn der Dunkelheit dienen, und zwar jenseits des Grabes. Was ist Euch lieber?«
Plötzlich konnte Ailhuin ihren Kopf wieder bewegen. Sie schüttelte die grauen Locken, und ihr Mund bewegte sich lautlos. »Ich... ich halte den Mund«, brachte sie schließlich niedergeschlagen heraus, wobei sie Nynaeve einen beschämten Blick zuwarf. »Wenn ich spreche, wem nützt das dann? Ein Hochlord kann mich köpfen lassen, indem er nur eine Augenbraue hochzieht. Was könnte ich Euch nützen, Mädchen? Was?«
»Es ist schon gut«, sagte Nynaeve erschöpft. Wem könnte sie es sagen? Alles, was sie damit erreichen würde, wäre, zu sterben. »Ich weiß, daß Ihr helfen würdet, wenn Ihr könntet.« Rianna warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Ailhuin sackte in sich zusammen, als sie endgültig freigegeben wurde, doch sie blieb einfach sitzen und starrte ihre Hände auf ihrem Schoß an.
Gemeinsam zogen Liandrin und Rianna Nynaeve auf die Beine und stießen sie in Richtung der Vorderseite des Hauses. »Wenn du uns irgendwelche Schwierigkeiten machst«, sagte die schwarzhaarige Frau mit harter Stimme, »dann zwinge ich dich, dir selbst die Haut abzuziehen und als Knochengerüst zu tanzen.«
Nynaeve hätte beinahe gelacht. Welche Schwierigkeiten könnte ich euch denn wohl bereiten? Sie war von der Wahren Quelle abgeschnitten. Ihre Prellungen schmerzten, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Was immer sie tun mochte, würde wie der Wutanfall eines Kindes unterdrückt. Aber mein Körper heilt wieder, seng Euch, und Ihr werdet auch noch einen Fehler begehen! Und wenn das geschieht...
Im vorderen Zimmer befanden sich andere Leute: zwei große Soldaten mit runden Helmen und glänzenden Brustpanzern über diesen roten Jacken mit Puffärmeln. Den beiden Männern stand der Schweiß auf der Stirn, und ihre dunklen Augen rollten, als hätten sie mindestens genauso viel Angst wie sie. Amico Nagoyin war da, schlank und hübsch mit ihrem langen Hals und der blassen Haut. Sie sah so unschuldig aus wie ein kleines Mädchen beim Blumenpflücken. Joyia Byirs Gesicht wirkte freundlich, obwohl ihre Wangen genauso glatt waren wie bei allen Frauen, die lange Zeit mit der Macht gearbeitet hatten. Sie erschien wirklich so lieb und anziehend wie eine Großmutter. Trotz ihres Alters sah man kein Grau in ihrem dunklen Haar, und ihre Haut war faltenlos. Doch ihre grauen Augen blickten drein wie die einer Stiefmutter aus dem Märchen, die gerade die Kinder ihres Mannes aus erster Ehe ermorden will. Um beide Frauen herum glühte die Macht.
Elayne stand zwischen den beiden Schwarzen Schwestern, hatte ein blaues Auge, die eine Wange war geschwollen, die Lippe aufgeplatzt, und ein Ärmel ihres Kleides war halb abgerissen. »Es tut mir leid, Nynaeve«, sagte sie mit schwerfälliger Stimme. Offensichtlich schmerzte ihr Kiefer. »Wir haben sie nicht bemerkt, bis es zu spät war.«
Egwene lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Ihr Gesicht war fast bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen. Als Nynaeve und ihre Begleiterinnen hereintraten, wuchtete gerade einer der kräftigen Soldaten Egwene auf seine Schulter. Dort hing sie so schlaff herunter wie ein halbleerer Hafersack.
»Was habt Ihr mit ihr gemacht?« wollte Nynaeve wissen. »Seng Euch, was...!« Etwas Unsichtbares schlug ihr auf den Mund, und zwar so hart, daß sie einen Moment lang fast das Bewußtsein verlor.
»Na, na«, sagte Joyia Byir mit einem Lächeln, das von ihrem Blick Lügen gestraft wurde. »Ich dulde eben keine Forderungen und keine Gossensprache.« Sie hörte sich auch an wie eine Großmutter. »Ihr sprecht nur, wenn man Euch angesprochen hat.«
»Ich habe dir doch gesagt, das Mädchen wollte nicht mit Kämpfen aufhören, klar?« sagte Liandrin. »Laß dir das eine Lehre sein. Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten machst, werden wir dich nicht anders behandeln.«
Nynaeve hätte so gern etwas für Egwene getan, aber sie ließ sich auf die Straße hinausschieben. Immerhin mußten sie sie wirklich schieben, denn passiver Widerstand war das einzige, was ihr im Moment übrig blieb.
Auf der schlammigen Straße befanden sich nur wenige Leute, als hätten sich alle entschlossen, daß es anderswo schöner sei. Die wenigen übriggebliebenen eilten auf der anderen Seite vorbei, ohne einen Blick auf die glänzende, schwarz lackierte Kutsche zu werfen, die mit einem Gespann von sechs gleich großen Schimmeln mit hohen, weißen Federbüschen auf dem Zaumzeug dort wartete. Ein Kutscher saß auf dem Bock, der gleich angezogen war wie die Soldaten, doch ohne Panzer und Schwert, während ein weiterer ihnen die Tür öffnete, als sie im Hauseingang erschienen. Vorher konnte Nynaeve allerdings noch ganz kurz das Wappen sehen, das auf die Tür gemalt war: eine Faust in silbernem Handschuh, die mehrere gezackte Blitze hielt.
Sie dachte sich, das müsse wohl das Wappen des Hochlords Samon sein. Er muß ein Schattenfreund sein, wenn er sich mit Schwarzen Ajah einläßt. Licht, verbrenne ihn! Aber ihr Hauptinteresse galt in diesem Moment dem Mann, der bei ihrem Erscheinen neben der Kutsche im Schlamm auf die Knie sank. »Seng Euch, Sandar, warum...?« Sie fuhr zusammen, als etwas wie ein Stockschlag sie zwischen den Schultern traf.
Joyia Byir lächelte mißbilligend und streckte ihren Zeigefinger mahnend hoch. »Ihr werdet mehr Respekt zeigen, Kind. Sonst verliert Ihr vielleicht Eure vorschnelle Zunge.«
Liandrin lachte. Sie fuhr mit der Hand durch Sandars Haar und riß plötzlich seinen Kopf zurück. Er blickte wie ein treuer Hund zu ihr auf — oder wie ein Straßenköter, der einen Tritt erwartet. »Geh nicht zu hart mit diesem Mann ins Gericht.« Bei ihr klang sogar das Wort ›Mann‹ eher wie ›Hund‹. »Er mußte erst... überzeugt werden, uns zu dienen. Aber ich bin doch sehr überzeugend, oder?« Wieder lachte sie.
Sandar blickte Nynaeve verwirrt an. »Ich mußte es tun, Frau Maryim. Ich... mußte.« Liandrin zog ihn am Haar und sein Blick wanderte zu ihr zurück. Er war wieder der gefügige Schoßhund.
Licht! dachte Nynaeve. Was haben sie ihm angetan? Was werden sie uns antun?
Sie und Elayne wurden grob in die Kutsche gepackt, und Egwene setzte man zwischen sie. Ihr Kopf hing immer noch schlaff herunter. Liandrin und Rianna stiegen ein und nahmen die Sitze ihnen gegenüber, die nach vorn gewandt waren. Das Glühen Saidars umgab sie nach wie vor. Nynaeve interessierte es im Augenblick überhaupt nicht, wohin die anderen gingen. Sie wollte Egwene irgendwie erreichen, sie berühren, ihre Schmerzen lindern, aber sie konnte vom Hals abwärts keinen Muskel rühren. Höchstens winden konnte sie sich. Luftströme banden die drei wie Schichten von eng um sie gewickelten Decken. Die Kutsche ruckte an. Trotz ihrer Lederfederung schwankte sie stark bei der Fahrt über die Schlammstraße.
»Wenn Ihr sie ernsthaft verletzt habt...« Licht, es ist offensichtlich, wie sie sie verletzt haben. Warum sage ich nicht offen, was ich will? Aber es war beinahe genauso schwer, die Worte aus ihr herauszupressen, wie eine Hand zu heben. »Wenn Ihr sie getötet habt, werde ich nicht ruhen, bis man Euch alle wie tolle Hunde gejagt und getötet hat!«
Rianna funkelte sie zornig an, aber Liandrin schniefte nur. »Sei keine komplette Närrin, Wilde. Man will euch lebend. Mit einem toten Köder fängt man keinen Fisch.«
Köder? Wofür? Für wen? »Ihr seid die Närrin, Liandrin! Glaubt Ihr, daß wir allein hier sind? Nur wir drei, und noch nicht einmal ausgebildete, fertige Aes Sedai? Wir sind allerdings Köder, Liandrin. Und Ihr seid wie die fetten Moorhühner in die Falle gegangen.«
»Erzähle ihr nichts davon«, fauchte Elayne, und Nynaeve zwinkerte erschrocken, bevor ihr klar wurde, daß Elayne ihr Täuschungsmanöver unterstützen wollte. »Wenn du dich wieder von deinem Zorn hinreißen läßt, wirst du ihnen noch erzählen, was sie nicht hören sollen. Sie müssen uns in den Stein bringen. Sie müssen... «
»Halt den Mund«, fuhr Nynaeve sie an. »Du solltest die eigene Zunge besser hüten!« Elayne brachte es fertig, trotz ihres blauen Auges zerknirscht dreinzublicken. Laß sie das erst mal schlucken, dachte Nynaeve.
Aber Liandrin lächelte nur. »Wenn ihr euren Zweck als Köder erfüllt habt, werdet ihr uns alles sagen. Ihr werdet es sogar gern tun. Man sagt, daß ihr eines Tages sehr stark sein werdet, aber ich werde sichergehen, daß ihr mir gehorcht, und zwar noch bevor der Große Herr Be'lal euch in seine Pläne einbezieht. Er läßt gerade Myrddraal holen. Dreizehn.« Diese Rosenblattlippen lachten die letzten Worte heraus.
Nynaeve drehte es den Magen um. Einer der Verlorenen! Ihr Gehirn war ganz benommen von dem Schock. Der Dunkle König und alle Verlorenen sind im Shayol Ghul gefangen, vom Schöpfer im Augenblick der Schöpfung dort gebunden. Aber der Katechismus half nicht. Sie wußte nur zu gut, wieviel daran nicht stimmte. Dann drang ihr der Rest ins Bewußtsein. Dreizehn Myrddraal. Und dreizehn Schwestern von den Schwarzen Ajah. Sie hörte Elayne schreien, bevor ihr noch klar wurde, daß auch sie schrie und sich umsonst gegen diese unsichtbaren Fesseln aus Luft aufbäumte. Man konnte unmöglich feststellen, was lauter war: ihre verzweifelten Schreie oder das Lachen Liandrins und Riannas.