38 Töchter des Speers

Egwene griff nach Saidar, bevor der Schrei ihre Kehle verlassen hatte, und sie bemerkte das gleiche Glühen auch an Elayne. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob Ellisor ihre Schreie gehört hatte und Hilfe ausschicken würde. Der Blaue Kranich befand sich kaum mehr als eine Meile flußaufwärts von ihnen entfernt. Dann war ihr klar, daß sie keine Hilfe benötigten. Sie verwob bereits die Ströme von Luft und Feuer zu einem Blitz. Sie hatte noch immer ihr eigenes Schreien im Ohr.

Nynaeve stand einfach nur da, hatte die Arme unter der Brust verschränkt und einen strengen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Egwene wußte nicht, ob das der Fall war, weil sie nicht zornig genug war, um die Wahre Quelle berühren zu können, oder weil sie bereits gesehen hatte, was Egwene nun erst klar wurde: Die Person, die ihnen gegenüberstand, war eine Frau, kaum älter als sie selbst und nur ein wenig größer.

Sie ließ vorsichtshalber Saidar nicht gleich wieder fahren. Männer waren manchmal dumm genug, zu glauben, eine Frau sei harmlos, weil sie eben eine Frau war. Solche Illusionen hatte Egwene nicht. Mit einem Winkel ihres Verstands registrierte sie, daß Elayne nicht mehr von dem Glühen umgeben war. Die Tochter-Erbin hatte wohl immer noch naive Vorstellungen. Sie war ja auch keine Gefangene der Seanchan.

Egwene hielt allerdings auch die meisten Männer nicht für so dumm, zu glauben, die Frau vor ihnen sei ungefährlich, da ihre Hände leer waren und sie keine sichtbare Waffe trug. Blaugrüne Augen und rötliches, kurzgeschnittenes Haar mit nur einem dünnen, langen Pferdeschwanz, der ihr bis auf eine Schulter hing, weiche, hochgeschnürte kniehohe Stiefel, ein enger Mantel und ebenso enge Hosen, und das alles in den Farben der Erde und des Gesteins. Man hatte ihr einst diese Farben und dieses Aussehen beschrieben: Diese Frau war eine Aiel.

Als sie die Frau musterte, fühlte sich Egwene ganz eigenartig zu ihr hingezogen. Das verstand sie selbst nicht. Vielleicht, weil sie wie eine Cousine von Rand wirkt. Aber nicht einmal dieses Gefühl, beinahe verwandt zu sein, konnte ihre Neugier befriedigen. Was beim Licht tun denn Aiel hier? Sie verlassen doch sonst ihre Wüste nicht, jedenfalls nicht seit dem Aiel-Krieg. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gehört, wie tödlich die Aiel seien — diese Töchter des Speers nicht weniger als die Mitglieder der männlichen Kriegergemeinschaften —, doch nun fürchtete sie sich überhaupt nicht und ärgerte sich nur darüber, im ersten Moment Angst empfunden zu haben. Wenn Saidar den Strom der Macht durch sie lenkte, dann mußte sie sich vor nichts fürchten. Außer vor einer voll ausgebildeten Schwester, räumte sie sich selbst ein. Aber sicher nicht vor einer anderen Frau, selbst wenn sie eine Aiel ist.

»Ich heiße Aviendha«, sagte die Aiel-Frau, »und komme von der Bitteres-Wasser-Septime der Taardad Aiel.« Ihr Gesichtsausdruck war genauso ausdruckslos und unlesbar wie ihre Stimme. »Ich bin eine Far Dareis Mai, eine Tochter des Speers.« Sie schwieg einen Augenblick lang und musterte sie. »Eure Gesichter sehen zwar nicht so aus, aber wir sahen Eure Ringe. In Euren Landen habt Ihr Frauen, so wie unsere Weisen Frauen zu Hause. Ihr nennt sie Aes Sedai. Seid Ihr Frauen aus der Weißen Burg oder nicht?«

Einen Moment lang wurde Egwene nervös. Wir? Sie sah sich genau um, konnte aber niemand hinter irgendeinem der Büsche im Umkreis von zwanzig Schritt entdecken.

Wenn da noch andere waren, mußten sie wohl im nächstgelegenen Dickicht stecken, mehr als zweihundert Schritt vor ihnen, oder in einem weiteren, das doppelt so weit entfernt lag. Zu weit weg, um eine Bedrohung darzustellen. Wenn sie keine Bögen haben. Aber dann mußten sie auch verdammt gute Schützen sein. Zu Hause, bei den Wettbewerben an Bel Tine und am Sonnentag, trafen nur die allerbesten Schützen auf mehr als zweihundert Schritt Entfernung.

Doch es war ein recht gutes Gefühl, zu wissen, daß sie gegen jeden, der so etwas versuchte, einen Blitz zu schleudern in der Lage war.

»Wir sind Frauen der Weißen Burg«, sagte Nynaeve ruhig. Sie gab sich offensichtlich Mühe, sich zu beherrschen und nicht nach anderen versteckten Aiel zu suchen. Sogar Elayne sah sich unruhig um. »Ob Ihr eine von uns als weise betrachten würdet, ist eine andere Sache«, fuhr Nynaeve fort. »Was wollt Ihr von uns?«

Aviendha lächelte. Egwene bemerkte erst jetzt, daß sie wirklich hübsch war. Das hatte der ernste Gesichtsausdruck vorher verborgen. »Ihr sprecht so wie die Weisen Frauen. Knapp, schnörkellos und ohne Umschweife.« Ihr Lächeln verflog, aber ihre Stimme blieb ruhig. »Eine von uns hat eine schwerwiegende Verletzung. Sie wird vielleicht sterben. Die Weisen Frauen heilen oftmals solche, die sonst sicherlich sterben müßten, und ich habe gehört, daß die Aes Sedai noch mehr fertigbringen. Werdet Ihr helfen?«

Egwene hätte beinahe in ihrer Verwirrung den Kopf geschüttelt. Eine Freundin von ihr liegt im Sterben? Es klingt, als wolle sie uns lediglich um eine Tasse Hafermehl bitten!

»Ich werde ihr helfen, wenn ich kann«, sagte Nynaeve bedächtig. »Ich kann aber nichts versprechen, Aviendha. Es könnte sein, daß sie trotz meiner Bemühungen sterben wird.«

»Der Tod kommt zu uns allen«, sagte die Aiel. »Wir können lediglich wählen, wie wir ihm gegenübertreten wollen. Ich bringe Euch zu ihr.«

Zwei Frauen in Aiel-Kleidung erhoben sich in kaum zehn Schritt Entfernung, eine aus einer kleinen Mulde, von der Egwene geglaubt hatte, in ihr könne sich nicht einmal ein Hund verstecken, die andere aus Grasbüscheln, die ihr nicht einmal bis zu den Knien reichten. Beim Aufstehen nahmen sie ihre schwarzen Schleier ab. Das ließ sie leicht zusammenfahren, denn Elayne hatte ihr gesagt, daß die Aiel ihre Gesichter nur dann dahinter verbargen, wenn sie zu kämpfen und töten erwarteten. Sie legten sich die Tücher um die Schultern. Eine von ihnen hatte das gleiche rötliche Haar wie Aviendha und dazu graue Augen. Die andere hatte dunkelblaue Augen und Haar, das wie ein Flammenbündel leuchtete. Keine war älter als Egwene oder Elayne, und beide machten den Eindruck, als seien sie durchaus bereit, die kurzen Speere in ihren Händen auch zu benutzen.

Die Frau mit dem Feuerhaar reichte Aviendha Waffen: ein langes Messer mit schwerer Klinge, das sie sich an den Gürtel hängte, und auf die andere Seite hängte sie einen prall gefüllten Köcher. Ihr dunkler, matt wie Horn schimmernder Bogen steckte in einem Behälter, den sie sich auf den Rücken hängte. Am linken Arm steckte ein kleiner Lederschild und in der gleichen Hand hielt sie schließlich vier Kurzspeere mit langen Blattspitzen. Aviendha trug das alles mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie eine Frau in Emondsfeld ihren Schal, ebenso natürlich wie auch ihre Gefährtinnen. »Kommt«, sagte sie und ging in Richtung eines Gestrüpps, an dem sie vorher vorbeigekommen waren.

Egwene ließ nun endlich auch Saidar fahren. Sie vermutete, jede dieser Aiel könne sie mit einem dieser Speere erstechen, bevor sie sich zur Wehr setzen konnte, falls sie das im Sinn hatten. Aber trotz der augenscheinlichen Wachsamkeit dieser Frauen glaubte sie nicht an eine solche Absicht. Und was geschieht, wenn Nynaeve ihre Freundin nicht heilen kann? Ich wünschte, sie würde zuerst einmal fragen, bevor sie uns alle mit ihren einsamen Entscheidungen in Gefahr bringt!

Während sie auf die Bäume und Büsche zuschritten, beobachteten die Aiel das sie umgebende Land so aufmerksam, als befürchteten sie, es könnten sich Feind dort befinden, die genauso gut im Verbergen waren wie sie selbst. Aviendha schritt voran, und Nynaeve hielt mit ihr Schritt.

»Ich bin Elayne aus dem Hause Trakand«, sagte Egwenes Freundin, als wolle sie eben Konversation machen. »Tochter-Erbin von Morgase, der Königin von Andor.«

Egwene kam ins Stolpern. Licht, spinnt sie denn? Ich weiß, daß Andor im Aiel-Krieg gegen sie kämpfte. Das ist vielleicht zwanzig Jahre her, aber man sagt, die Aiel hätten ein sehr gutes Gedächtnis für so etwas.

Doch die flammenhaarige Aiel neben ihr sagte nur: »Ich bin Bain aus der Schwarzfelsen-Septime der Shaarad Aiel.«

»Ich heiße Chiad«, sagte die kleinere Frau mit dem helleren Haar auf der anderen Seite. »Ich komme von der Steinfluß-Septime der Goschien Aiel.«

Bain und Chiad blickten Egwene an. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Egwene hatte das Gefühl, sie würfen ihr insgeheim schlechte Manieren vor.

»Ich heiße Egwene al'Vere«, sagte sie also zu ihnen. Da sie mehr zu erwarten schienen, fügte sie hinzu: »Tochter der Marin al'Vere aus Emondsfeld im Gebiet der Zwei Flüsse.« Damit schienen sie sich auf gewisse Weise zufriedenzugeben, aber sie hätte wetten können, daß die Aiel-Frauen dies alles genausowenig verstanden wie sie all ihre Septimen und Clans. Es müssen wohl so etwas wie Familien sein.

»Seid Ihr Erstschwestern?« Bain schien sie alle drei zu meinen.

Egwene glaubte, sie meinte damit Schwestern im Sinne der Aes Sedai und sagte »Ja«, während Elayne gleichzeitig »Nein« sagte.

Chiad und Bain tauschten Blicke, die andeuteten, die drei anderen Frauen seien wohl nicht ganz recht im Kopf.

»Erstschwestern«, sagte Elayne in belehrendem Ton zu Egwene, »bedeutet: Frauen, die die gleiche Mutter haben. Zweitschwestern heißt, ihre Mütter sind Schwestern.« Sie wandte sich den Aiel zu. »Keine von uns weiß viel über Euer Volk. Ich bitte Euch, unsere Unwissenheit zu verzeihen. Ich betrachte Egwene manchmal als meine Erstschwester, aber wir sind keine Blutsverwandten.«

»Warum legt Ihr dann kein Gelübde vor Euren Weisen Frauen ab?« fragte Chiad. »Bain und ich sind dadurch zu Erstschwestern geworden.«

Egwene zwinkerte überrascht. »Wie könnt Ihr zu Erstschwestern werden? Entweder habt Ihr die gleiche Mutter oder nicht. Ich möchte Euch ja nicht kränken. Das meiste dessen, was ich über die Töchter des Speers weiß, hat mir Elayne erzählt. Und das ist nicht viel. Ich weiß, daß Ihr in Schlachten kämpft und keine Männer wollt, aber mehr auch nicht.« Elayne nickte. So, wie sie die Töchter Egwene gegenüber beschrieben hatte, klang es nach einem Zwischending zwischen weiblichen Behütern und den Roten Ajah.

Wieder hatten die Aiel diesen Ausdruck in den Augen, als seien sie nicht sicher, ob Egwene und Elayne noch recht im Kopf waren.

»Wir wollen keine Männer?« murmelte Chiad, als sei ihr das ein Rätsel.

Bain runzelte die Stirn und dachte offensichtlich angestrengt nach. »Was Ihr sagt, kommt der Wahrheit nahe und ist trotzdem völlig falsch. Wenn wir dem Speer angetraut werden, schwören wir, uns nie an Mann oder Kind zu binden. Doch einige geben den Speer eines Mannes oder eines Kindes wegen auf.« Ihr Gesichtsausdruck zeigte ob des Gesagten Unverständnis. »Aber wenn der Speer einmal aufgegeben wurde, kann man ihn nie zurückerhalten.«

»Oder wenn sie erwählt wird, zu Rhuidean zu gehen«, warf Chiad ein. »Eine Weise Frau kann nicht dem Speer angetraut sein.«

Bain sah sie an, als habe sie verkündet, der Himmel sei blau oder Regen falle aus den Wolken herab. Doch dann blickte sie Egwene und Elayne an, und es schien ihr zu dämmern, daß die beiden all dies wirklich nicht wußten. »Ja, das stimmt. Auch wenn einige sich dagegen zu wehren versuchen.«

»Das schon.« Chiads Tonfall klang so, als teile sie ein diesbezügliches Geheimnis mit Bain.

»Aber ich habe mich nun zu weit von der eigentlichen Absicht meiner Erklärungen abbringen lassen«, fuhr Bain fort. »Die Töchter tanzen den Speertanz niemals miteinander, auch wenn unsere Clans das gelegentlich tun, aber die Shaarad Aiel und die Goschien Aiel haben vierhundert Jahre lang Blutrache aneinander geübt. So hatten Chiad und ich das Gefühl, es reiche uns nicht, dem Speer angetraut zu sein. Wir gingen zu den Weisen Frauen unserer Clans und legten dort den Eid ab — wobei sie genau wie ich unser Leben riskierten —, der uns zu Erstschwestern machte. Wie es sich für Erstschwestern unter den Töchtern gehört, decken wir einander den Rücken, und keine wird sich ohne die andere einem Mann zuwenden. Aber ich würde nicht behaupten, daß wir keine Männer wollen.« Chiad nickte mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. »Habe ich Euch die Wahrheit klargemacht, Egwene?«

»Ja«, sagte Egwene mit schwacher Stimme. Sie sah Elayne in die Augen, und in deren blauen Tiefen stand dieselbe Verwirrung geschrieben wie in ihren dunklen. Keine Roten Ajah. Vielleicht eher Grüne. Eine Mischung von Behütern und Grünen Ajah, und eigentlich kapiere ich gar nichts davon. »Mir ist nun das alles durchaus klar, Bain. Ich danke Euch.«

»Wenn Ihr beiden das Gefühl habt, Ihr wärt eigentlich Erstschwestern«, sagte Chiad, »dann solltet Ihr zu Euren Weisen Frauen gehen und den Eid ablegen. Aber Ihr seid selbst Weise Frauen — trotz Eurer Jugend. Ich weiß nicht, wie das in einem solchen Falle ablaufen könnte.«

Egwene wußte nicht, ob sie lachen oder erröten sollte. Sie sah Elayne und sich selbst vor sich, wie sie sich den gleichen Mann teilten. Nein, das gilt nur für

Erstschwestern, die auch noch Töchter der Speers sind, oder? Elayne hatte rote Flecken auf den Wangen und Egwene war sicher, daß sie an Rand dachte. Aber wir teilen ihn uns ja nicht, Elayne. Keine von uns kann ihn haben.

Elayne räusperte sich. »Ich glaube nicht, daß dies notwendig ist, Chiad. Egwene und ich decken uns schon jetzt gegenseitig den Rücken.«

»Wie kann das sein?« fragte Chiad bedächtig. »Ihr seid doch nicht dem Speer angetraut. Und Ihr seid Weise Frauen. Wer würde denn seine Hand gegen eine Weise Frau erheben? Das verwirrt mich. Warum ist es notwendig, daß Ihr euch gegenseitig Rückendeckung gebt?«

Egwene kam durch ihre Ankunft an dem Dickicht um eine Antwort herum. Unter den Bäumen befanden sich zwei weitere Aiel, tief drinnen, ganz nahe am Ufer. Jolien von der Salzebenen-Septime der Nakai Aiel, eine Frau mit blauen Augen und rotgoldenem Haar ähnlich dem Elaynes, behütete Dailin, die von Aviendhas Septime und Clan kam. Dailins Haar war schweißverklebt. Dadurch schimmerte es in noch dunklerem Rot. Sie öffnete nur einmal die grauen Augen, gleich bei ihrer Annäherung, und schloß sie sofort wieder. Mantel und Hemd lagen neben ihr, und um ihre Körpermitte waren blutgetränkte Bandagen gewickelt.

»Sie wurde von einem Schwert verletzt«, sagte Aviendha. »Ein paar dieser Narren, die von den meineidigen Baummördern Soldaten genannt werden, dachten, wir gehörten zu den Banditen, die sich in diesem Land herumtreiben. Wir mußten sie töten, um sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber Dailin... Könnt Ihr sie heilen, Aes Sedai?«

Nynaeve kniete neben der Verletzten nieder und hob ihre Bandagen an, um die Verwundung betrachten zu können. Sie verzog das Gesicht ob dieses Anblicks. »Habt Ihr sie bewegt, seit sie verletzt wurde? Es ist ein wenig Kruste zu sehen, die aber gebrochen wurde.«

»Sie wollte in der Nähe des Wassers sterben«, sagte Aviendha. Sie blickte kurz zum Fluß hinüber und dann schnell wieder weg. Egwene glaubte gesehen zu haben, daß sie schauderte.

»Närrin!« Nynaeve begann, in ihrer Tasche nach Kräutern zu kramen. »Ihr hättet sie damit umbringen können, daß Ihr sie mit einer solchen Verwundung transportiert habt! Sie wollte in der Nähe des Wassers sterben. Ha!« sagte sie angewidert. »Nur weil Ihr wie die Männer Waffen tragt, müßt Ihr noch nicht anfangen, genau wie Männer zu denken.« Sie zog einen hohen Holzbecher aus einer Tasche und drückte ihn Chiad in die Hand. »Füllt den. Ich brauche Wasser zum Hineinmischen, damit sie es trinken kann.«

Chiad und Bain gingen gemeinsam zum Ufer und kamen auch zusammen zurück. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Egwene hatte das Gefühl, sie hätten so halbwegs erwartet, der Fluß werde Arme nach ihnen ausstrecken und sie fangen.

»Wenn wir sie nicht hierher zum... Fluß gebracht hätten, Aes Sedai«, sagte Aviendha, »hätten wir Euch nicht gefunden und sie wäre ohnehin gestorben.«

Nynaeve schnaubte und begann damit, durch ein Sieb zermahlene Kräuter in den Becher zu geben, wobei sie leise murmelte: »Coren-Wurzel hilft, mehr Blut zu erzeugen, Hundskraut heilt das Fleisch, und Heilalles natürlich... « Ihr Murmeln wurde so leise, daß man es kaum noch wahrnehmen konnte. Aviendha runzelte die Stirn.

»Die Weisen Frauen benützen Kräuter, Aes Sedai, aber ich hatte nicht gehört, daß auch Aes Sedai sie gebrauchen.«

»Ich benütze, was ich eben brauche!« fauchte Nynaeve, kramte weiter in ihren Sachen herum und flüsterte in sich hinein.

»Sie hört sich wirklich an wie eine Weise Frau«, sagte Chiad leise zu Bain, und die andere Frau nickte nervös.

Dailin war die einzige Aiel, die ihre Waffen nicht zur Hand hatte, und sie alle sahen aus, als genüge ein Herzschlag, um kampfbereit zu sein. Nynaeve wirkt auch nicht gerade beruhigend, dachte Egwene. Ich muß sie irgendwie ablenken. Irgendwie. Niemand hat Lust zum Kämpfen, wenn man über etwas Friedliches redet.

»Seid mir bitte nicht böse«, sagte sie vorsichtig, »aber ich habe bemerkt, daß Ihr alle recht nervös seid, wenn es um den Fluß geht. Er ist nicht gefährlich, außer bei einem Sturm. Ihr könntet darin schwimmen, wenn Ihr wollt, obwohl die Strömung zur Mitte zu etwas heftig wird.« Elayne schüttelte den Kopf.

Der Blick der Aiel zeigte Unverständnis. Aviendha sagte: »Ich sah einmal einen Mann — einen Schienarer —, der das machte, was Ihr schwimmen nennt.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Egwene. »Ich weiß, daß es in der Wüste nicht viel Wasser gibt, aber Ihr habt gesagt, Ihr wärt von der Steinfluß-Septime, Jolien. Ihr seid doch sicher im Steinfluß Schwimmen gegangen?« Elayne sah sie an, als sei sie verrückt geworden.

»Schwimmen«, sagte Jolien schwerfällig. »Bedeutet das... ins Wasser gehen? In soviel Wasser hinein? Und nichts, um sich daran festzuhalten.« Sie schauderte. »Aes Sedai, bevor ich die Drachenmauer überquerte, hatte ich noch kein fließendes Gewässer gesehen, über das ich nicht mit einem einzigen Schritt wegsteigen konnte. Der Steinfluß... Einige behaupten, einst sei Wasser darin geflossen, aber das ist nur Aufschneiderei. Da gibt es nur die Steine. Die ältesten Aufzeichnungen der Weisen Frauen und der Clanhäuptlinge besagen, daß darin nie etwas anderes als Steine waren, seit sich unsere Septime von der Hochebenen-Septime trennte und dieses Gebiet in Besitz nahm. Schwimmen!« Sie packte ihre Speere so fest, als wolle sie damit gegen diesen Ausdruck ankämpfen. Chiad und Bain traten noch einen Schritt weiter vom Ufer weg.

Egwene seufzte. Als Elaynes Blick sie traf, wurde sie rot. Nun ja, ich bin schließlich keine Tochter-Erbin, die all so was weiß. Aber ich lerne vieles. Als sie die Aiel-Frauen musterte, stellte sie fest, daß sie sie nicht beruhigt, sondern noch nervöser gemacht hatte. Wenn sie irgend etwas anstellen, werde ich sie mit Hilfe der Luft festhalten. Sie hatte wohl keine Ahnung, ob sie vier Menschen auf einmal festhalten könne, aber sicherheitshalber öffnete sie sich Saidar, webte den Strom ins Element Luft und hielt sich bereit. Die Macht durchströmte sie mit dem Verlangen, sie zu benützen. Elayne war nicht von Glühen umgeben und sie fragte sich, warum. Dann sah Elayne ihr in die Augen und schüttelte leicht den Kopf.

»Ich würde niemals einer Aes Sedai etwas zuleide tun«, sagte Aviendha plötzlich. »Ich möchte, daß Ihr das wißt. Ob Dailin überlebt oder nicht, das hat damit nichts zu tun. Ich würde den« — sie hob einen der kurzen Speere — »nie gegen eine andere Frau erheben. Und Ihr seid Aes Sedai.« Egwene hatte mit einem Mal das Gefühl, die Frau wolle sie beruhigen.

»Das wußte ich«, sagte Elayne, als spräche sie zu Aviendha, doch ihr Blick sagte, daß sie die Worte in Wirklichkeit an Egwene gerichtet hatte. »Niemand weiß viel über Euer Volk, aber man hat mir beigebracht, daß die Aiel niemals Frauen etwas tun, außer sie sind — wie habt Ihr das genannt? — dem Speer angetraut.«

Bain schien zu glauben, Elayne habe sie wieder nicht richtig verstanden. »Das stimmt nicht ganz, Elayne. Wenn eine Frau auf mich losginge, die nicht dem Speer angetraut ist, würde ich sie verprügeln, bis sie aufgibt. Ein Mann... Ein Mann könnte denken, eine Frau aus Euren Ländern sei dem Speer angetraut, falls sie Waffen trägt. Ich weiß nicht. Männer können eigenartig sein.«

»Natürlich«, sagte Elayne. »Aber solange wir Euch nicht mit Waffen angreifen, würdet Ihr uns auch nichts tun.« Alle vier Aiel-Frauen wirkten schockiert ob dieses Gedankens, und sie sah Egwene bedeutungsvoll an. Egwene hielt trotzdem Saidar noch fest. Nur, weil man Elayne etwas beigebracht hatte, mußte es noch nicht stimmen, auch wenn die Aiel das gleiche behaupteten. Und Saidar fühlte sich... so gut in ihr an.

Nynaeve hob Dailins Kopf etwas an und begann, ihr die Kräutermischung einzuflößen. »Trinkt«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich weiß, es schmeckt schlecht, aber trinkt alles aus!« Dailin schluckte, hustete und schluckte wieder.

»Nicht einmal dann, Aes Sedai«, sagte Aviendha zu Elayne. Sie blickte aber weiter Dailin und Nynaeve an. »Man sagt, daß wir einst, vor der Zerstörung der Welt, den Aes Sedai dienten, aber wie das zuging, weiß keine Geschichte zu berichten. Wir haben in diesem Dienst versagt. Vielleicht ist das die Sünde, deretwegen wir in das Dreifache Land umsiedeln mußten; ich weiß es nicht. Keiner weiß, worin diese Sünde bestand, außer vielleicht den Weisen Frauen oder den Clanhäuptlingen, und die sagen nichts darüber. Man sagt auch, wenn wir den Aes Sedai gegenüber erneut versagen, würden sie uns vernichten.«

»Trinkt alles aus«, knurrte Nynaeve. »Schwerter! Schwerter und Muskeln und kein Hirn!«

»Wir werden Euch ganz bestimmt nicht vernichten«, sagte Elayne entschieden. Aviendha nickte.

»Wie Ihr sagt, Aes Sedai. Aber die alten Geschichten sind sich alle in einem Punkt einig: Wir dürfen niemals gegen Aes Sedai kämpfen. Wenn Ihr eure Blitze und Euer Baalsfeuer gegen uns schleudert, dann werde ich mit ihnen tanzen, aber ich werde Euch selbst nichts tun.«

»Leute erstechen«, grollte Nynaeve. Sie ließ Dailins Kopf vorsichtig sinken und legte eine Hand auf die Stirn der Frau. Dailin hatte die Augen wieder geschlossen. »Frauen erstechen!« Aviendha trat von einem Fuß auf den anderen und runzelte die Stirn. Sie war damit nicht allein unter den Aiel-Frauen.

»Baalsfeuer«, sagte Egwene. »Aviendha, was ist Baalsfeuer?«

Die Aiel-Frau wandte ihr die gerunzelte Stirn zu. »Wißt Ihr das nicht, Aes Sedai? In den alten Geschichten benützten die Aes Sedai das. Dort klingt es nach einer schrecklichen Waffe, aber mehr weiß ich auch nicht. Man sagt, wir hätten vieles vergessen, was wir einst wußten.«

»Vielleicht hat man auch in der Weißen Burg vieles vergessen«, sagte Egwene. In diesem... Traum habe ich es gekannt, was es auch gewesen sein mag. Es war genauso wirklich wie Tel'aran'rhiod. Da würde ich sogar gegen Mat wetten.

»Kein Recht!« zürnte Nynaeve. »Niemand hat ein Recht, Körper so zuzurichten! Niemand!«

»Ist sie zornig?« fragte Aviendha nervös. Chiad, Bain und Jolien tauschten besorgte Blicke. »Es ist schon gut«, sagte Elayne.

»Es ist mehr als nur gut«, fügte Egwene hinzu. »Sie wird tatsächlich wütend, und das ist viel mehr als nur gut.«

Plötzlich war Nynaeve vom Glühen Saidars umgeben. Egwene beugte sich gespannt vor, genau wie Elayne. Dailin fuhr mit einem Schrei und weit aufgerissenen Augen hoch. Einen Augenblick später drückte Nynaeve sie wieder sanft hinunter, und das Glühen verflog. Dailins Augen schlossen sich, und sie lag schwer atmend da.

Ich sah es, dachte Egwene. Ich... glaube, daß ich es gesehen habe. Sie war nicht sicher, daß sie wirklich all die vielen Ströme wahrgenommen hatte, und noch weniger, wie Nynaeve sie miteinander verweben konnte. Was Nynaeve in diesen wenigen Sekunden fertiggebracht hatte, war, als habe man mit einer Binde um die Augen gleichzeitig vier Teppiche gewebt.

Nynaeve benützte die blutigen Bandagen, um Dailins Bauch abzuwischen. Sie wischte helles, frisches Blut genauso weg wie schwarze Krusten alten Blutes. Es war keine Wunde zu sehen, keine Narbe, nur gesunde Haut, die allerdings um einiges blasser war als selbst Dailins Gesicht.

Nynaeve schnitt eine Grimasse, als sie die blutigen Fetzen nahm und in den Fluß warf. »Wascht ihr den Rest auch noch ab«, sagte sie, »und zieht ihr etwas an. Sie friert. Und haltet Euch bereit, ihr zu essen zu geben. Sie wird Hunger haben.« Sie kniete am Ufer nieder und wusch sich die Hände.


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