1 Warten

Das Rad der Zeit dreht sich, und die Zeitalter kommen und gehen, hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden, diese wieder verblassen zu bloßen Mythen und sind längst vergessen, wenn das Zeitalter, das sie hervorbrachte, wiederkehrt. In einem Zeitalter, von einigen das Dritte genannt, einem Zeitalter, das noch kommen wird und das schon lange vergangen ist, erhob sich ein Wind in den Bergen des Verderbens. Der Wind stand nicht am Anfang. Es gibt weder Anfang noch Ende, wenn sich das Rad der Zeit dreht. Aber es war ein Beginn.

Der Wind fegte durch lange Täler, Täler, in denen der Morgendunst blau und feucht hing, einige mit Nadelbäumen bewaldet, andere noch kahl, doch bald würden Gras und erste Bergblumen sprießen. Er heulte über halb im Boden versunkene Ruinen und verwitterte Denkmäler, genauso von der Welt vergessen wie diejenigen, die sie einst erbauten. Er seufzte durch Pässe, verwitterte Einschnitte zwischen ewig mit Schnee bedeckten Gipfeln. Dichte Wolken hingen an den Gipfeln, so daß es schien, als seien Schnee und Wolken eins.

Im Tiefland war der Winter schon vorbei, aber hier auf den Höhen hielt er sich noch und sprenkelte große, weiße Flecken über die Abhänge. Nur die Nadelbäume oder die Lederblätter waren grün; die anderen alle zeigten kahle, braune oder graue Äste und hoben sich kaum von den Felsen oder den noch wintergelben Wiesen ab. Man hörte keinen Laut außer dem Rauschen des Windes über Schnee und Fels. Das Land schien zu warten. Es wartete darauf, daß irgend etwas ausbrach.

Perrin Aybara saß auf seinem Pferd am inneren Rand eines Dickichts aus Lederblattbäumen und Kiefern und zog, vor Kälte zitternd, seinen pelzbesetzten Umhang enger um sich zusammen. Das war schwierig, denn er hielt den Langbogen in einer Hand, und an seinem Gürtel hing seine große Axt mit ihrer halbmondförmigen Schneide. Es war eine gute Axt — aus kaltem Stahl gefertigt. Perrin hatte den Blasebalg bedient, als Meister Luhhan sie schmiedete. Der Wind zupfte an seinem Umhang und zerrte die Kapuze von den lockigen, zerzausten Haaren. Er drang sogar noch durch den Stoff seines Mantels. Er bewegte die Zehen in den Stiefeln, um sie etwas aufzuwärmen, und rutschte auf dem an beiden Seiten hochgezogenen Kampfsattel umher. Aber es war nicht die Kälte, an die er gerade dachte. Er musterte seine fünf Begleiter und fragte sich, ob auch sie es spürten. Es war nicht das Warten, nein, irgend etwas anderes lag in der Luft.

Traber, sein Pferd, bewegte sich unruhig und warf den Kopf hoch. Er hatte den braunen Hengst seiner Lieblingsgangart wegen so genannt. Nun schien Traber die Unruhe und Ungeduld seines Reiters zu spüren. Ich habe genug von dem ewigen Warten. Immer dasitzen, und Moiraine halt uns so kurz, wie es nur geht. Verseng die Aes Sedai! Wann ist endlich Schluß mit der Warterei?

Er sog den Wind ein. Der Geruch nach Pferden herrschte vor, und nach Männern und deren Schweiß. Vor nicht allzu langer Zeit war ein Kaninchen zwischen diesen Bäumen durchgehoppelt. Es mußte offensichtlich Angst gehabt haben, doch der Fuchs auf seiner Spur hatte es hier jedenfalls noch nicht getötet. Ihm wurde klar, was er da tat, und er hielt inne. Man sollte denken, bei diesem Wind müßte meine Nase verstopft sein. Er wünschte es sich beinahe. Und ich würde sie ganz gewiß nicht von Moiraine behandeln lassen. Irgend etwas kitzelte seinen Geist. Er weigerte sich, das Gefühl zu akzeptieren. Er erwähnte es seinen Gefährten gegenüber nicht.

Auch die fünf anderen Männer saßen aufbruchbereit auf ihren Pferden, hatten den kurzen Reiterbogen in der Hand und beobachteten sowohl die dünn bewaldeten Abhänge unter ihnen wie auch den Himmel über ihnen. Der Wind, der ihre Umhänge wie Fahnen flattern ließ, schien sie nicht zu stören. Durch einen Schlitz im Umhang ragte über die Schultern jedes Mannes der Griff eines Zweihandschwertes auf. Beim Anblick ihrer bis auf den Haarknoten in der Mitte kahlgeschorenen Köpfe wurde Perrin die Kälte noch mehr bewußt. Für sie war das bereits ein echtes Vorfrühlingswetter. Alles Weiche war von einem härteren Schmied, als er je einen kennengelernt hatte, aus ihnen herausgehämmert worden. Sie waren Schienarer aus den Grenzlanden oben am Rand der Großen Fäule, wo jede Nacht Trolloc-Überfälle drohten und selbst ein Bauer oder Händler gezwungen sein konnte, zum Schwert oder zum Bogen zu greifen. Und diese Männer waren gewiß keine Bauern, sondern von klein auf zu Soldaten erzogen worden.

Er fragte sich manchmal, wieso sie ihn eigentlich in diesem Maße anerkannten und seine Führung hinnahmen. Es war, als hielten sie es für sein ganz besonderes Recht, als wisse er einiges, was ihnen selbst verborgen blieb. Oder es sind einfach meine Freunde, dachte er bescheiden. Sie waren nicht so groß und kräftig gebaut wie er — die Jahre als Lehrling in einer Schmiede hatten ihm Schultern und Arme verliehen, die sonst für zwei Männer gereicht hätten —, aber mittlerweile hatte er angefangen, sich jeden Tag zu rasieren, damit sie ihn nicht immer wegen seiner Jugend verspotteten. Es waren wohl freundliche Scherze, aber sie trafen ihn dennoch. Nein, er ließ das am besten gar nicht mehr aufkommen, indem er ihnen jetzt von seinem unbestimmten Gefühl erzählte.

Aufschreckend wurde Perrin klar, daß er ja auch Wache halten mußte. Er überprüfte kurz den Pfeil, den er schußbereit aufgelegt hatte, und spähte das nach Westen verlaufende Tal hinunter. Es wurde weiter unten breiter. Breite Schneebänder zogen sich im Hangprofil gekrümmt an der nördlichen Seite entlang. Der Winter war noch nicht vergessen. Die meisten der verstreuten Bäume dort unten reckten noch immer kahle Äste dem Himmel entgegen, aber an den Hängen und auch auf der Talsohle standen genug immergrüne Bäume — Kiefer und Lederblatt, Tanne und Bergholunder und sogar ein paar hochaufragende Grünholzbäume —, um demjenigen Deckung zu geben, der es auszunützen wußte. Aber hierher kam man auch nur, wenn man einen besonderen Grund hatte. Die Bergwerke befanden sich weit im Süden oder eben noch weiter nördlich. Die meisten Menschen glaubten, es brächte Unglück, die Verschleierten Berge zu betreten, und wer es vermeiden konnte, kam nicht hierher. Perrins Augen glitzerten in mattem Gold.

Aus dem Kitzeln wurde ein starkes Jucken. Nein!

Er konnte das Gefühl verdrängen, aber die gespannte Erwartung blieb. Als wandle er dicht an einem Abgrund. Als schwanke alles um ihn herum. Er fragte sich, ob in den Bergen etwas Unangenehmes auf sie warte. Vielleicht gab es einen Weg, das festzustellen. An Orten wie diesen, wo nur selten Menschen zu sehen waren, lebten zumeist Wölfe. Er unterdrückte den Gedanken, bevor er übermächtig wurde. Besser, nichts Genaues zu wissen. Immer noch besser als das. Es waren sicher nicht viele, aber sie hatten ihre Kundschafter. Falls sich da draußen irgend etwas tat, würden die es herausfinden. Das ist meine Schmiede. Hier schüre ich das Feuer. Laß sie sich um ihr eigenes Feuer kümmern. Er sah besser als die anderen, und so war er der erste, der den Reiter entdeckte. Er kam aus der Richtung von Tarabon. Selbst für ihn war der Reiter nur ein bunter Farbklecks auf einem Pferd, der sich in großer Entfernung zwischen den Bäumen durchwand, einmal sichtbar und dann wieder nicht. Ein geschecktes Pferd, dachte er. Und nicht zu früh! Er öffnete den Mund, um es den anderen mitzuteilen — natürlich würde es wie jeder Reiter zuvor eine Frau sein —, als Masema plötzlich wie einen Fluch das Wort »Rabe!« knurrte.

Perrin riß es den Kopf hoch. Ein großer schwarzer Vogel schwebte keine hundert Schritt entfernt über den Baumwipfeln. Er spähte vielleicht nach irgendeinem kleinen Tier oder einem Stück Aas im Schnee, doch Perrin konnte kein Risiko eingehen. Er schien sie nicht entdeckt zu haben, aber der sich nähernde Reiter würde bald in seinem Sichtbereich auftauchen. So hob er noch beinahe im gleichen Augenblick den Bogen, zog den Pfeil mit seinen Federn bis an seine Wange, sein Ohr, und schoß ihn mit einer fließenden Bewegung ab. Er war sich undeutlich den Summens weiterer Bogensehnen bewußt, doch seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Vogel.

Plötzlich überschlug sich der in einem Regen mitternachtsfarbener Federn, als sein Pfeil ihn traf. Er taumelte vom Himmel herab, und gleichzeitig zischten zwei weitere Pfeile dort vorbei, wo er sich gerade noch befunden hatte. Mit leicht gesenkten Bögen suchten die anderen Schienarer den Himmel ab, ob sich noch weitere Raben zeigten.

»Muß er ihm berichten«, fragte Perrin leise, »oder sieht... er... durch seine Augen?« Die Frage war nicht für die Ohren der anderen bestimmt gewesen, aber Ragan, der jüngste der Schienarer, nur etwa zehn Jahre älter als er, antwortete, während er einen neuen Pfeil bei seinem kurzen Bogen auflegte.

»Er muß berichten. Gewöhnlich einem Halbmenschen.« In den Grenzlanden wurde für das Erlegen von Raben eine Prämie bezahlt. Keiner dort wagte es, anzunehmen, daß ein Rabe einfach nur ein Vogel sei. »Licht, wenn Herzbann auch noch sehen könnte, was immer die Raben sehen, dann wären wir schon tot gewesen, bevor wir die Berge erreichten.« Ragan sagte das so leichthin; für einen schienarischen Soldaten war das alltäglich.

Perrin schauderte, und das kam nicht von der Kälte. In seinem Hinterkopf knurrte irgend jemand eine Herausforderung auf Leben und Tod. Herzbann. Verschiedene Namen in verschiedenen Ländern — Seelenbann und Herzfang, Herr der Gräber und Herr des Zwielichts — und überall die Namen ›Vater der Lügen‹ und der ›Dunkle König‹. Alles, um zu vermeiden, ihn beim richtigen Namen zu nennen und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Dunkle König sandte oft Raben und Krähen und in den Städten Ratten aus. Perrin zog einen weiteren Pfeil mit breiter Spitze aus dem Köcher an der Hüfte gegenüber seiner Axt.

»Der ist zwar so groß wie ein Knüppel«, meinte Ragan mit einem bewundernden Blick auf Perrins Bogen, »aber er kann vielleicht schießen! Ich möchte nicht sehen, was er einem Mann in voller Rüstung antun kann.« Die Schienarer trugen zur Zeit nur leichte Kettenhemden unter den Mänteln, aber normalerweise kämpften sie in Rüstungen und ihre Pferde trugen metallbeschlagene Decken.

»Zu lang für einen Reiter«, spottete Masema. Die dreieckige Narbe auf seiner dunklen Wange ließ sein Grinsen noch verächtlicher wirken. »Ein guter Brustpanzer hält jeden Pfeil ab, außer bei ganz kurzer Entfernung, und wenn dein erster Schuß danebengeht, wird der Mann, auf den du geschossen hast, dir den Bauch aufschlitzen.«

»Das ist es ja gerade, Masema.« Ragan entspannte sich ein wenig, da der Himmel leer geblieben war. Der Rabe mußte ein Einzelgänger gewesen sein. »Mit diesem Zwei-Flüsse-Bogen muß man halt nicht so nahe dran sein, wetten?« Masema öffnete den Mund.

»Ihr beiden, hört auf, eure blutigen Zungen zu wetzen!« fauchte Uno. Seine Gesichtszüge wirkten selbst für einen Schienarer hart — mit der langen Narbe über der linken Gesichtshälfte und dem fehlenden Auge. Auf ihrem Weg in die Berge hatte er sich im Herbst eine bunte Augenklappe zugelegt, doch das immer finster dreinblickende, aufgemalte feuerrote Auge half nicht, daß man seinen Blick leichter ertragen konnte. »Wenn ihr euren blutigen Verstand nicht bei eurer blutigen Aufgabe haltet, dann sorge ich dafür, daß ihr durch sengende Extrawachen heute nacht blutig beruhigt werdet.« Ragan und Masema gaben unter seinem Blick Ruhe. Er sah sie noch einmal finster an und wandte sich dann wieder etwas freundlicher Perrin zu. »Siehst du schon irgend etwas?« Sein Tonfall war vielleicht ein wenig rauher als einem Kommandanten gegenüber, dem ihn der König von Schienar oder der Herr von Fal Dara unterstellt hätte, aber es lag doch eine gewisse Bereitschaft darin, zu tun, was immer Perrin vorschlug.

Die Schienarer wußten, wie weit er sehen konnte, aber sie nahmen es ganz selbstverständlich hin, genauso wie seine Augenfarbe. Natürlich kannten sie noch nicht einmal die halbe Wahrheit, aber sie nahmen ihn so, wie er war. Wie sie dachten, daß er sei. Sie schienen überhaupt alles hinzunehmen. Die Welt verändert sich, sagten sie. Alles drehte sich mit den Rädern des Zufalls und der Veränderung. Wenn ein Mann Augen hatte, deren Farbe noch nie zuvor bei einem Menschen aufgetaucht war, nun ja, was hatte das schon zu bedeuten?

»Sie kommt«, sagte Perrin. »Ihr solltet sie jetzt auch sehen können. Dort!« Er deutete hinüber. Uno beugte sich vor, und sein Auge zog sich angestrengt zusammen. Dann nickte er zweifelnd.

»Da bewegt sich verflucht noch mal etwas.« Einige der anderen nickten und murmelten zustimmend. Uno funkelte sie an, und sie kehrten zu ihrer eigentlichen Beschäftigung zurück, Himmel und Berge zu beobachten. Plötzlich wurde Perrin klar, was die lebhaften Farben an der entfernten Reiterin zu bedeuten hatten. Ein leuchtend grüner Rock lugte unter einem hellroten Umhang hervor. »Sie gehört zum Fahrenden Volk«, sagte er überrascht. Niemand sonst kleidete sich in solch leuchtende Farben und eigenartige Zusammenstellungen, jedenfalls nicht freiwillig.

Unter den Frauen, die sie manchmal getroffen und tiefer in die Berge geleitet hatten, war so ziemlich jede Sorte gewesen: eine Bettlerin in Lumpen, die sich zu Fuß durch den Schneesturm kämpfte, eine Händlerin, die ganz allein eine Schar von beladenen Packpferden führte, eine Lady in Seide und Pelzen, die auf einem goldverzierten Damensattel saß und ihr Pferd mit rotbefransten Zügeln leitete... Die Bettlerin zog mit einem Beutel Silber weiter — mehr als sie sich nach Perrins Meinung zu geben leisten konnten —, bis die Lady mit einem noch fetteren Beutel Gold abreiste. Frauen in jeder Lebenslage, aus Tarabon und Ghealdan und sogar aus Amadicia. Doch er hatte nicht erwartet, eine der Tuatha'an hier zu treffen.

»Eine verdammte Kesselflickerin?« rief Uno. Die anderen teilten seine Überraschung.

Ragans Haarknoten wackelte, als er den Kopf schüttelte. »Ein Kesselflicker läßt sich doch nicht in so was verwickeln! Entweder sie gehört nicht zu ihnen, oder es ist nicht diejenige, die wir erwarten.«

»Kesselflicker«, grollte Masema. »Nutzlose Feiglinge.«

Unos Auge zog sich zusammen, bis es wie das Schaftloch eines Ambosses wirkte. Zusammen mit dem roten aufgemalten Auge auf seiner Augenklappe verlieh ihm das das Aussehen eines rechten Schurken. »Feiglinge, Masema?« fragte er leise. »Wenn du eine Frau wärst, hättest du den verfluchten Mut, allein und verdammt noch mal unbewaffnet hier heraufzureiten?« Es gab keinen Zweifel daran, daß sie unbewaffnet war, wenn sie zu den Tuatha'an gehörte. Masema hielt den Mund, doch die Narbe auf seiner Wange trat straff und blaß hervor.

»Seng mich, wenn ich das wagte«, sagte Ragan. »Und seng mich, wenn du den Mut hättest, Masema.« Masema zupfte an seinem Umhang und suchte auffällig konzentriert den Himmel ab.

Uno schnaubte. »Das Licht gebe, daß der verdammte Aasfresser verflucht noch mal allein war«, murmelte er.

Langsam wand sich die zerzauste, braunweiße Stute zwischen den Bäumen hindurch näher heran. Sie suchte sich ihren Weg dort, wo der Boden zwischen breiten Schneewehen bereits schneefrei war. Einmal ließ die buntgekleidete Frau ihr Pferd anhalten und betrachtete etwas auf dem Boden. Dann zog sie die Kapuze ihres Umhangs ein Stückchen weiter nach vorn und brachte ihr Pferd mit Fersendruck zum langsamen Weitergehen. Der Rabe, dachte Perrin. Sieh diesen Vogel nicht an, Frau, sondern reite lieber weiter. Vielleicht hast du eine Nachricht für uns, die uns endlich hier herausbringt. Falls uns Moiraine hier wegläßt, bevor es wirklich Frühling ist. Seng sie! Einen Augenblick lang war er selbst nicht sicher, ob er damit die Aes Sedai meinte oder die Kesselflickerfrau, die sich viel Zeit zu nehmen schien.

Wenn sie so weitermachte, würde die Frau gute dreißig Schritt entfernt von ihnen auf der anderen Seite des Dickichts vorbeikommen. Sie sah unverwandt dorthin, wo ihre scheckige Stute ausschritt, und ließ sich nicht anmerken, ob sie sie zwischen den Bäumen erspäht hatte.

Perrin stupste die Flanken des Hengstes sanft mit den Fersen und der Braune sprang vorwärts. Unter seinen Hufen stob der Schnee auf. Hinter ihm befahl Uno leise: »Vorwärts!«

Traber war auf dem halben Weg zu ihr, als sie ihrer schließlich gewahr wurde. Sie riß am Zügel ihrer Stute, so daß sie abrupt stehenblieb. Sie beobachtete sie, als die Schienarer einen Kreis um sie bildeten. Ihr roter Umhang wirkte noch greller durch die leuchtendblauen Stickereien nach einem Muster, das sich Tairen-Labyrinth nannte. Sie war nicht mehr jung. Wo ihr Haar nicht von der Kapuze verborgen wurde, war es fast ganz grau. Ihr Gesicht aber wies kaum Falten auf, außer den kritischen Runzeln auf der Stirn beim Anblick ihrer Waffen. Falls sie erschrocken darüber war, hier im Herz der Bergwildnis bewaffnete Männer anzutreffen, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Ihre Hände ruhten entspannt auf dem Horn ihres alten, aber gepflegten Sattels. Und sie roch auch nicht nach Angst.

Hör auf damit! sagte sich Perrin. Er sprach mit sanfter Stimme, um sie nicht zu erschrecken: »Ich heiße Perrin, gute Frau. Wenn Ihr Hilfe benötigt, werde ich tun, was ich kann. Falls nicht, dann geht im Licht. Doch wenn die Tuatha'an ihre Sitten nicht plötzlich geändert haben, seid Ihr weit von Euren Wagen entfernt!«

Sie musterte sie einen Augenblick lang, bevor sie antwortete. In ihren dunklen Augen lag eine Sanftheit, die bei einer vom Fahrenden Volk nicht überraschte. »Ich suche eine... eine Frau.«

Das Zögern war nur kurz, aber unüberhörbar. Sie suchte nicht nach irgendeiner Frau, sondern nach einer Aes Sedai. »Wie heißt sie denn, gute Frau?« fragte Perrin. Er hatte das in den letzten Monaten zu oft fragen müssen, um die Antwort nicht schon im voraus zu kennen, aber er mußte sich eben alle Mühe geben.

»Sie heißt... Manchmal nennt sie sich Moiraine. Ich heiße Leya.«

Perrin nickte. »Wir werden Euch zu ihr bringen, Frau Leya. Wir haben warme Feuer, und mit etwas Glück gibt es ein heißes Mahl.« Doch er hob die Zügel noch nicht gleich. »Wie habt Ihr uns gefunden?« Er hatte das auch früher schon gefragt — jedesmal, wenn Moiraine ihn zu einem bestimmten Punkt aussandte, um auf eine Frau zu warten, von der sie wußte, daß sie kommen würde. Die Antwort würde die gleiche sein wie immer, aber er mußte die Frage stellen.

Leya zuckte die Achseln und antwortete zögernd: »Ich... wußte, wenn ich hier weiterreite, dann findet mich irgend jemand und bringt mich zu ihr. Ich... wußte es einfach. Ich habe Nachrichten für sie.«

Perrin fragte nicht weiter danach. Die Frauen gaben ihre Informationen ausschließlich an Moiraine weiter. Und die Aes Sedai teilt uns ihre Wünsche mit. Er dachte darüber nach. Die Aes Sedai logen niemals aber man sagte, die Wahrheit einer Aes Sedai sei nicht immer die gleiche Wahrheit, die man selbst sah. Zu spät, jetzt noch einen Rückzieher machen zu wollen, oder?

»Hier entlang, Frau Leya«, sagte er und deutete den Hang hinauf. Die Schienarer mit Uno an der Spitze reihten sich hinter Perrin und Leya ein, als sie hinaufritten. Die Soldaten aus den Grenzlanden beobachteten noch immer den Himmel genauso wie das Land, und die beiden am Ende beobachteten den Weg, den sie gekommen waren, mit besonderer Sorgfalt.

Eine Weile lang ritten sie schweigend dahin. Nur die Pferdehufe knirschten manchmal auf dem alten Schneebelag, und manchmal rissen sie Steinbrocken los, die an kahlen Stellen hinunterpolterten. Von Zeit zu Zeit musterte Leya Perrin, seinen Bogen, seine Axt und sein Gesicht, doch sie sagte nichts. Er rutschte unsicher unter ihrer Musterung im Sattel umher und vermied es, sie anzusehen. Er gab Fremden nie gern Gelegenheit, seine Augenfarbe zu entdecken.

Schließlich sagte er: »Ich war überrascht, eine vom Fahrenden Volk hier zu sehen. Es kann doch eigentlich Eurem Glauben nicht entsprechen, oder?«

»Es ist durchaus möglich, das Böse zu bekämpfen, ohne dabei Gewalt anzuwenden.« Ihre Stimme klang, als spräche sie lediglich eine offensichtliche Wahrheit aus.

Perrin grunzte säuerlich und murmelte dann sogleich eine Entschuldigung: »Wäre es nur wirklich so, wie Ihr sagt, Frau Leya.«

»Gewalt schadet dem Anwender genauso wie dem Opfer«, sagte Leya gelassen. »Deshalb fliehen wir vor denen, die uns schaden wollen — sowohl, um sie davor zu bewahren, sich selbst zu schaden, wie auch, um uns vor dem Schaden zu bewahren. Wenn wir Gewalt anwenden, um uns vor dem Bösen zu schützen, unterscheiden wir uns bald nicht mehr von denen, die wir bekämpfen. Wir bekämpfen den Schatten mit der Kraft unseres Glaubens.«

Perrin konnte nicht anders, er mußte schnauben. »Frau Leya, ich hoffe, Ihr werdet niemals Trollocs nur mit der Kraft Eures Glaubens bewaffnet gegenüberstehen. Die Kraft ihrer Schwerter wird Euch auf dem Fleck niedermetzeln.«

»Es ist besser, zu sterben, als...«, begann sie, doch der Zorn ließ ihn ihre Worte unterbrechen. Zorn, weil sie es einfach nicht einsehen wollte. Zorn, weil sie lieber sterben würde, als jemanden zu verletzen, gleich, wie böse er auch sei.

»Wenn Ihr weglauft, dann jagen und töten sie Euch und essen Eure Leiche auf. Oder sie warten erst gar nicht, bis Ihr eine Leiche seid. In jedem Fall seid Ihr tot, und das Böse hat gesiegt. Und es gibt Menschen, die genauso grausam sind. Schattenfreunde und andere. Mehr, als ich noch vor einem Jahr geglaubt hätte. Laßt die Weißmäntel zu der Entscheidung kommen, daß Ihr Kesselflicker nicht im Licht wandelt, und dann seht, wie viele von Euch die Kraft Eures Glaubens am Leben halten kann.«

Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Und doch werdet auch Ihr eurer Waffen nicht froh.«

Woher wußte sie das? Er schüttelte ungeduldig den Kopf, daß sein zerzaustes Haar flog. »Der Schöpfer hat die Welt geschaffen und nicht ich«, murmelte er. »Ich muß eben auf dieser Welt so leben, wie ich kann.«

»So traurig in diesem jungen Alter«, sagte sie leise.

»Warum so traurig?«

»Ich sollte aufpassen und nicht quatschen«, sagte er kurz angebunden. »Ihr werdet es mir nicht danken, wenn wir uns verirren.« Er ließ Traber die Fersen spüren, um eine weitere Unterhaltung abzublocken, doch er fühlte ihren Blick auf sich ruhen. Traurig? Ich bin nicht traurig, nur... Licht, ich weiß selbst nicht. Sie sollten halt einen besseren Weg finden, das ist alles. Wieder juckte es in seinem Hinterkopf, aber da er bereits damit beschäftigt war, Leyas Blick zu ignorieren, ignorierte er auch das. Sie ritten über den Bergkamm und wieder hinunter durch ein bewaldetes Tal mit einem breiten, kalten Bach auf der Sohle. Das Wasser reichte den Pferden bis an die Knie. In der Ferne konnten sie einen Felsabhang sehen, den man in der Form von zwei hoch aufragenden Gestalten behauen hatte. Perrin meinte, es könne sich um einen Mann und eine Frau handeln, obwohl Wind und Regen längst die Unterschiede ausgeglichen hatten. Selbst Moiraine behauptete, sie wisse nicht, wer sie gewesen sein mochten oder wann man sie in den Granit gehauen hatte.

Schleien und kleine Forellen flüchteten vor den Hufen der Pferde — silberne Blitze im klaren Wasser. Ein Hirsch blickte vom Trinken auf, zögerte, als die Gesellschaft aus dem Bach herausritt, und setzte dann mit langen Sprüngen fort ins Dickicht. Eine große, graugestreifte Bergkatze mit schwarzen Flecken schien sich dahinter aus dem Boden zu schieben. Sie war offensichtlich im Anschleichen gestört worden. Sie beäugte einen Moment lang die Pferde, schlug kurz mit dem Schwanz und jagte dann hinter dem Hirsch her. Andererseits sah man hier in den Bergen noch nicht viel Leben. Nur eine Handvoll Vögel saßen auf Zweigen oder pickten am Boden, dort, wo der Schnee geschmolzen war. Weitere würden in ein paar Wochen auf die Höhen zurückkehren, aber eben jetzt noch nicht. Sie sahen keine weiteren Raben.

Es war schon später Nachmittag, als Perrin sie zwischen zwei steilen Berghängen hindurchführte. Die verschneiten Gipfel lagen wie immer in Wolken gehüllt. Ein kleiner Bach plätscherte in mehreren Stufen über graue Felsen herunter. In den Bäumen sang ein Vogel, und von weiter vorn her antwortete ihm ein anderer.

Perrin lächelte. Das Signal eines Blaufinken. Das war ein typischer Vogel aus den Grenzlanden. Keiner ritt hier entlang, ohne entdeckt zu werden. Er rieb sich die Nase und sah den Baum nicht an, von dem der erste ›Vogel‹ gesungen hatte.

Der Pfad wurde schmaler. Sie ritten an gekrümmten Lederblattbäumen und ein paar geduckten Bergeichen vorbei. Der einigermaßen ebene Boden neben dem Bach war ein nur etwa pferdebreiter Streifen, und der Bach selbst war auch nicht breiter als ein großer Schritt. Perrin hörte, wie Leya hinter ihm etwas in sich hineinmurmelte. Als er sich nach ihr umsah, warf sie besorgte Blicke auf die steilen Abhänge zu beiden Seiten. Vereinzelte Bäume klebten über ihnen am Steilhang. Es schien unmöglich, daß sie nicht abstürzen würden. Die Schienarer ritten endlich wieder entspannt dahin.

Mit einem Mal öffnete sich eine tiefe, ovale Mulde zwischen den Abhängen vor ihnen. Ihre Seiten waren steil, doch lange nicht so gefährlich, wie die des engen Weges, auf dem sie sich befunden hatten. Am hinteren Ende der Mulde lag die Quelle des Baches. Perrins scharfe Augen machten einen Mann mit dem Haarknoten eines Schienarers aus, der zu ihrer Linken oben im Geäst einer Eiche saß. Wäre der Ruf eines roten Hähers erklungen statt eines Blaufinken, dann wäre er dort oben nicht allein und der Weg in die Mulde blockiert gewesen. Eine Handvoll Männer konnte diesen Eingang gegen eine ganze Armee verteidigen. Falls eine Armee kam, würde tatsächlich eine Handvoll Männer so etwas vollbringen müssen.

Unter den Bäumen am Rand der Mulde standen Blockhütten so gut verborgen, daß die um die Lagerfeuer versammelten Männer zunächst schutzlos am Boden zu sitzen schienen. Weniger als ein Dutzend waren zu sehen. Und außerhalb ihres Gesichtsfeldes befanden sich auch nicht viel mehr; das wußte Perrin. Die meisten blickten sich um, und einige winkten, als sie den Hufschlag hörten. Die Mulde war voll vom Geruch der Pferde und Männer, des in den Kesseln brutzelnden Essens und des lodernden Holzes. Eine lange, weiße Flagge hing schlaff von einem hohen Mast in der Nähe. Eine Gestalt, die mindestens noch einmal alle anderen um die Hälfte überragte, saß auf einem Baumstamm und war ganz in ein Buch vertieft, das klein in zwei riesigen Händen lag. Die Aufmerksamkeit dieser Gestalt konnte offensichtlich nichts ablenken, nicht einmal der Ruf der einzigen anderen Person ohne einen Haarknoten: »Also habt ihr sie gefunden, ja? Ich dachte, diesmal braucht Ihr noch die Nacht über.« Es war die Stimme einer jungen Frau, doch sie trug den Mantel und die Hosen eines Mannes und hatte die Haare kurz geschnitten.

Ein Windstoß fuhr in die Mulde, ließ die Umhänge flattern, und die Flagge blähte sich zur vollen Länge. Einen Augenblick lang schien es, als ritte das Wesen darauf auf dem Wind mit: eine vierbeinige Schlange mit goldenen und blauen Schuppen, einer goldenen Löwenmähne und fünf goldenen Klauen an jedem Fuß. Eine legendäre Flagge. Die meisten Männer würden sie gar nicht erkennen, aber wenn sie ihren Namen hörten, würden sie ihn fürchten.

Perrin umfaßte das alles mit einer ausschweifenden Handbewegung, während er sie hinunterführte. »Willkommen im Lager des Wiedergeborenen Drachen, Leya.«


Загрузка...