Als der Pelikan auf die Kais von Tear am Westufer des Erinin zuschwankte, sah Egwene überhaupt nichts von der Stadt, der sie sich näherten. Sie hing mit gesenktem Kopf an der Reling und starrte auf das Wasser des Erinin, das an dem dicken Rumpf des Schiffes vorbeiglitt. Das vordere Ruder auf ihrer Seite ruckte in ihr Blickfeld und verschwand wieder. Es hinterließ eine weiße Spur im trüben Wasser. Selbst das erzeugte Schwindelgefühle bei ihr, aber sie wußte, die Seekrankheit würde noch schlimmer werden, wenn sie auch nur den Kopf hob. Und falls sie gar das Ufer betrachtete, würde die langsame, korkenzieherartige Bewegung des Pelikan noch deutlicher in ihr strapaziertes Hirn dringen.
Seit Jurene hatte sich das Schiff nur noch rollend und stampfend fortbewegt. Es war ihr gleich, wie das vorher gewesen sein mochte, aber sie wünschte sich, der Pelikan wäre rechtzeitig vor Jurene gesunken. Sie wünschte sich auch, sie hätten den Kapitän dazu gebracht, in Aringill anzulegen, damit sie dort auf ein anderes Schiff hätten umsteigen können. Sie wünschte, sie hätte nie ein Schiff aus der Nähe gesehen. Sie wünschte sich sehr viel, das meiste einfach, um sich selbst abzulenken.
Das ständige Rollen war jetzt, unter Rudern, nicht mehr so schlimm wie vorher, als sie noch gesegelt waren, aber das hatte sich über so viele Tage hingezogen, daß sie den Unterschied kaum wahrnahm. Ihr Magen schien in ihrem Innern hin und her zu schwappen wie die Milch in einem Steinkrug. Sie würgte und mühte sich, diese Vorstellung ganz schnell wieder zu vergessen.
Sie, Elayne und Nynaeve hatten auf dem Pelikan nicht viel im voraus planen können. Nynaeve hielt es nur selten mehr als zehn Minuten lang aus, bevor sie sich erneut übergeben mußte, und wenn sie das mit ansehen mußte, wurde Egwene regelmäßig auch das wenige Essen los, das sie zuvor hinuntergewürgt hatte. Auch die zunehmende Wärme weiter unten im Süden half nicht. Nynaeve war jetzt gerade unter Deck, und zweifellos hielt ihr Elayne wieder eine Schüssel unter das Kinn.
O Licht, nein! Nicht daran denken! Grüne Felder. Wiesen. Licht, Wiesen schwanken doch nicht so. Hummeln. Nein, keine Hummeln! Lerchen. Singende Lerchen.
»Frau Joslyn? Frau Joslyn!«
Sie brauchte einen Augenblick, bis sie die Stimme von Kapitän Canin erkannte, und den Namen, den sie ihm genannt hatte. Sie hob schwerfällig den Kopf und richtete den Blick auf sein langes Gesicht.
»Wir legen an, Frau Joslyn. Ihr habt immer gesagt, daß Ihr froh sein werdet, wieder an Land zu kommen. Also, jetzt sind wir da.« Seine Stimme klang ganz danach, daß er ebenso froh war, die drei Passagiere wieder loszuwerden, von denen zwei nicht mehr taten, als sich dauernd zu übergeben und die ganze Nacht über zu stöhnen.
Barfüßige Seeleute mit nacktem Oberkörper warfen den Schauerleuten auf der in den Fluß hineinragenden Kaimauer die Haltetaue zu. Die Schauerleute trugen anscheinend an Stelle von Hemden lange Lederwesten. Die Ruder waren bereits eingezogen, bis auf zwei, die das Schiff gegen einen zu harten Aufprall an die Kaimauer abstützten.
Die Pflastersteine auf dem Kai waren naß. In der Luft lag noch der Geruch von Regen, und das beruhigte sie ein wenig. Jetzt wurde ihr auch bewußt, daß die ewige Schaukelei schon vor einiger Zeit aufgehört hatte. Aber ihr Magen erinnerte sie noch daran. Im Westen senkte sich bereits die Sonne. Sie versuchte, nicht an Abendessen zu denken.
»Sehr gut, Kapitän Canin«, sagte sie so würdevoll, wie es ihr möglich war. Er würde nicht so reden, wenn ich meinen Ring an der Hand hätte, nicht einmal, wenn ich auf seine Hilfe angewiesen wäre. Sie schauderte bei dieser Vorstellung.
Ihr Ring mit der Großen Schlange hing nun neben dem gewundenen Steinring des Ter'Angreal an einer Lederschnur um ihren Hals. Der Steinring ruhte kühl an ihrer Haut, beinahe kühl genug, um die warme Feuchte der Luft vergessen zu machen. Aber davon einmal abgesehen, war ihr bewußt geworden, daß sie den Ring immer häufiger berühren wollte, je mehr sie den Ter'Angreal benützte. Es war wie eine Sucht, und sie mußte ihn nun auf der Haut tragen, statt in einem Beutel.
Tel'aran'rhiod zeigte ihr immer noch wenig, was sie unmittelbar verwerten konnte. Manchmal hatte sie ganz kurz Rand oder Mat oder Perrin gesehen. Allerdings tauchten sie noch öfters in ihren Träumen ohne Hilfe des Ter'Angreal auf. Einen Sinn aber ergaben diese kurzen Ausblicke nicht. Die Seanchan hatte sie auch gesehen, aber sie weigerte sich, daran auch nur zu denken. Dann waren da Alpträume gewesen, in denen sie zusehen mußte, wie ein Weißmantel Meister Luhhan als Köder in eine riesige, furchterregend gezähnte Falle steckte. Und warum trug Perrin einen Falken auf der Schulter und was war daran so wichtig, ob er sich für die Axt an seinem Gürtel oder für den Schmiedehammer entschied? Welche Bedeutung hatte der Traum, in dem Mat mit dem Dunklen König würfelte, warum rief er immer: ›Ich komme!‹, und warum glaubte sie in diesem Traum, daß er sie damit meine? Und dann Rand. Er hatte sich durch vollständige Dunkelheit zu Callandor hingeschlichen. Aber sechs Männer und fünf Frauen waren mit ihm gekommen. Ein paar davon jagten ihn, andere ignorierten ihn, ein paar versuchten, ihn zu dem leuchtenden Kristallschwert hinzugeleiten, während wieder andere ihn davon abhalten wollten, es zu erreichen. Sie schienen ihn aber überhaupt nicht sehen zu können, oder zumindest nur für ganz kurze Zeit. Einer der Männer hatte Flammenaugen, und er wünschte Rands Tod mit einer Verzweiflung herbei, die sie beinahe mit der Zunge schmecken konnte. Sie glaubte, ihn zu kennen. Ba'alzamon. Aber wer waren die anderen? Dann wieder Rand in dieser trockenen, staubigen Kammer und diese kleinen Kreaturen, die sich in seine Haut bohrten. Rand, der vor einer Horde von Seanchan stand. Rand, vor ihr und einer zweiten Frau stehend, und eine von ihnen war eine Seanchan. Es war alles viel zu verwirrend. Sie mußte aufhören, an Rand und die anderen zu denken, und sich auf das konzentrieren, was unmittelbar vor ihr lag. Was haben die Schwarzen Ajah vor? Warum träume ich nicht von ihnen? Licht, warum kann ich nicht lernen, es so zu steuern, daß ich sehe, was ich wissen will?
»Laßt die Pferde an Land bringen, Kapitän«, sagte sie zu Canin. »Ich werde es Frau Maryim und Frau Caryla mitteilen.« Das waren natürlich Nynaeve — Maryim — und Elayne — Caryla.
»Ich habe einen Mann hinuntergeschickt, um es ihnen zu sagen, Frau Joslyn. Und Eure Tiere werden an Land gebracht, sobald meine Männer einen Ladebaum freimachen können.«
Er klang wirklich erfreut darüber, daß er sie los wurde. Sie dachte daran, ihm zu sagen, er solle sich nicht beeilen, doch dann verwarf sie den Gedanken sofort wieder. Das Stampfen und Rollen des Pelikan war wohl beendet, aber sie wollte so schnell wie möglich wieder festen Boden unter den Füßen haben. Jetzt gleich. Trotzdem blieb sie einen Moment stehen, und tätschelte Nebel die Nase und ließ die graue Stute an ihren Handfläche schnuppern, um Canin zu beweisen, daß es keine Eile hatte.
Nynaeve und Elayne erschienen an der Leiter von den Kabinengängen her, beladen mit ihren Bündeln und Satteltaschen. Elayne mußte außerdem noch Nynaeve fast schleppen. Als Nynaeve bemerkte, daß Egwene zusah, schob sie die helfende Hand der Tochter-Erbin von sich und ging ohne Hilfe zu der schmalen Laufplanke, die man zum Kai hinübergelegt hatte. Zwei Besatzungsmitglieder befestigten eine breite Segeltuchbahn unter Nebels Bauch. Egwene eilte hinunter, um ihre Habseligkeiten zu holen. Als sie wieder nach oben kam, befand sich ihre Stute schon an Land, und Elaynes Pferd schwebte auf halbem Weg zum Kai in der Luft.
Im ersten Moment, als ihre Füße wieder festes Land betraten, fühlte sie nur Erleichterung. Das hier stampfte und rollte nicht. Dann begann sie sich in dieser Stadt umzusehen, die zu erreichen ihnen soviel Mühe und Schmerzen bereitet hatte. Gleich hinter den langen Kais befanden sich steinerne Lagerhäuser, und eine große Anzahl von Schiffen, groß und klein, lag an den Kais oder im Fluß vor Anker. Hastig wandte sie ihren Blick von den Schiffen ab. Tear war auf einer Ebene erbaut worden, die kaum eine Erhebung aufwies. Wenn sie die schlammigen, ungepflasterten Straßen zwischen den Lagerhäusern hinunterblickte, sah sie Häuser, Schenken und Tavernen aus Holz und Stein. Ihre mit Schieferplatten oder Ziegeln gedeckten Dächer hatten eigenartige Ecken, und manche liefen sogar oben zu einer Spitze zusammen. Weiter entfernt konnte sie eine hohe Mauer aus dunkelgrauem Stein erkennen und dahinter wieder die Spitzen von Türmen mit umlaufenden Galerien, dazu die weißen Kuppeln von Schlössern. Aber die Kuppeln wirkten etwas eckig, und die Türme hatten spitz zulaufende Dächer, so wie einige der Häuser außerhalb. Alles in allem war Tear sicher ebenso groß wie Caemlyn oder Tar Valon, und wenn vielleicht nicht so schön, war es doch eine der ganz großen Städte. Doch von einem konnte sie den Blick kaum reißen: dem Stein von Tear.
Sie hatte davon in Geschichten gehört, gehört, daß es die größte und älteste Festung der Welt sei, die erste nach der Zerstörung der Welt erbaute, und doch hatte nichts sie auf diesen Anblick vorbereitet. Beim ersten Hinschauen glaubte sie noch, es sei ein mächtiger, grauer Steinhügel oder ein kleiner, kahler Tafelberg, Hunderte von Schritten lang auf jeder Seite. Er erstreckte sich vom Erinin im Westen durch die Mauer bis weit in die Stadt hinein. Selbst nachdem sie die große Flagge vom höchsten Punkt aus hatte flattern sehen — drei weiße Mondsicheln schräg über einem halb roten und halb goldenem Feld; diese Flagge befand sich in mindestens dreihundert Schritt Höhe über dem Fluß und war so groß, daß man sie ganz deutlich sehen konnte — und dann die Zinnen und Türme bemerkte, selbst dann war es schwer, den Stein von Tear als etwas von Menschenhand Erbautes zu sehen. Er sah aus, als sei er von einem Riesen aus einem Berg herausgehauen worden.
»Mit Hilfe der Macht erbaut«, murmelte Elayne. Auch sie starrte den Stein an. »Ströme des Elements Erde verwoben, um den Stein aus dem Erdboden heraufzuholen. Die Luft mußte Material aus allen Teilen der Welt herbeiholen, und Erde und Feuer gemeinsam verschweißen es zu einem großen Block ohne Spalt und ohne jedes bißchen Zement. Atuan Sedai meinte, heutzutage könnte die Burg das nicht mehr vollbringen. Seltsam, wenn man bedenkt, wie die Hochlords heute der Macht ablehnend gegenüberstehen.«
»Ich glaube«, stellte Nynaeve fest, die den Schauerleuten in ihrer Nähe beim Arbeiten zusah, »genau deswegen sollten wir gewisse Dinge nicht laut erwähnen.« Elayne schien zwischen Entrüstung — sie hatte ja schon sehr leise gesprochen — und Zustimmung hin- und hergerissen. Die Tochter-Erbin stimmte Nynaeve zu oft und allzu bereitwillig zu, und das paßte Egwene nicht.
Nur wenn Nynaeve recht hat, gab sie dann aber widerstrebend zu. Hier würde man eine Frau sehr genau beobachten, die den Ring trug oder auch nur mit Tar Valon in Verbindung gebracht wurde. Die barfüßigen Schauerleute in ihren Lederwesten achteten nicht auf die drei Frauen, als sie ihrer Arbeit nachgingen: Ballen oder Kisten auf dem Rücken schleppen oder auf Karren verladen. Der starke Geruch nach Fisch lag in der Luft. An den nächsten drei Kais lagen Dutzende kleiner Fischerboote, so, wie auf jener Zeichnung im Arbeitszimmer der Amyrlin. Männer mit nacktem Oberkörper und barfüßige Frauen hievten Körbe voll mit Fischen aus den Booten, Haufen von Silber und Bronze und Grün und anderen Farben, die sie bei Fischen niemals vermutet hätte — Hochrot und Dunkelblau, leuchtendes Gelb, ja, und manche hatten sogar Streifen oder weiße Flecken und ähnliche Muster.
Sie senkte die Stimme, so daß nur Elayne sie hören konnte: »Sie hat recht. Caryla. Denk daran, warum du Caryla bist.« Sie wollte nicht, daß Nynaeve dieses Eingeständnis hörte, denn wenn ihr so etwas zu Ohren kam, änderte sich ihr Gesichtsausdruck wohl nicht, aber Egwene spürte, wie eine Welle der Befriedigung von ihr ausging.
Gerade wurde Nynaeves schwarzer Hengst auf den Kai heruntergelassen. Die Seeleute hatten das Pferdefutter bereits herübergebracht und einfach auf das nasse Pflaster geworfen. Nynaeve sah die Pferde an und öffnete den Mund. Egwene war sicher, daß sie befehlen wollte, die Pferde zu satteln. Dann schloß sie ihn aber wieder und preßte lediglich die Lippen aufeinander, als habe sie das einige Mühe gekostet. Sie riß wieder einmal an ihrem Zopf. Bevor man noch die Segeltuchschlinge ganz entfernt hatte, warf sie bereits die blaugestreifte Satteldecke auf den Rücken des Schwarzen und hob ihren hochbordigen Sattel nach oben. Sie sah sich nicht einmal nach den anderen beiden Frauen um.
Egwene war in diesem Augenblick keineswegs erpicht darauf zu reiten. Die Bewegungen des Pferdes würden möglicherweise ihren Magen an das Schaukeln des Schiffes erinnern. Doch ein Blick auf die schlammigen Straßen überzeugte sie. Ihre Schuhe waren wohl fest, aber sie versank damit nicht gern im Schlamm oder hielt die ganze Zeit den Rock hochgerafft, um überhaupt richtig laufen zu können. So sattelte sie Nebel schnell, saß auf und strich ihren Rock glatt. Sie mußte sich selbst überrumpeln, sonst hätte sie vielleicht doch die Straßen gar nicht so schlimm gefunden... Auf dem Pelikan hatte diesmal Elayne ein wenig genäht. Die Tochter-Erbin konnte sehr präzise nähen. Sie hatte ihre Röcke alle geteilt und zu Hosenröcken abgenäht, damit sie richtig auf den Pferden sitzen konnte.
Nynaeve erbleichte, als sie sich in den Sattel schwang und der Hengst zur Seite tänzelte. Doch sie beherrschte sich mit zusammengepreßten Lippen, nahm die Zügel fest in die Hände und hatte ihn schnell unter Kontrolle. Als sie schließlich an den Lagerhäusern vorbeigeritten waren, war sie wieder in der Lage, zu sprechen. »Wir müssen Liandrin und die anderen aufspüren, ohne sie erfahren zu lassen, daß wir nach ihnen fragen. Sie wissen sicherlich, daß wir kommen, oder zumindest, daß jemand kommt, aber ich möchte sie nichts von unserer Ankunft wissen lassen, bis es zu spät für sie ist.« Sie holte tief Luft. »Ich gebe zu, mir ist noch nicht eingefallen, wie wir das anstellen sollen. Bisher. Hat eine von euch einen Vorschlag?«
»Ein Diebfänger«, sagte Elayne ohne zu zögern. Nynaeve runzelte die Stirn.
»Meinst du einen wie Hurin?« fragte Egwene. »Aber Hurin handelte im Dienst seines Königs. Jeder Diebfänger hier wird doch sicherlich im Dienst der Hochlords stehen?«
Elayne nickte, und einen Augenblick lang beneidete Egwene die Tochter-Erbin um ihren guten Magen. »Ja, schon. Aber die Diebfänger sind nicht dasselbe wie die Königliche Garde oder in Tear die Verteidiger des Steins. Sie dienen dem Herrscher, aber Leute, die bestohlen wurden, zahlen ihnen manchmal dafür, daß sie ihre gestohlenen Güter wieder besorgen. Und manchmal werden sie auch dafür bezahlt, bestimmte Leute zu suchen. Zumindest ist das in Caemlyn der Fall. Ich glaube nicht, daß es in Tear anders sein wird.«
»Dann nehmen wir uns Zimmer in einer Schenke«, sagte Egwene, »und bitten den Wirt, einen Diebfänger für uns aufzuspüren.«
»Keine Schenke«, sagte Nynaeve so entschlossen, wie sie auch ihren Hengst lenkte. Sie schien das Tier immer vollkommen unter Kontrolle zu haben. Einen Moment später mäßigte sie aber ihren Tonfall: »Zumindest Liandrin kennt uns, und wir müssen annehmen, daß uns auch die anderen kennen. Sie werden mit Sicherheit die Schenken überwachen, um zu sehen, wer der Spur folgt, die sie ausgelegt haben. Ich will ihre Falle zum Zuschnappen bringen, aber wir sollten nicht gerade drinstecken. Wir bleiben nicht in einer Schenke.«
Egwene verzichtete auf weitere Fragen.
»Wo dann?« Elayne runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Wenn ich mich zu erkennen geben würde, falls mir das überhaupt jemand abnimmt, bei dieser Kleidung und ohne Eskorte, wären wir den meisten Adelshäusern und sogar im Stein selbst willkommene Gäste. Caemlyn und Tear haben sehr gute Beziehungen zueinander. Aber an Geheimhaltung wäre dann nicht zu denken. Es wäre noch am gleichen Abend in der ganzen Stadt bekannt. Mir fällt nichts anderes ein als eben eine Schenke, Nynaeve. Außer, du willst hinaus aufs Land und einen Bauernhof suchen, auf dem wir unterkommen können. Aber vom Land aus finden wir sie nie.«
Nynaeve sah Egwene an. »Ich werde es wissen, wenn ich es sehe. Laßt mich nur machen.«
Elaynes verfinsterte Miene wandte sich erst Nynaeve und dann Egwene zu, und dann wieder der ersten. »Man sollte nicht gerade seine eigenen Ohren abschneiden, weil einem die Ohrringe nicht gefallen«, knurrte sie.
Egwene konzentrierte sich entschlossen auf die Straße, die sie hinabritten. Seng mich, wenn ich zugebe, daß ich keine Ahnung habe!
Es waren, verglichen mit Tar Valon, gar nicht so viele Menschen unterwegs. Vielleicht wurden sie von dem tiefen Schlamm auf den Straßen abgeschreckt. Karren und Wagen rumpelten an ihnen vorbei, die meist von Ochsen mit ausladenden Hörnern gezogen wurden. Die Treiber liefen nebenher und schwenkten lange Stöcke aus irgendeinem hellen, gefurchten Holz. Diese Straßen wurden offensichtlich nicht von Kutschen oder Sänften benützt. Auch hier hing der Geruch nach Fisch in der Luft, und nicht wenige der Männer, die an ihnen vorbeieilten, trugen große Körbe mit Fischen auf dem Rücken. Die Läden wirkten keineswegs wohlhabend. Nirgends lagen Waren aus, und Egwene sah nur wenige Kunden hineingehen. Über den Läden hingen Schilder — Nadel und Tuchballen bei einem Schneider, Messer und Schere bei einem Messerschmied, Webstuhl und ähnliches —, aber bei den meisten blätterte schon die Farbe ab. Auch die Schilder über den wenigen Schenken sahen genauso aus, und Gäste gab es wohl nicht viele. Bei den kleinen Häuschen, die sich zwischen die Schenken und Läden zwängten, fehlten Dachplatten oder Ziegel. Zumindest dieser Teil Tears wirkte arm. Und den Gesichtern nach zu schließen, war es den Menschen gleichgültig. Sie bewegten sich, arbeiteten, aber die meisten hatten wohl aufgegeben. Wenige nur warfen den drei Frauen überhaupt einen Blick zu, die ritten, wo alle anderen zu Fuß gehen mußten.
Die Männer trugen Pumphosen, die gewöhnlich am Knöchel zugeschnürt waren. Nur einige von ihnen trugen Jacken. Die waren lang und dunkel, saßen oben herum eng und wurden nach unten zu weiter. Man sah zwar Männer in Halbschuhen, kaum welche, die Stiefel trugen, doch die meisten gingen barfuß durch den Schlamm. Viele trugen auch weder Jacke noch Hemd. Die Hosen wurden gewöhnlich von einer breiten, meist bunten und oftmals schmutzigen Schärpe gehalten. Einige hatten sich nach oben spitz zulaufende Strohhüte aufgesetzt, während andere Stoffkappen trugen, die ihnen auf einer Seite über das Gesicht herunterhingen. Die Frauenkleider wiesen hohe Krägen auf, die bis zum Kinn reichten, und die Röcke gingen bis zum Fußknöchel. Viele der Frauen hatten Schürzen in blassen Farbtönen darübergebunden, manchmal sogar zwei oder drei, die obere immer etwas kleiner als die darunter. Dazu trugen auch sie die gleichen Strohhüte wie die Männer. Sie hatten sie allerdings gefärbt, damit sie zu den Schürzen paßten.
Bei einer Frau sah sie dann auch zum erstenmal, wie man hier trotz Schuhen mit dem Schlamm fertig wurde. Die Frau hatte sich kleine Holzklötze unter die Schuhsohlen geschnallt, so daß diese sich zwei Handbreit aus dem Schlamm hoben. Sie lief auf die Art ganz sicher und mit festen Schritten einher. Danach bemerkte Egwene andere, die ebenfalls solche Holzklötze trugen, Männer genau wie Frauen. Auch einige Frauen liefen barfuß, aber nicht so viele wie Männer. Sie fragte sich, in welchen Geschäften man wohl diese Holzklötze kaufen könne, doch dann bog Nynaeve mit ihrem Schwarzen plötzlich in eine Gasse zwischen einem langen, schmalen, zweistöckigen Gebäude und einem von Mauern geschützten Töpferladen ein. Egwene tauschte einen Blick mit Elayne. Die TochterErbin zuckte die Achseln, und so folgten sie ihr. Egwene hatte keine Ahnung, wohin Nynaeve wollte und wieso. Sie würde wohl mit Nynaeve ein ernstes Wörtchen reden müssen. Aber natürlich wollte sie auch nicht von den anderen getrennt werden.
Die Gasse endete plötzlich in einem kleinen Hinterhof, der eingezwängt zwischen den umstehenden Gebäuden lag. Nynaeve war bereits abgestiegen und hatte die Zügel an einen Feigenbaum gebunden, so daß ihr Hengst nicht an das Grünzeug gelangen konnte, das in einem kleinen Gemüsegarten wuchs, der etwa die halbe Fläche des Hinterhofs einnahm. Eine saubere Reihe von Steinen wies den Weg zum Hintereingang. Nynaeve ging zur Tür und klopfte an.
»Was ist los?« fragte Egwene unwillkürlich. »Warum halten wir hier an?«
»Habt ihr die Kräuter im Vorderfenster gesehen?« Nynaeve klopfte noch mal an.
»Kräuter?« fragte Elayne.
»Eine Seherin«, sagte Egwene zu ihr, und sie stieg ab und band Nebel neben Nynaeves Schwarzem an. Gaidin ist kein schöner Name für ein Pferd. Glaubt sie, ich wüßte nicht, wen sie damit meint? »Nynaeve hat eine Seherin oder Sucherin, oder wie sie das hier nennen, aufgespürt.«
Eine Frau öffnete die Tür einen Spaltbreit und blickte mißtrauisch hinaus. Zuerst glaubte Egwene, sie sei mager, aber dann machte die Frau die Tür vollends auf. Sie war recht gut gepolstert, wie sich jetzt zeigte, aber ihre Bewegungen zeugten von beachtlichen Muskeln. Sie wirkte genauso kräftig wie Frau Luhhan, und ein paar Leute in Emondsfeld behaupteten ja, Alsbet Luhhan sei fast genauso stark wie ihr Mann. Es stimmte wohl nicht, war aber doch auch nicht so weit von der Wahrheit entfernt.
»Wie kann ich Euch helfen?« fragte die Frau in einem Akzent ähnlich dem der Amyrlin. Ihr graues Haar hing ihr in dichten Locken fast bis auf die Schultern, und ihre drei Schürzen waren grün, jede etwas dunkler als die darunter, doch selbst die oberste nur blaßgrün. »Welche von Euch braucht mich?«
»Ich«, sagte Nynaeve. »Ich brauche etwas gegen Übelkeit. Und eine meiner Begleiterinnen möglicherweise auch. Falls wir hier überhaupt richtig sind?«
»Ihr kommt nicht aus Tear«, sagte die Frau. »Das hätte ich eigentlich schon an Eurer Kleidung sehen müssen, bevor ich Euch sprechen hörte. Man nennt mich Mutter Guenna. Man bezeichnet mich auch als Weise Frau, aber ich bin alt genug, um auf solche Schmeicheleien nichts zu geben. Kommt herein, und ich gebe Euch etwas für Euren Magen.«
Es war eine saubere, ordentliche Küche, in die sie geführt wurden. Sie war nicht groß, an der Wand hingen Kupfertöpfe, und an der Decke waren getrocknete Kräuter und Würste aufgehängt. Die Türen mehrerer großer Schränke aus hellem Holz trugen Schnitzereien, die irgendeine Art von hohem Gras darstellten. Die Tischfläche war fast weiß vom Scheuern. Die Stuhlrücken waren mit Blumenmustern verziert. Ein Topf mit einer nach Fisch riechenden Suppe köchelte auf dem Herd vor sich hin und dazu ein geschlossener Kessel mit einem Stutzen zum Ausgießen, der gerade zu dampfen begann. Im gemauerten Kamin brannte kein Feuer, und dafür war Egwene mehr als dankbar. Der Herd gab schon genug Hitze ab. Mutter Guenna schien das allerdings gar nicht zu bemerken. Auf dem Sims stand Geschirr und weiteres in den Regalen zu beiden Seiten. Der Fußboden sah aus, als sei er frisch gefegt worden.
Mutter Guenna schloß die Tür hinter ihnen, und während sie durch die Küche zu einem ihrer Schränke ging, fragte Nynaeve: »Welchen Tee wollt Ihr mir geben?
Kettenblatt? Oder Blauwarz?«
»Würde ich schon, wenn ich eines davon hätte.« Mutter Guenna kramte einen Augenblick lang in dem Schrank und holte dann ein Steingefäß heraus. »Da ich in letzter Zeit keine Gelegenheit hatte, etwas zu sammeln, werde ich Euch einen Aufguß von Sumpfweißchenblättern geben.«
»Das kenne ich nicht«, sagte Nynaeve bedächtig.
»Es wirkt genauso gut wie Kettenblatt, aber der Geschmack ist ein wenig beißend, und das mögen halt viele nicht.« Die große Frau zerbröselte getrocknete und zerteilte Blätter in eine blaue Teekanne hinein und trug sie zum Herd hinüber, um das Gemisch mit heißem Wasser aufzugießen. »Seid Ihr denn auch auf diesem Gebiet tätig? Setzt Euch.« Sie deutete mit einer Hand, in der sie zwei blauglasierte Teetassen hielt, die sie vom Kaminsims genommen hatte, auf den Tisch. »Setzt Euch, und wir unterhalten uns. Welcher von Euch ist es auch übel?«
»Mir geht's gut«, sagte Egwene leichthin, als sie sich einen Stuhl heranholte. »Ist dir schlecht, Caryla?« Die Tochter-Erbin schüttelte unwillig den Kopf.
»Spielt keine Rolle.« Die grauhaarige Frau goß Nynaeve eine Tasse der dunklen Flüssigkeit ein und setzte sich dann ihr gegenüber an den Tisch. »Ich habe genug für zwei gemacht, aber Tee aus Sumpfweißchenblättern hält sich länger als Stockfisch. Er wirkt auch besser, wenn er abgestanden ist, wenn er auch dabei ein wenig bitterer wird. Die Frage ist: Wieviel braucht Ihr, um Euren Magen zu beruhigen, und wieviel könnt Ihr eurer Zunge zumuten? Trinkt, Mädchen.« Einen Augenblick später goß sie die zweite Tasse ein und nippte selbst daran. »Seht Ihr? Es tut nicht weh.«
Nynaeve hob ihre Tasse, und beim ersten Schluck seufzte sie angewidert. Als sie die Tasse wieder abstellte, sah man ihr aber nichts mehr an. »Es schmeckt halt nur ein wenig bitter. Sagt mir, Mutter Guenna, wird es noch lange andauern, daß wir diesen Regen und Matsch ertragen müssen?«
Die alte Frau runzelte die Stirn und verteilte dann wenig erfreute Blicke an alle drei Frauen. Schließlich sah sie wieder Nynaeve an. »Ich bin kein Windsucher des Meervolks, Mädchen«, sagte sie ruhig. »Wenn ich das Wetter vorhersagen könnte, würde ich mir lieber lebendige Hechte ins Kleid stecken, als es zugeben. Die Verteidiger betrachten diese Art von Dingen als beinahe so schlimm wie das, was die Aes Sedai tun. Also, seid Ihr im gleichen Gewerbe tätig oder nicht? Ihr seht aus, als wärt Ihr weit gereist. Was ist gut gegen Erschöpfung?« fuhr sie plötzlich Nynaeve an.
»Plattwurztee«, antwortete Nynaeve gelassen, »oder Andilay-Wurzel. Da Ihr schon fragt, was würdet Ihr denn tun, um eine Geburt zu erleichtern?«
Mutter Guenna schnaubte: »Gewärmte Handtücher auflegen, Kind, und vielleicht ein wenig Weißfenchel geben, falls die Geburt außergewöhnlich schwer ist. Mehr braucht eine Frau nicht, außer einer lindernden Hand. Könnt Ihr euch nicht eine Frage ausdenken, die nicht jede Bauersfrau beantworten kann? Was gebt Ihr bei Herzschmerzen? Bei den wirklich tödlichen?«
»Zerstoßene Gheandin-Blüte auf die Zunge«, sagte Nynaeve knapp. »Wenn eine Frau stechende Magenschmerzen hat und Blut im Speichel, was tut Ihr dann?«
So überprüfte nun jede die andere. Schneller und schneller jagten sich Fragen und Antworten. Manchmal wurde das Frage-und-Antwort-Spiel kurz unterbrochen, wenn eine von einer Pflanze sprach, die die andere nur unter einem anderen Namen kannte, aber dann wurden sie wieder schneller, erörterten die Vorteile von Tinkturen gegenüber Aufgüssen, Salben gegenüber Packungen, und wann das eine oder das andere besser sei. Langsam häuften sich die Fragen zu Kräutern und Wurzeln, die einer bekannt und der anderen unbekannt waren. Beide waren äußerst lernbegierig. Egwene wurde beim Zuhören ganz kribbelig.
»Nachdem man einen Knochen gerichtet hat«, sagte Mutter Guenna, »wickelt man das gebrochene Glied in nasse Handtücher. In dem Wasser, das man in die Handtücher ziehen läßt, hat man vorher blaue Ziegenblumen ausgekocht — nur die blauen aber, das ist wichtig!« Nynaeve nickte ungeduldig. »Und der Wickel muß so heiß sein, daß es gerade noch auszuhalten ist. Ein Teil blaue Ziegenblumen auf zehn Teile Wasser. Schwächer darf es nicht sein. Sobald die Handtücher nicht mehr dampfen, muß man den Wickel erneuern, und das den ganzen Tag lang. Der Knochen wird doppelt so schnell heilen und wird auch doppelt so fest danach.«
»Das werde ich mir merken«, sagte Nynaeve. »Ihr habt erwähnt, daß Ihr Schafszungenwurz gegen Augenschmerzen verwendet. Ich habe noch nie gehört... «
Egwene hielt es nicht länger aus. »Maryim«, unterbrach sie die beiden, »glaubst du wirklich, daß du all dieses Wissen noch jemals benötigen wirst? Du bist keine Seherin mehr, oder hast du das vergessen?«
»Ich habe überhaupt nichts vergessen«, sagte Nynaeve in scharfem Ton. »Ich erinnere mich an Zeiten, wo du genauso darauf aus warst, alles Neue zu lernen, wie ich.«
»Mutter Guenna«, fragte Elayne übertrieben freundlich, »was gebt Ihr zwei Frauen, die mit dem Streiten nicht aufhören können?«
Die grauhaarige Frau spitzte die Lippen und blickte nachdenklich die Tischplatte an. »Normalerweise, ob es sich nun um Männer oder Frauen dreht, rate ich ihnen, sich voneinander fernzuhalten. Das ist am besten und am einfachsten.«
»Normalerweise?« hakte Elayne nach. »Und wenn sie einen Grund haben, warum sie sich nicht voneinander fernhalten können? Wenn sie beispielsweise Schwestern sind?«
»Ich habe schon ein Mittel, um jemanden zu bremsen, der streitsüchtig ist«, sagte die große Frau bedächtig. »Es ist nichts, was ich jemandem weiterempfehlen würde, aber manche kommen halt damit zu mir.« Egwene glaubte, die Andeutung eines Lächelns um ihre Lippen spielen zu sehen. »Ich verlange von beiden Frauen je eine Silbermark. Bei Männern zwei, denn Männer machen mehr Aufhebens. Außerdem kaufen manche Leute einfach alles, wenn der Preis hoch genug ist.«
»Aber was ist nun das Heilmittel?« fragte Elayne.
»Ich sage ihnen, daß sie ihre Kontrahentin hierher mitbringen müssen. Beide erwarten, daß ich die andere zur Ruhe bringe.« — Unwillkürlich lauschte Egwene doch. Sie bemerkte, daß auch Nynaeve ganz genau aufpaßte. »Wenn sie mich bezahlt haben«, fuhr Mutter Guenna fort, und dabei streckte sie einen kräftigen Arm aus und spannte ihre Muskeln an, »bringe ich sie hinten auf den Hof hinaus und stecke ihre Köpfe solange in meine Regentonne, bis sie sich darauf einigen, mit der Streiterei aufzuhören.«
Elayne lachte schallend los.
»Ich glaube, etwas Ähnliches hätte ich an Eurer Stelle auch getan«, sagte Nynaeve in etwas zu lockerem Tonfall. Egwene hoffte, ihr Gesichtsausdruck sähe dem Nynaeves nicht zu ähnlich.
»Das würde mich keineswegs überraschen.« Mutter Guenna grinste jetzt ganz offen. »Ich sage ihnen, wenn ich wieder höre, daß sie sich streiten, mache ich es für sie umsonst, aber ich benütze den Fluß dafür. Es ist bemerkenswert, wie gut diese Kur wirkt, besonders bei Männern. Aus irgendeinem Grund erzählt keine der Personen, die ich auf diese Art geheilt habe, anderen die Einzelheiten meiner Kur. Deshalb fragt mich alle paar Monate jemand danach. Wenn man dumm genug war, Schlammspringer zu essen, rennt man nicht herum und erzählt es allen Leuten. Ich nehme an, keine von Euch will eine Silbermark ausgeben?«
»Ich glaube nicht«, sagte Egwene, und sie blickte Elayne finster an, die schon wieder in Gelächter ausbrach.
»Gut«, sagte die grauhaarige Frau. »Diejenigen, die ich von ihrer Streitsucht kuriere, scheinen mich später zu meiden wie Nesseltang im Netz, außer, sie werden wirklich krank, und ich genieße Eure Anwesenheit. Die meisten, die zur Zeit kommen, wollen etwas haben, um ihre Alpträume zu verscheuchen, und sie werden böse, wenn ich ihnen nichts dagegen geben kann.« Einen Augenblick lang runzelte sie wieder die Stirn und rieb ihre Schläfen. »Es tut gut, drei Gesichter zu sehen, die nicht wirken, als ob alles zu spät sei und nichts anderes mehr bliebe, als ins Wasser zu gehen. Falls Ihr länger in Tear bleibt, müßt Ihr mich unbedingt wieder besuchen. Das Mädchen hat Euch Maryim genannt? Ich heiße Ailhuin. Beim nächsten Mal trinken wir einen guten Tee von den Inseln des Meervolks, wenn wir uns unterhalten, und nichts, was einem beim Trinken die Strümpfe auszieht. Licht, ich hasse den Geschmack von Sumpfweißchen; Schlammspringer schmecken da noch besser. Und falls Ihr jetzt noch Zeit habt, ein wenig zu bleiben, brühe ich uns einen Schwarzen von Tremalking. Es ist auch nicht mehr lang, bis das Essen fertig ist. Ich habe nur Brot und Suppe und Käse, aber Ihr seid herzlich willkommen.«
»Das wäre sehr schön, Ailhuin«, sagte Nynaeve. »Es ist so... Ailhuin, falls Ihr ein Zimmer übrig habt, dann würde ich das gern für uns drei mieten.«
Die große Frau sah eine nach der anderen schweigend an. Dann stand sie auf, stellte die Kanne mit dem Sumpfweißchentee in den Kräuterschrank und holte aus einem anderen eine rote Teekanne und einen Beutel heraus. Erst nachdem sie ihnen eine Kanne mit schwarzem Tee von Tremalking gebraut, vier frische Tassen und eine Schüssel Honigscheiben sowie Zinnlöffel dafür auf den Tisch gestellt und wieder Platz genommen hatte, sprach sie weiter: »Ich habe oben drei leerstehende Schlafzimmer, da meine Töchter alle verheiratet sind. Mein Mann, das Licht sei ihm gnädig, ist seit einem Sturm bei den Fingern des Drachen vor beinahe zwanzig Jahren verschollen. Ich will auch nichts von mieten hören, wenn ich Euch die Zimmer überlasse. Falls ich das mache, Maryim.« Sie verrührte Honig in ihren Tee und musterte sie wieder.
»Was kann Euch die Entscheidung erleichtern?« fragte Nynaeve leise.
Ailhuin rührte weiter, als habe sie zu Trinken vergessen. »Drei junge Frauen auf guten Pferden. Ich weiß nicht viel über Pferde, aber die hier sehen meiner Meinung nach so aus, wie die von Lords und Ladies. Ihr, Maryim, versteht genug von meinem Gewerbe, daß Ihr euch längst auch Kräuter ins Fenster hättet hängen oder zumindest überlegen sollen, wo Ihr euch selbständig macht. Ich habe noch nie gehört, daß eine Frau dieses Gewerbe sehr weit von ihrem Geburtsort entfernt betreibt, aber Eurem Akzent nach zu schließen, kommt Ihr von weit her.« Sie sah Elayne an. »Es gibt Haar von dieser Farbe nicht gerade häufig. Eurer Sprache nach würde ich auf Andor tippen. Die närrischen Männer quatschen immer davon, daß sie ein Mädchen mit gelbem Haar aus Andor haben wollen. Ich möchte gern wissen, warum Ihr hier seid? Seid Ihr vor irgend etwas weggerannt? Oder rennt Ihr hinter jemandem her? Nur, Ihr wirkt nicht gerade wie Diebinnen auf mich und ich habe auch noch nie gehört, daß drei Frauen hinter dem gleichen Mann her sind. Also nennt mir Eure Gründe, und wenn mir danach ist, habt Ihr die Zimmer. Wenn Ihr etwas bezahlen wollt, dann kauft meinetwegen hin und wieder ein Stück Fleisch. Fleisch ist teuer, seit der Handel mit Cairhien zum Erliegen kam. Aber zuerst: Warum, Maryim?«
»Wir jagen etwas, Ailhuin«, sagte Nynaeve. »Oder besser, wir verfolgen einige Leute.« Egwene zwang sich zur Ruhe und hoffte, dabei genauso erfolgreich zu sein wie Elayne, die ihren Tee schlürfte, als lausche sie einem Gespräch über Kleider. Egwene glaubte nicht, daß den dunklen Augen Ailhuin Guennas viel entging. »Sie haben Sachen gestohlen, Ailhuin«, fuhr Nynaeve fort. »Von meiner Mutter. Und sie haben gemordet. Wir sind hier, um Gerechtigkeit zu üben.«
»Seng meine Seele«, sagte die große Frau. »Habt Ihr denn keine Männer in der Familie? Männer sind wohl die meiste Zeit über zu nicht viel gut außer, schwere Sachen zu tragen und einem im Weg zu stehen, na ja, und zum Küssen und so, aber wenn es eine Schlacht zu bestehen oder einen Dieb zu fangen gilt, würde ich das ihnen überlassen. Andor ist doch genauso zivilisiert wie Tear. Ihr seid keine Aiel.«
»Es waren nur wir drei vorhanden, die das unternehmen konnten«, sagte Nynaeve. »Diejenigen, die an unserer Stelle hätten kommen können, wurden getötet.«
Die drei ermordeten Aes Sedai, dachte Egwene. Sie waren bestimmt keine Schwarzen Ajah. Aber wären sie nicht ermordet worden, hätte ihnen die Amyrlin nie wieder vertrauen können. Sie versucht, sich an die Drei Eide zu halten, aber es ist verdammt knapp.
»Aaaah«, brachte Ailhuin traurig hervor. »Sie haben Eure Männer getötet? Brüder oder Ehemänner oder Väter?« Nynaeve bekam rote Flecken auf den Wangen, und die ältere Frau mißverstand diese Gefühlsäußerung. »Nein, sagt mir nichts, Mädchen. Ich werde altes Leid nicht wieder ausgraben. Laß es auf dem Boden liegen, bis es schmilzt. Kommt, beruhigt Euch wieder.« Es kostete Egwene Mühe, nicht angewidert zu knurren.
»Ich muß Euch soviel sagen«, sagte Nynaeve steif. Ihr Gesicht war immer noch gerötet. »Diese Mörder und Diebe sind Schattenfreunde. Es sind Frauen, aber sie sind genauso gefährlich wie jeder gute Schwertkämpfer, Ailhuin. Falls Ihr euch gefragt habt, warum wir uns nicht eine Schenke suchen, dann kennt Ihr jetzt den Grund. Sie wissen wahrscheinlich, daß wir sie verfolgen und halten Ausschau nach uns.«
Ailhuin winkte nur ab und schniefte vernehmlich. »Von den vier gefährlichsten Menschen, die ich kenne, sind zwei Frauen, die nicht einmal ein Messer tragen, und nur einer der Männer kämpft mit dem Schwert. Was Schattenfreunde betrifft... Maryim, wenn Ihr einmal so alt seid wie ich, dann wißt Ihr: Falsche Drachen sind gefährlich, Löwenfische sind gefährlich, Haie sind gefährlich, genau wie plötzlich auftauchende Stürme von Süden her, aber Schattenfreunde sind Narren. Schmutzige Narren, aber eben nicht mehr als das. Der Dunkle König ist dort eingesperrt, wo ihn der Schöpfer hinbrachte, und keine Fänger oder Fangfisch, mit denen man die Kinder erschreckt, können ihn da wieder herausholen. Vor Narren habe ich keine Angst, außer, wenn sie das Boot lenken, in dem ich sitze. Ich schätze, Ihr habt keine Beweise, mit denen Ihr zu den Verteidigern des Steins gehen könntet? Es stünde dann wohl lediglich ihr Wort gegen Eures?«
Was ist ein ›Fänger‹? fragte sich Egwene. Oder auch ein ›Fangfisch‹?
»Wir haben die Beweise, wenn wir sie finden«, sagte Nynaeve. »Sie werden die gestohlenen Dinge bei sich haben und wir können sie beschreiben. Es sind alte Sachen und von keinem großen Wert, außer eben für uns und unsere Freunde.«
»Ihr wärt überrascht, was alte Dinge wert sein können«, sagte Ailhuin trocken. »Der alte Leuese Mulan hat letztes Jahr mit seinem Netz drei Herzsteinschüsseln und einen Becher bei den Fingern des Drachen heraufgeholt. Jetzt ist er nicht mehr der Eigentümer eines Fischkutters, sondern eines Handelsschiffes, das den Fluß hinauf Güter befördert. Der alte Narr wußte noch nicht einmal, was er da eingefangen hatte, bis ich es ihm sagte. Höchstwahrscheinlich gibt es noch mehr davon, wo die herkamen, aber Leuese konnte sich noch nicht einmal an die genaue Stelle erinnern, wo er alles hochgeholt hatte. Ich weiß nicht, wie er es jemals fertigbrachte, einen Fisch ins Netz zu bekommen. Die Hälfte aller Fischkutter von Tear ist noch monatelang dorthin gefahren und hat nach Cuendillar gefischt, anstatt nach Knurrhähnen und Schollen, und bei einigen haben sogar Lords angegeben, wo sie die Netze auswerfen sollten. So viel können alte Dinge wert sein, wenn sie alt genug sind. Also, ich habe schon gemerkt, daß Ihr einen Mann braucht, um Euch zu helfen, und ich kenne genau den richtigen.«
»Wen?« fragte Nynaeve schnell. »Wenn Ihr einen Lord meint, vielleicht einen der Hochlords, dann denkt daran, daß wir keine Beweise haben, solange wir sie nicht finden können.«
Ailhuin lachte, bis sie kaum mehr konnte. »Mädchen, niemand aus dem Mauleviertel kennt einen Hochlord persönlich oder auch nur irgendeinen Lord. Schlammspringer schwimmen nicht im gleichen Schwarm wie Silberflanken. Ich bringe Euch den gefährlichen Mann aus meiner Bekanntschaft, der nicht mit dem Schwert umgeht, und der ist von beiden durchaus der gefährlichere. Juilin Sandar ist ein Diebfänger. Der beste von ihnen. Ich weiß nicht, wie das in Andor ist, aber hier arbeitet ein Diebfänger genauso für mich wie für einen Lord oder einen Kaufmann, und er verlangt noch weniger dafür. Wenn sie überhaupt auffindbar sind, kann Juilin diese Frauen für Euch aufspüren und Eure Sachen zurückbringen, ohne daß Ihr diesen Schattenfreunden nahekommen müßt.«
Nynaeve stimmte etwas unsicher zu, und Ailhuin band sich diese Holzklötze unter die Schuhe — Klogs nannte sie sie — und eilte fort. Egwene blickte ihr durch eines der Küchenfenster hinterher, als sie an den Pferden vorbei und um die Ecke in die Gasse schritt.
»Du lernst allmählich, dich wie eine Aes Sedai zu verhalten, Maryim«, sagte sie, als sie sich wieder den anderen zuwandte. »Du manipulierst Menschen schon genauso gut wie Moiraine.« Nynaeve wurde leichenblaß.
Elayne ging mit zitternden Knien zu ihr hin und schlug Egwene ins Gesicht. Egwene war so überrascht, daß sie nur verdattert dastand. »Du gehst zu weit«, sagte die Frau mit dem goldenen Haar. »Zu weit! Wir müssen miteinander auskommen, oder wir sterben miteinander! Hast du etwa Ailhuin deinen richtigen Namen genannt? Nynaeve hat ihr alles gesagt, was sie wissen durfte, auch, daß wir nach Schattenfreunden suchen, und es war riskant genug, uns mit Schattenfreunden in Verbindung zu bringen. Sie sagte, sie seien gefährlich und Mörder. Wolltest du, daß sie sagt, es seien Schwarze Ajah? In Tear? Würdest du alles auf die Gefahr hin riskieren, daß Ailhuin vielleicht doch nicht den Mund halten kann?«
Egwene rieb sich vorsichtig die brennende Wange. »Es muß mir ja deswegen nicht gerade gefallen.«
»Ich weiß«, seufzte Elayne. »Mir auch nicht. Aber wir müssen es eben so machen.«
Egwene wandte sich wieder um und blickte durchs Fenster zu ihren Pferden hinüber. Ich weiß es ja. Aber es muß mir schließlich nicht auch noch gefallen.