4 Schlafende Schatten

Der Schankraum des Wirtshauses war kalt, obwohl in dem langen gemauerten Kamin ein Feuer prasselte. Perrin rieb sich die Hände vor den Flammen, aber davon wurden sie auch nicht wärmer. Trotzdem wirkte die Kälte auf ihn eigenartigerweise beruhigend, als sei sie ein Schutzschild. Er wußte allerdings nicht, wogegen sie ihn schützen solle. Etwas murmelte leise in seinem Hinterkopf. Es war nur ein ganz verschwommener Laut, als kratze einer an der Tür, weil er hereinkommen wollte.

»Also gebt Ihr auf. Das ist auch das beste für Euch. Kommt. Setzt Euch, und wir reden miteinander.«

Perrin drehte sich um und musterte den Sprecher. Die im Raum verteilten runden Tische waren leer bis auf einen in einer Ecke, an dem der Mann in Schatten gehüllt saß. Der übrige Raum lag wie in feinem Dunst, wirkte mehr wie eine Ahnung denn ein wirklicher Ort. Alles, was er nicht direkt ansah, verschwamm ins Unwirkliche. Er blickte zurück zum Feuer. Jetzt brannte es auf einem Unterbau aus Backstein. Aber irgendwie störte ihn das alles nicht. Es sollte eigentlich. Aber er wußte nicht, warum.

Der Mann winkte ihn heran, und Perrin ging hinüber zu ihm. Er saß an einem viereckigen Tisch. Alle Tische waren viereckig. Mit gerunzelter Stirn streckte er einen Finger aus, um die Tischplatte zu berühren, zog aber dann doch die Hand zurück. In dieser Ecke des Raums gab es keine Lampen, und trotz der übrigen Beleuchtung waren der Mann und sein Tisch beinahe völlig verborgen, verschwammen mit der Dämmerung.

Perrin hatte das Gefühl, er kenne den Mann, aber das war genauso vage wie alles, was er aus den Augenwinkeln sah. Der Bursche war von mittleren Jahren, sah gut aus und war für eine Landschenke zu gut gekleidet. Er trug dunkle, beinahe schwarze Samtkleidung und am Kragen sowie an den Manschetten weiße Spitzen. Er saß steif da und preßte manchmal die Hand auf seine Brust, als schmerze ihn jede Bewegung. Seine dunklen Augen waren starr auf Perrin gerichtet. Sie erschienen ihm wie glitzernde Punkte im Schatten.

»Was aufgeben?« fragte Perrin.

»Das natürlich.« Der Mann nickte in Richtung von Perrins Hüfte. Er hörte sich überrascht an, als hätten sie schon vorher über dieses Thema diskutiert, als sei das ein alter Streitpunkt zwischen ihnen.

Perrin war gar nicht bewußt gewesen, daß seine Axt am Gürtel hing. Er hatte ihr Gewicht nicht gespürt. Er fuhr mit der Hand über die halbmondförmige Schneide und den dicken Schaft. Der Stahl fühlte sich... real an. Realer als alles um ihn herum. Vielleicht sogar realer als er selbst. Er behielt die Hand dort, um sich daran zu klammern.

»Ich habe daran gedacht«, sagte er, »aber ich glaube nicht, daß ich kann. Noch nicht.« Noch nicht? Die Schenke schien zu flimmern, und wieder war da dieses Rumoren in seinem Kopf. Nein! Es verschwand wieder.

»Nein?« Der Mann lächelte. Es war ein kaltes Lächeln. »Ihr seid doch Schmied, Junge. Und danach zu schließen, was ich hörte, seid Ihr ein guter Schmied. Eure Hände wurden für den Hammer geschaffen und nicht für die Axt. Geschaffen, Dinge herzustellen, und nicht, um damit zu töten. Kehrt um, bevor es zu spät ist.«

Perrin wurde bewußt, daß er nickte. »Ja. Aber ich bin ta'veren.« Er hatte das noch nie laut ausgesprochen. Aber er weiß es doch schon. Da war er sicher, auch wenn er nicht sagen konnte, warum.

Einen Moment lang verzog sich das Lächeln des Mannes zur Grimasse, doch dann war es wieder da und noch breiter als vorher. Eine kalte Kraft schien von ihm auszugehen. »Es gibt Möglichkeiten, so etwas zu ändern, Junge. Wege, um sogar das Schicksal zu überlisten. Setzt Euch und wir reden darüber.« Die Schatten schienen sich zu verschieben und zu verdichten. Sie griffen nach ihm.

Perrin trat einen Schritt zurück ins hellere Licht hinein. »Lieber nicht.«

»Dann trinkt wenigstens mit mir. Auf die vergangenen Jahre und auf die kommenden. Hier, danach werdet Ihr die Dinge klarer sehen.« Der Becher, den der Mann über den Tisch schob, war einen Moment vorher noch nicht dagewesen. Er glänzte hellsilbern und war bis zum Rand mit dunklem, blutrotem Wein gefüllt.

Perrin musterte das Gesicht des Mannes. Selbst seinen scharfen Augen fiel das schwer, denn die Schatten verbargen das Gesicht des Mannes ähnlich wie der Umhang eines Behüters. Die Dunkelheit umspielte den Mann zärtlich. Da war etwas in den Augen des Mannes... Wenn er sich nur bemühte, würde er sich bestimmt daran erinnern. Das Rumoren kehrte wieder.

»Nein«, sagte er. Er sprach das leise Rumoren in seinem Kopf an, doch als sich der Mund des Mannes zornig verzog, da er sich angesprochen fühlte — wobei er diesen kurzen Wutausbruch sofort wieder unterdrückte —, entschied Perrin, daß seine Ablehnung auch dem Wein gelten werde. »Ich habe keinen Durst.«

Er drehte sich um und ging Richtung Tür. Der Kamin bestand aus abgerundeten Flußsteinen. Im Raum standen ein paar lange Tische mit Bänken daran. Plötzlich wollte er nur nach draußen und weg von diesem Mann.

»Ihr werdet nicht viele Chancen bekommen«, sagte der Mann hinter ihm mit harter Stimme. »Drei miteinander verwobene Fäden teilen sich das gleiche Verhängnis. Wenn einer durchschnitten wird, dann zerreißen alle. Das Schicksal kann Euch töten oder noch Schlimmeres mit Euch machen.«

Perrin fühlte plötzlich Hitze in seinem Rücken. Sie wurde intensiver und verklang dann aber auch schnell, als hätten sich die Türen eines riesigen Schmelzofens geöffnet und wieder geschlossen. Überrascht wandte er sich um. Der Raum war leer.

Nur ein Traum, sagte er sich vor Kälte zitternd, und damit verschob sich alles.

Er blickte in den Spiegel. Ein Teil seiner selbst verstand nicht, was er da sah, während ein anderer Teil es hinnahm. Er trug wie selbstverständlich einen vergoldeten Helm in Form eines Löwenkopfes. Auf seinem gehämmerten Brustpanzer waren goldene Blätter zu sehen, und auch die Kettenärmel und Beinschützer waren mit Gold verziert. Nur die Axt an seiner Seite war die gleiche. Eine Stimme — seine eigene — flüsterte ihm im Geist zu, daß er diese Waffe lieber als jede andere trüge, daß er sie tausendmal getragen hatte in hundert Schlachten. Nein! Er wollte sie aus der Schlaufe ziehen und wegwerfen. Ich kann nicht! In seinem Kopf erklang eine Stimme, lauter als das übliche Gemurmel, beinahe so, daß er sie verstehen konnte.

»Ein Mann, der zum Ruhm geboren wurde.« Er wirbelte herum und sah sich der schönsten Frau gegenüber, die er je gesehen hatte. Er sah überhaupt nichts, was den Raum betraf, in dem er sich befand. Er hatte nur Augen für sie. Ihre Augen waren Mitternachtsseen, ihre Haut blaß und sicherlich zarter noch als ihr Kleid aus weißer Seide. Als sie auf ihn zukam, trocknete sein Mund aus. Ihm wurde klar, daß jede andere Frau, die er jemals gesehen hatte, dagegen plump und formlos wirken mußte. Er schauderte und fragte sich, woher die Kälte kam.

»Ein Mann sollte sein Schicksal in beide Hände nehmen«, sagte sie lächelnd. Dieses Lächeln reichte beinahe aus, um ihm warm werden zu lassen. Sie war hochgewachsen, und nur eine Handbreit fehlte, um ihm direkt in die Augen blicken zu können. Silberne Kämme steckten in rabenschwarzem Haar. Ein breiter Gürtel aus silbernen Einzelgliedern umspannte eine Taille, die er mit seinen Händen hätte umfassen können.

»Ja«, flüsterte er. In seinem Innern stritt Überraschung gegen Zustimmung. Er brauchte keinen Ruhm. Aber wenn sie es sagte, gab es nichts Erstrebenswerteres. »Ich meine...« Das Gemurmel bohrte in seinem Kopf. »Nein!« Es war weg, und genauso war für den Moment jedenfalls alle Zustimmung verflogen. Beinahe. Er hob eine Hand zum Kopf und berührte den Helm. Er nahm ihn ab. »Ich... glaube nicht, daß ich das brauche. Es gehört mir nicht.«

»Ihr wollt es nicht?« Sie lachte. »Welcher Mann, in dessen Adern Blut strömt, wollte keinen Ruhm? Genausoviel Ruhm, als hättet Ihr das Horn von Valere geblasen.«

»Ich nicht«, sagte er, und ein Teil von ihm schrie auf und bezichtigte ihn der Lüge. Das Horn von Valere. Das Horn erklang, und der wilde Angriff begann. Der Tod ritt neben ihm, und trotzdem wartete auch sie dort auf ihn. Seine Geliebte. Sein Verhängnis. »Nein! Ich bin ein Schmied.«

Ihr Lächeln war mitleidig. »Was für ein bescheidener Wunsch. Ihr müßt denen nicht gehorchen, die Euch von Eurem Schicksal abbringen wollen. Sie würden Euch erniedrigen, demütigen, Euch zerstören. Sich dem Schicksal entgegenzustemmen bringt nur Schmerz. Warum den Schmerz suchen, wenn Ihr den Ruhm haben könnt? Wenn Euer Name neben denen aller Helden der Legende erklingen kann?« »Ich bin kein Held.«

»Ihr wißt nicht einmal die Hälfte darüber, was Ihr seid. Oder was Ihr sein könntet. Kommt, trinkt einen Becher mit mir auf das Schicksal und den Ruhm.« In der Hand hielt sie einen glänzenden Silberbecher, der mit blutrotem Wein gefüllt war. »Trinkt!«

Er sah den Becher mit gerunzelter Stirn an. Es war etwas... Vertrautes daran. Ein Knurren nagte an seinem Gehirn. »Nein!« Er kämpfte sich davon frei, wollte nicht hinhören. »Nein!«

Sie hielt ihm den goldenen Becher hin. »Trinkt!«

Golden? Ich dachte, der Becher sei... Er war... Der Rest des Gedankens entglitt ihm. Doch in seine Verwirrung hinein erklang der Laut in seinem Kopf erneut, nagend, auffordernd. »Nein«, sagte er. »Nein!« Er sah den goldenen Helm in seinen Händen an und warf ihn weg. »Ich bin Schmied. Ich bin... « Der Laut in seinem Kopf kämpfte gegen ihn an, näherte sich der Stärke, mit der er hörbar wurde. Er wickelte die Arme um den Kopf, um ihn auszusperren, und sperrte ihn damit nur ein. »Ich-bin-ein-Mensch!« schrie er.

Dunkelheit umgab ihn, doch ihre Stimme folgte ihm und flüsterte: »Die Nacht ist immer da, und alle Menschen träumen. Besonders Ihr, mein Wilder. Und ich werde immer in Euren Träumen sein.«

Stille.

Er senkte die Arme. Er war wieder in seinen eigenen Mantel und seine Hosen gekleidet, fest und von gutem Stoff, wenn auch einfach. Passende Kleidung für einen Schmied oder jeden Landmann. Doch er bemerkte sie kaum.

Er stand auf einer Steinbrücke mit niedrigem Geländer, die sich von einer oben abgeflachten Säule zu einer anderen schwang. Die Säulen erhoben sich aus einem Abgrund, dessen Boden er nicht erkennen konnte. Der Lichtschein wäre für andere Augen sowieso schon zu trüb gewesen, und selbst er konnte nicht erkennen, woher er kam. Er war einfach da. Wohin er auch blickte, nach links oder rechts, nach oben oder unten, überall sah er weitere Brücken, weitere Säulen und Rampen ganz ohne Geländer. Es schien kein Ende zu geben und kein feststellbares Muster. Noch schlimmer: Einige der Rampen schwangen sich hoch zu den Spitzen von Säulen, die sich genau über denen befinden mußten, von denen die Rampen ausgingen. Tropfendes Wasser warf Echos in diesen riesigen Raum. Der Laut schien von überall her gleichzeitig zu kommen. Er zitterte vor Kälte.

Plötzlich nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, und automatisch duckte er sich hinter das Steingeländer. Es lag eine Gefahr darin, gesehen zu werden. Er wußte nicht, warum, nur, daß es stimmte. Er wußte es eben.

Vorsichtig spähte er über das Geländer und suchte nach dem Ursprung der Bewegung. Auf einer fernen Rampe blitzte es weiß auf. Eine Frau, da war er sicher, aber er konnte sie nicht recht erkennen. Eine Frau in einem weißen Kleid, die irgendwohin eilte.

Plötzlich erschien auf einer Brücke gleich unter ihm und damit viel näher, als sich die Frau befunden hatte, ein Mann, groß und dunkel und schlank. Das Silber in seinem schwarzen Haar ließ ihn würdevoll wirken. Sein dunkelgrüner Mantel war überall mit goldenen Blättern bestickt. Goldzierat bedeckte seinen Gürtel und die Börse, und auf der Scheide seines Dolches schimmerten Edelsteine. Seine Stiefelschäfte hatten oben einen goldenen Rand. Wo war er hergekommen?

Ein weiterer Mann betrat von der anderen Seite her die Brücke, genauso überraschend wie der erste. Schwarze Streifen zogen sich durch die bauschigen Ärmel seines roten Mantels, und an Kragen und Manschetten hingen dichte, blasse Spitzen herunter. Seine Stiefel waren so mit Silber verziert, daß man kaum noch Leder sah. Er war kleiner als der Mann, dem er entgegenging, breitschultriger, und sein kurzgeschnittenes Haar war so weiß wie die Spitzen, die er trug. Das Alter machte ihn aber keineswegs gebrechlich. Er schritt mit dem gleichen Ausdruck arroganter Kraft dahin wie der andere Mann. Die beiden näherten sich einander sehr vorsichtig. Wie zwei Pferdehändler, die wissen, daß einer dem anderen eine lahme Stute andrehen will, dachte Perrin.

Die Männer begannen, miteinander zu sprechen. Perrin spitzte die Ohren, aber über all das Klatschen der Wassertropfen hinweg konnte er nur ein Gemurmel hören. Düstere und gar zornige Blicke und abrupte Bewegungen, als wollten sie zuschlagen. Sie trauten einander nicht. Er glaubte sogar, daß sie einander haßten.

Er blickte hoch und suchte nach der Frau, doch sie war verschwunden. Als er wieder hinuntersah, hatte sich ein weiterer Mann zu den beiden anderen gesellt. Und irgendwie, irgendwoher, kannte ihn Perrin. Es war wie eine Erinnerung an etwas lange Vergangenes. Ein gutaussehender Mann von mittleren Jahren, in beinahe schwarzen Samt mit weißen Spitzen gekleidet. Eine Schenke, dachte Perrin. Und noch etwas davor. Etwas... Vor langer, langer Zeit schien das alles gewesen zu sein. Aber die Erinnerung stellte sich nicht ein.

Die beiden ersten Männer standen nun Seite an Seite, als habe die Gegenwart des Neuankömmlings sie zu unfreiwillig Verbündeten gemacht. Er schrie sie an und drohte mit der Faust, während sie nervös von einem Fuß auf den anderen traten und seinen Blick mieden. Wenn die beiden sich auch haßten, so fürchteten sie ihn noch mehr.

Seine Augen, dachte Perrin. Was ist so seltsam an seinen Augen?

Der große, dunkelhaarige Mann begann zu widersprechen; zuerst zögernd und dann immer heftiger. Der Weißhaarige schloß sich ihm an, und plötzlich zerbrach ihr zeitweiliges Bündnis. Alle drei schrien sich gleichzeitig an — jeder die beiden anderen. Mit einem Mal breitete der Mann in dunklem Samt die Arme aus, als wolle er den Streit abbrechen. Und ein sich ausdehnender Feuerball hüllte sie ein, verbarg sie, wuchs und wuchs.

Perrin wickelte die Arme schützend um seinen Kopf und ließ sich hinter das Steingeländer fallen. Dort kauerte er, während der Wind ihn zauste und an seiner Kleidung riß. Der Wind war heiß wie Feuer. Der Wind war Feuer. Selbst mit geschlossenen Augen konnte er es sehen. Flammen umschlossen alles, drangen durch alles hindurch. Der Feuersturm durchraste auch ihn. Er konnte ihn fühlen, wie er brannte und zog und versuchte, ihn zu verschlingen und die Asche zu verstreuen. Er schrie, klammerte sich an sein Leben und wußte doch, daß es nicht reichte.

Und von einem Herzschlag zum nächsten war der Sturm vorbei. Er verging nicht langsam, nein, im einen Moment noch peitschte ihn der Sturm und im nächsten herrschte absolute Stille. Der einzige Laut war das Echo klatschender Wassertropfen.

Langsam setzte sich Perrin auf und untersuchte sich. Seine Kleidung war nicht einmal versengt, und seine freiliegende Haut wies keine Brandwunde auf. Nur die Erinnerung an die Hitze ließ ihn glauben, daß es wirklich geschehen war. Die Erinnerung lag nur in seinem Geist allein; der Körper erinnerte sich an nichts.

Vorsichtig blickte er über das Geländer. Von der Brücke, auf der die Männer gestanden hatten, war auf jeder Seite nur ein kurzes Stück abgeschmolzenen Steins zu sehen. Die Männer waren verschwunden.

Seine Nackenhaare prickelten und richteten sich auf. Er blickte hoch. Auf einer Rampe über ihm und etwas rechts abgesetzt stand ein zerzauster grauer Wolf und sah ihn an.

»Nein!« Er sprang auf und rannte los. »Das ist ein Traum! Ein Alptraum! Ich will aufwachen!« Er rannte, und alles in seiner Sicht verschwamm. Die verschwommenen Schlieren verschoben sich. Ein Summen erfüllte sein Gehör und verklang wieder. Dann verfestigte sich das Bild vor seinen Augen.

Er zitterte vor Kälte und wußte vom ersten Augenblick an ganz sicher, daß dies ein Traum war. Er war sich verschwommen schattenhafter früherer Träume bewußt, aber diesen nun kannte er. Er hatte sich in anderen Nächten bereits an diesem Ort befunden, und auch wenn er ihn nicht begriff, wußte er sich doch in einem Traum. Aber das Wissen änderte diesmal nichts.

Riesige rote Sandsteinsäulen umgaben die offene Fläche, auf der er stand. Fünfzig Schritt oder höher über seinem Kopf befand sich eine Kuppeldecke. Er und ein weiterer genauso großer Mann hätten eine dieser Säulen nicht mit ihren Armen umschließen können. Der Boden war mit großen, grauen Steinplatten ausgelegt, hart, und doch von unzähligen Generationen von Füßen ausgetreten.

Und in der Mitte unter der Kuppel befand sich der Grund dafür, daß all diese Füße hierhergekommen waren: ein Schwert, das mit dem Griff nach unten in der Luft hing, offensichtlich durch nichts gehalten, wo anscheinend jedermann danach greifen und es nehmen konnte. Es drehte sich langsam, wie durch einen schwachen Lufthauch bewegt. Und doch war es eigentlich gar kein Schwert. Es schien aus Glas zu bestehen, oder vielleicht aus Kristall, sowohl die Klinge wie auch der Griff und der Querbügel. Es fing das wenige Licht auf und zersplitterte es in tausend Blitze.

Er ging darauf zu und streckte die Hand aus, so wie jedesmal zuvor. Er erinnerte sich deutlich daran, daß er das getan hatte. Der Griff hing vor seinem Gesicht, leicht zu erreichen. Doch einen Fuß vor dem glitzernden Schwert traf seine Hand in der leeren Luft auf einen Widerstand. Als habe er Stein berührt. Wie er es ja auch gewußt hatte. Er drückte stärker dagegen, aber er hätte genauso gegen eine Wand drücken können. Das Schwert drehte sich und glitzerte, einen Fuß entfernt und doch so weit außerhalb seiner Reichweite, als befände es sich auf der anderen Seite des Meeres.

Callandor. Er war nicht sicher, ob die flüsternde Stimme sich in seinem Kopf befand oder außerhalb; sie schien um die Säulen herumzuklingen, überall gleichzeitig, eindringlich und doch sanft wie eine Frühlingsbrise. Callandor. Wer mich führt, der hält das Schicksal in Händen. Nimm mich und trete die letzte Reise an. Er trat in plötzlich aufkeimender Angst einen Schritt zurück. Dieses Flüstern war noch nie zuvor erklungen.

Viermal schon hatte er diesen Traum geträumt. Daran erinnerte er sich genau: vier Nächte lang, eine nach der anderen. Und dies nun war das erste Mal, daß sich etwas verändert hatte. Die Entstellten kommen. Das war ein anderes Flüstern aus einer Quelle, die ihm bekannt war, und er fuhr zusammen, als hätte ihn ein Myrddraal berührt. Ein Wolf stand dort zwischen den Säulen, ein Bergwolf, beinahe hüfthoch, zerzaust, weiß und grau. Er blickte ihn eindringlich mit Augen an, die so gelb waren wie seine.

Die Entstellten kommen. »Nein!« keuchte Perrin. »Nein! Ich lasse dich nicht ein! Ich-will-nicht!«

Er schlug um sich und erwachte, setzte sich in der engen Hütte auf und zitterte vor Kälte und Wut. »Das lasse ich nicht zu«, flüsterte er heiser.

Die Entstellten kommen. Der Gedanke war klar und deutlich, doch es war nicht sein eigener.

Die Entstellten kommen, Bruder.


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