2 Saidin

Mit ausdruckslosem Gesicht sah die Tuatha'an-Frau die Flagge an, die bald wieder schlaff am Mast hing, und dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit denen zu, die um die Feuer herum saßen. Besonders derjenige erregte ihre Aufmerksamkeit, der las und noch einmal um die Hälfte größer und mächtiger war als Perrin. »Ihr habt einen Ogier dabei. Das hätte ich nicht gedacht...« Sie schüttelte den Kopf. »Wo ist Moiraine Sedai?« Das Drachenbanner schien für sie gar nicht zu existieren.

Perrin deutete auf die am weitesten oben stehende Blockhütte am anderen Ende der Mulde. Die Wände und das Satteldach waren aus unbeschälten Baumstämmen roh zusammengezimmert, und es war die größte Hütte, wenn auch immer noch nicht sehr groß. »Das ist ihre. Für sie und Lan. Er ist ihr Behüter. Wenn Ihr etwas Heißes zu trinken bekommen habt... «

»Nein. Ich muß Moiraine sprechen.«

Es überraschte ihn nicht. Alle Frauen, die sich hierher verirrten, wollten sofort und unter vier Augen mit Moiraine sprechen. Die Neuigkeiten, die Moiraine ihnen dann später mitteilte, klangen nicht immer besonders wichtig, aber die Frauen wirkten eben immer wie ein Jäger, der dem letzten Kaninchen auf der Welt auflauert, damit seine verhungernde Familie etwas zu essen hat. Die halberfrorene Bettlerin hatte Decken und einen Teller heißen Eintopf abgelehnt und war statt dessen barfuß durch den immer noch fallenden Schnee zu Moiraines Hütte gestapft.

Leya glitt aus dem Sattel und übergab Perrin die Zügel. »Sorgt Ihr dafür, daß sie gefüttert wird?« Sie tätschelte die Nase ihrer scheckigen Stute. »Piesa ist es nicht gewohnt, mich durch so rauhes Gelände zu tragen.«

»Viel Futter haben wir nicht«, antwortete Perrin, »aber sie bekommt, soviel wir ihr geben können.«

Leya nickte und eilte wortlos den Hang hinauf. Sie raffte ihren leuchtend grünen Rock, und hinter ihr wehte der blaubestickte, rote Umhang her.

Perrin schwang sich aus dem Sattel und unterhielt sich kurz mit den Männern, die vom Feuer aufstanden, um sich um die Pferde zu kümmern. Er gab seinen Bogen dem, der Traber mitnahm. Nein, außer dem einen Raben hatten sie nichts Auffälliges bemerkt — nur die Berge und die Tuatha'an-Frau. Ja, der Rabe war tot. Nein, sie hatte ihnen nichts über die Ereignisse außerhalb der Bergländer erzählt. Nein, er hatte keine Ahnung, ob sie bald abreisen könnten.

Oder überhaupt jemals, fügte er für sich selbst hinzu. Moiraine hatte sie den ganzen Winter hier verbringen lassen. Die Schienarer glaubten wohl nicht, daß sie hier die Befehle gab, aber Perrin wußte, daß die Aes Sedai irgendwie immer ihren Willen durchsetzten. Und ganz besonders Moiraine.

Sobald die Pferde in die Stallhütte weggeführt worden waren, gingen die Reiter zum Feuer und wärmten sich auf. Perrin warf den Umhang dankbar zurück und streckte seine Hände über die Flammen. Aus dem großen Kessel, der dem Aussehen nach in Baerlon angefertigt worden war, drangen Düfte, die ihm schon ein paar Minuten lang das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Irgend jemand hatte heute bei der Jagd Glück gehabt, wie es schien, und an einem der anderen Feuer lagen klumpige Wurzeln, die in etwa nach Zwiebeln rochen, wenn man sie röstete. Er witterte kurz und konzentrierte sich dann auf den Eintopf. Vor allem wollte er Fleisch zwischen die Zähne bekommen.

Die Frau in Männerkleidung sah Leya hinterher, die gerade in Moiraines Hütte verschwand.

»Was siehst du, Min?« fragte er.

Sie stellte sich neben ihn, und ihre dunklen Augen blickten besorgt drein. Er verstand nicht, warum sie unbedingt Hosen tragen wollte und keine Röcke. Na ja, vielleicht kannte er sie eben nur zu gut, aber er verstand nicht, wie jemand sie ansehen und lediglich einen zu gut aussehenden Jüngling erkennen konnte, und nicht die hübsche junge Frau, die sie war.

»Die Kesselflickerfrau wird sterben«, sagte sie leise. Sie sah sich nach den anderen um. Keiner war nahe genug, um zu lauschen.

Er war ruhig und dachte an Leyas weiches Gesicht. Ach. Licht! Die Kesselflicker tun niemandem etwas zuleide! Ihm war kalt, trotz der Wärme der Feuer. Seng mich, ich hätte sie nicht fragen sollen. Selbst den Aes Sedai die davon wußten, war nicht klar, was Min wirklich tat. Manchmal sah sie Bilder und Auren, die Menschen umgaben, und manchmal verstand sie sogar, was sie bedeuteten.

Masuto kam und rührte den Eintopf mit einem langen Holzlöffel um. Der Schienarer schaute sie an, legte dann einen Finger neben seine lange Nase und ging grinsend wieder weg.

»Blut und Asche«, knurrte Min. »Er hat vermutlich geglaubt, wir seien ein Liebespärchen, das am Feuer Süßholz raspelt.«

»Bist du sicher?« fragte Perrin. Sie zog die Augenbrauen hoch, und er fügte schnell hinzu: »Wegen Leya.«

»Heißt sie so? Mir wäre lieber, ich wüßte nicht Bescheid. Das macht es immer viel schlimmer, etwas zu wissen und nichts dagegen... Perrin, ich sah ihr Gesicht, wie es über ihrer Schulter schwebte, blutverschmiert und mit Glotzaugen. Noch klarer kann es nicht sein.« Sie schauderte und rieb ihre Hände fest aneinander. »Licht, könnte ich nur schönere Dinge sehen. Alles Schöne scheint verschwunden zu sein.«

Er öffnete den Mund und wollte vorschlagen, Leya zu warnen, doch dann schloß er ihn wieder. Es gab niemals einen Zweifel an dem, was Min sah und wußte, ob im Guten oder im Schlechten. Wenn sie sicher war, dann geschah es auch.

»Ein blutverschmiertes Gesicht«, murmelte er. »Heißt das, sie wird eines gewaltsamen Todes sterben?« Er zuckte zusammen, als ihm die eigenen so leicht über die Lippen gekommenen Worte zu Bewußtsein kamen. Aber was kann ich machen? Wenn ich es Leya sage und sie mir auch noch glaubt, dann verbringt sie ihre letzten Tage in Angst und es ändert doch nichts.

Min nickte kurz.

Wenn sie eines gewaltsamen Todes stirbt, dann könnte das einen Überfall auf das Lager bedeuten. Doch jeden Tag befanden sich Kundschafter draußen, und Tag und Nacht wurden Wachen aufgestellt. Und Moiraine hatte das Lager mit einem magischen Ring umgeben, sagte sie, damit es kein Geschöpf des Dunklen Königs sehen konnte, außer es stolperte direkt darüber. Er dachte an die Wölfe. Nein! Die Kundschafter würden alles und jedermann aufspüren, was sich dem Lager näherte. »Es ist ein weiter Weg zurück zu ihrem Volk«, sagte er mehr zu sich selbst. »Die Kesselflicker bringen ihre Wagen höchstens bis in die Vorberge. Von hier bis dorthin kann alles passieren.«

Min nickte traurig. »Und wir haben nicht genug Leute, um auch nur einen zu ihrer Bewachung abzustellen. Selbst wenn das etwas nützen würde.«

Sie hatte ihm davon erzählt. Als sie sechs oder sieben war und ihr zum erstenmal klar geworden war, daß nicht jedermann das sehen konnte, was sie sah, hatte sie versucht, Menschen vor dem Schlimmsten zu warnen. Sie sagte nicht mehr dazu, aber er hatte den Eindruck, daß ihre Warnungen die Dinge nur noch verschlimmert hatten, soweit man ihr überhaupt Glauben schenkte. Es kostete Überwindung, Mins Voraussagen hinzunehmen, jedenfalls so lange, bis man die Beweise hatte.

»Wann?« fragte er. Das Wort klang ihm eiskalt und so hart wie Stahl in den Ohren. Für Leya kann ich nichts tun, aber vielleicht finde ich heraus, wann wir angegriffen werden.

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, nahm sie die Hände abwehrend hoch. Allerdings sprach sie trotzdem leise weiter: »So geht das nicht. Ich kann nie voraussagen, wann etwas passieren wird. Ich weiß nur, daß es geschehen wird, falls ich überhaupt weiß, was das Gesehene bedeutet. Das verstehst du nicht. Die Bilder kommen nicht, wenn ich das will, und das Verständnis genausowenig. Es geschieht einfach, und manchmal verstehe ich es. Etwas davon. Ein bißchen. Es ist dann einfach da.« Er bemühte sich, ein beruhigendes Wort einzuwerfen, aber er konnte ihre Wortflut nicht aufhalten. »Ich sehe an einem Tag etwas aus der Zukunft eines Menschen und am nächsten Tag nichts, oder eben andersherum. Die meiste Zeit über sehe ich überhaupt nichts. Die Aes Sedai natürlich sind immer von Bildern umgeben, genau wie ihre Behüter, aber da ist es noch schwerer, eine Bedeutung herauszulesen, als bei anderen Menschen.« Sie sah Perrin aus zusammengekniffenen Augen forschend an. »Bei ein paar anderen ist es allerdings auch so.«

»Sag mir ja nicht, was du siehst, wenn du mich anschaust«, fuhr er sie heftig an, und dann zuckte er die Achseln. Schon als Kind war er größer gewesen als die meisten anderen, und er hatte schnell begriffen, wie leicht man Menschen ohne böse Absicht verletzen konnte, wenn man größer war als sie. Das hatte ihn vorsichtig und rücksichtsvoll gemacht. Außerdem bedauerte er es jedesmal, wenn er seinem Ärger freien Lauf gelassen hatte. »Tut mir leid, Min. Ich hätte dich nicht so anfahren sollen. Ich wollte dir nicht weh tun.«

Sie sah ihn überrascht an. »Du hast mir nicht weh getan. Zum Glück wollen nur wenige Menschen wissen, was ich gesehen habe. Das Licht weiß: Ich wollte es auch nicht wissen, wenn jemand anders meine Zukunft sähe.« Selbst die Aes Sedai hatten noch nie von jemand anderem gehört, der ihre Gabe besaß. Für sie war es eine ›Gabe‹, für Min allerdings nicht.

»Es ist halt nur so, daß ich etwas für Leya tun möchte! Ich könnte es nicht wie du ertragen, zu wissen und nichts dagegen unternehmen zu können.«

»Seltsam«, sagte sie leise, »wie dich die Tuatha'an bewegen. Sie sind vollkommen friedfertig, und um dich herum sehe ich immer... «

Er wandte den Kopf ab, und sie schwieg sofort.

»Tuatha'an?« erklang eine grollende Stimme wie die einer riesigen Hummel. »Was ist mit den Tuatha'an?« Der Ogier kam zu ihnen ans Feuer herüber. Er hielt einen wurstdicken Finger in seinem Buch, um die Seite nicht zu verlieren, auf der er gerade gelesen hatte. Ein dünner Faden Tabaksqualm erhob sich von der Pfeife in seiner anderen Hand. Sein dunkelbrauner Wollmantel mit hohem Kragen war bis oben hin zugeknöpft. An den Knien war er ausgestellt und ließ seine heruntergeschlagenen Stiefelschäfte sehen. Perrin reichte ihm kaum bis an die Brust.

Loials Gesicht hatte schon mehr als einen erschrocken zusammenfahren lassen. Seine Nase war so breit, daß man sie schon einen Rüssel nennen konnte, und der Mund war ebenfalls von enormer Breite. Die Augen hatten die Größe von Untertassen, und die Enden seiner dichten Augenbrauen hingen ihm wie Schnurrbärte fast bis auf die Wangen hinunter. Seine Ohren ragten mit ihren behaarten Spitzen aus dem langen Haar. Einige Leute, die noch nie einen Ogier gesehen hatten, hielten ihn für einen Trolloc, obwohl auch Trollocs für die meisten Menschen wie die Ogier eine Legende darstellten.

Loials breites Lächeln wich Unsicherheit, und er blinzelte nervös, als ihm klar wurde, daß er sie unterbrochen hatte. Perrin fragte sich, ob irgend jemand sich wirklich längere Zeit vor dem Ogier fürchten konnte. Und doch werden sie in einigen Legenden als wild und als unerbittliche Feinde bezeichnet. Das wollte er nicht glauben. Ogier waren niemandes Feinde.

Min erzählte Loial von der Ankunft Leyas, aber nicht von dem, was sie gesehen hatte. Sie war immer ausgesprochen einsilbig, was ihre Visionen betraf, besonders, wenn es schlimme waren. Statt dessen fügte sie hinzu: »Du solltest ja wissen, wie ich mich fühle, Loial, so plötzlich eingefangen von den Aes Sedai und auch noch von diesen Leutchen von den Zwei Flüssen.«

Loial gab einen nichtssagenden Laut von sich, doch Min faßte es wohl als Zustimmung auf.

»Ja«, unterstrich sie ihre Worte mit Nachdruck. »Da war ich und lebte ein friedliches Leben in Baerlon. Plötzlich packt man mich am Kragen und schleift mich Licht weiß wohin. Na ja, geschieht mir wohl recht. Ich habe keine Kontrolle mehr über mein eigenes Leben, seit ich Moiraine traf. Und natürlich diese Bauernlümmel von den Zwei Flüssen.« Sie rollte ihre Augen in Richtung Perrin und zeigte dabei ein spitzbübisches Lächeln. »Ich wollte nur so leben, wie es mir gefiel, und mich in einen Mann verlieben, der mir gefiel...« Ihre Wangen liefen plötzlich rot an, und sie räusperte sich. »Was ich sagen wollte: Was ist eigentlich schlimm daran, sein eigenes Leben ohne all diesen Aufruhr leben zu wollen?«

»Ta'veren«, fing Loial an. Perrin bedeutete ihm, damit aufzuhören, aber man konnte den Ogier nur selten bremsen oder gar von etwas abbringen, wenn er sich dafür begeisterte. Unter den Ogiern galt er als äußerst ungestüm. Loial schob sein Buch in eine Manteltasche und fuhr fort, wobei er mit seiner Pfeife gestikulierte. »Alle von uns, all unsere Leben, beeinflussen die Leben anderer, Min. So, wie das Rad der Zeit uns in das Muster verwebt, so zieht der Lebensfaden eines jeden von uns an den Lebensfäden der Menschen um uns. Bei Ta'veren ist es dasselbe, nur eben viel, viel stärker. Sie beeinflussen das ganze Muster, zumindest zeitweilig, und zwingen es, sich ihnen anzupassen. Je näher du ihnen stehst, desto stärker wirst du persönlich davon erfaßt. Man sagt, wenn du dich im gleichen Raum befändest wie Artur Falkenflügel, dann könntest du richtig fühlen, wie sich das Muster um euch neu formiert. Ich weiß nicht, inwieweit das der Wahrheit entspricht, aber ich habe es gelesen. Doch auch das ist noch nicht alles. Die Ta'veren selbst hängen an einem viel stärkeren Faden als wir und haben viel weniger Bewegungsfreiheit.«

Perrin verzog das Gesicht. Verdammt wenig, vor allem in wichtigen Fragen. Min schüttelte trotzig den Kopf. »Ich wünschte nur, sie wären nicht die ganze Zeit über so... so verdammt ta'veren! Auf der einen Seite ziehen die Ta'veren an einem, und auf der anderen Seite mischen sich die Aes Sedai ständig ein. Was bleibt da noch für eine Frau übrig?«

Loial zuckte die Achseln. »Sehr wenig, schätze ich, solange sie sich bei einem Ta'veren aufhält.«

»Als hätte ich eine andere Wahl«, grollte Min.

»Es war dein Glück, oder dein Unglück, falls du es so sehen willst, dich nicht nur einem, sondern gleich drei Ta'veren anzuschließen: Rand, Mat und Perrin. Ich selbst betrachte es als mein Glück und würde das sogar genauso sehen, wenn sie nicht meine Freunde wären. Ich glaube, ich würde sogar... « Der Ogier sah sie mit einem Mal schüchtern an. Sein Ohren zuckten. »Versprecht ihr mir, daß ihr mich nicht auslacht? Ich glaube, ich könnte sogar ein Buch darüber schreiben. Ich habe mir jedenfalls Notizen gemacht.«

Min lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, und Loials Ohren richteten sich wieder auf. »Das ist doch wunderbar«, sagte sie zu ihm. »Aber einige von uns fühlen sich wie die Marionetten an den Fäden der Ta'veren.«

»Ich habe mich nicht aufgedrängt«, platzte Perrin heraus. »Ich habe wirklich nicht darum gebeten, so etwas sein zu wollen.«

Sie beachtete ihn nicht. »Ist es dir so ergangen, Loial? Begleitest du deshalb Moiraine? Ich weiß, daß ihr Ogier fast nie eure Stedding verlaßt. Hat einer dieser Ta'veren dich mitgerissen?«

Loial widmete sich konzentriert dem Studium seiner Pfeife. »Ich wollte nur die Haine sehen, die einst von Ogiern angelegt worden sind«, murmelte er. »Nur die Haine wollte ich sehen.« Er sah Perrin hilfesuchend an, doch der grinste nur.

Mal sehen, wie dir dieser Schuh paßt. Er wußte nicht genau Bescheid, war aber sicher, daß Loial von zu Hause weggelaufen war. Er war neunzig Jahre alt, aber das war bei den Ogiern noch zu jung, um das Stedding ohne Erlaubnis der Ältesten zu verlassen — nach Draußen zu gehen, wie sie es nannten. Ogier lebten nach menschlichem Ermessen sehr lang. Loial meinte, die Ältesten wären nicht gerade erfreut, wenn sie ihn wieder in die Finger bekämen. Er schien diesen Augenblick so lange wie möglich hinausschieben zu wollen.

Die Schienarer rührten sich und standen auf. Rand kam aus Moiraines Hütte.

Selbst auf die Entfernung konnte Perrin ihn genau sehen: einen jungen Mann mit rötlichem Haar und grauen Augen. Er war gleich alt wie Perrin und etwa einen halben Kopf größer, wenn sie Seite an Seite standen. Aber Rand war schlanker und trotzdem auch noch breitschultrig. Aufgestickte goldene Dornen bedeckten den Ärmel seines roten Mantels, und auf der Brust seines dunklen Umhangs sah man das gleiche Wesen wie auf der Flagge: die vierbeinige Schlange mit der goldenen Mähne. Rand und er waren als Freunde miteinander aufgewachsen. Sind wir immer noch Freunde? Können wir das überhaupt sein? Jetzt noch?

Die Schienarer verbeugten sich gemeinsam. Sie hielten die Köpfe hoch, doch die Hände lagen auf den Knien.

»Lord Drache«, rief Uno, »wir sind bereit. Es ist uns eine Ehre, Euch zu dienen.«

Uno, der sonst kaum einen Satz sprechen konnte, ohne dabei zu fluchen, sprach jetzt mit einem Ausdruck tiefsten Respekts. Die anderen taten es ihm gleich. »Es ist uns eine Ehre, Euch zu dienen.« Masema, der alte Schwarzseher, in dessen Augen niemals wirkliche Hingabe zu erkennen war; Ragan; alle standen sie da und erwarteten Befehle, als habe Rand nichts anderes im Sinn.

Von oben blickte Rand einen Augenblick lang auf sie herab, drehte sich dann um und verschwand im Wald. »Er hat sich wieder mit Moiraine gestritten«, sagte Min ruhig. »Den ganzen Tag schon.«

Perrin überraschte das nicht, aber trotzdem überlief ihn immer noch ein leichtes Erschrecken. Sich mit einer Aes Sedai zu streiten! Er erinnerte sich an all die Geschichten aus seiner Kindheit. Aes Sedai, die Throne und Länder an ihren verborgenen Fäden tanzen ließen. Aes Sedai, deren Geschenke immer einen Haken hatten, deren Preis immer geringer war, als man glauben konnte, aber letztlich viel höher, als man sich vorgestellt hatte. Aes Sedai, deren Zorn die Erde aufreißen und Blitze herabzucken lassen konnte. Er wußte inzwischen, daß einige dieser Geschichten erlogen waren. Und doch enthielten sie noch nicht einmal die halbe Wahrheit.

»Ich sollte besser zu ihm gehen«, sagte er. »Nach solchen Streitigkeiten braucht er immer jemanden, mit dem er sprechen kann.« Und von Moiraine und Lan abgesehen waren es eben nur sie drei — Min, Loial und er —, die Rand nicht so ansahen, als stünde er über allen Königen der Welt. Und von ihnen wiederum war Perrin der einzige, der ihn schon von Kindheit an kannte.

Er ging nach oben und blieb nur einen Moment stehen, um die geschlossene Tür von Moiraines Hütte versonnen anzublicken. Leya war jetzt dort drinnen, und natürlich auch Lan. Der Behüter war nur selten anderswo anzutreffen als an der Seite der Aes Sedai.

Rands viel kleinere Hütte befand sich ein Stück unterhalb davon, gut zwischen den Bäumen versteckt und von den anderen abgesetzt. Er hatte zuerst versucht, bei den anderen Männern zu wohnen, aber ihre ständigen Ehrfurchtsbezeugungen trieben ihn davon. Mittlerweile blieb er meist für sich. Er zog sich für Perrins Geschmack zu sehr zurück. Aber er wußte, daß Rand im Augenblick bestimmt nicht zu seiner Hütte ging.

Perrin eilte weiter zu der Seite der schüsselförmigen Mulde, an der sie durch eine fast senkrechte Felswand abgeschlossen wurde. Fünfzig Schritt hoch war sie und ganz glatt, bis auf ein paar Büsche, die sich hier und da an sie klammerten. Er wußte genau, wo sich in der grauen Felswand ein Riß befand, eine Öffnung, die kaum breiter war als seine Schultern. Von dort aus konnte er nur einen schmalen Streifen Spätnachmittagshimmel sehen. Es war, als betrete er einen Tunnel.

Der Riß war eine halbe Meile lang und öffnete sich dann plötzlich zu einem kleinen Tal, weniger als eine Meile lang, die Talsohle mit Steinen und Felsblöcken bedeckt. Selbst die steilen Seitenhänge waren noch dicht bewaldet. Hohe Lederblattbäume, Kiefern und Tannen wuchsen dort. Die Sonne hinter den Bergspitzen warf lange Schatten. Die Wände dieses Tals zeigten keine Lücke bis auf diesen Spalt, und der Einschnitt wirkte, als sei er von der Axt eines Riesen ins Gebirge gehauen worden. Man konnte sich hier mit nur wenigen Männern noch leichter verteidigen als in der Mulde, aber es gab keine Quelle, keinen Bach. Niemand ging sonst hierher. Außer eben Rand, wenn er sich mit Moiraine gestritten hatte.

Rand stand unweit des Eingangs an den rauhen Stamm eines Lederblatts gelehnt und starrte seine Handflächen an. Perrin wußte, daß sich auf jeder ein ins Fleisch eingebrannter Reiher befand. Rand rührte sich nicht, als Perrins Stiefel über den steinigen Boden scharrten.

Plötzlich begann Rand, leise etwas zu zitieren, ohne dabei von seinen Händen aufzublicken.

»Zwei und zweimal wird er gezeichnet, zweimal zum Leben und zweimal zum Tod. Einmal der Reiher, seinen Weg zu bestimmen, wieder der Reiher, ihn beim wahren Namen zu nennen. Einmal der Drache, der verlorenen Erinnerung wegen. Zum zweiten der Drache für den Preis, den er zahlen muß.«

Mit einem Schaudern steckte er die Hände unter die Arme. »Aber noch keine Drachen.« Er lachte rauh. »Noch nicht.«

Einen Augenblick lang sah ihn Perrin nur einfach an. Ein Mann, der die Eine Macht lenken konnte. Ein Mann, der dazu verdammt war, durch das befleckte Saidin zum Wahnsinn getrieben zu werden. Saidin — die männliche Hälfte der Wahren Quelle. Und in seinem Wahn würde er alles um sich herum zerstören. Ein Mann — ein Ding! —, von dem jedes Kind lernte, daß man ihn verachten und fürchten müsse. Nur... es war schwer, in ihm nicht mehr den Jungen zu sehen, mit dem er aufgewachsen war. Kann man mit einem Mal aufhören, Freunde zu sein? Perrin wählte einen kleinen Felsbrocken mit flacher Oberfläche aus und setzte sich wartend darauf.

Nach einer Weile drehte sich Rand zu ihm um und sah ihn an. »Glaubst du, daß es Mat gutgeht? Er wirkte so todkrank, als ich ihn das letzte Mal sah.«

»Es dürfte ihm jetzt gutgehen.« Mittlerweile sollte er in Tar Valon sein. Dort werden sie ihn heilen. Und Nynaeve und Egwene werden dafür sorgen, daß er sich nicht wieder in Schwierigkeiten bringt. Egwene und Nynaeve, Rand und Mat und Perrin — alle fünf aus Emondsfeld im Gebiet der Zwei Flüsse. Nur wenige Menschen von außerhalb waren je zu den Zwei Flüssen gereist, nur gelegentlich Händler und einmal im Jahr die reichen Kaufleute, die Wolle und Tabak einkauften. Fast nie hatte jemand die Zwei Flüsse verlassen und war in die Welt hinausgezogen. Bis das Rad seine Ta'veren erwählt hatte. Dann konnten fünf junge Leute vom Land nicht mehr dort bleiben, wo sie hingehörten, und nicht mehr sein, was sie eigentlich waren.

Rand nickte und schwieg.

»In letzter Zeit«, stellte Perrin fest, »wünsche ich mir immer mehr, einfach wieder ein Schmied sein zu dürfen. Wie ist es bei dir... Würdest du gern wieder Schafe hüten?«

»Pflichten«, murmelte Rand. »Der Tod ist leichter als eine Feder, die Pflicht schwerer als ein Berg. Das sagen sie in Schienar. Der Dunkle König rührt sich. Die Letzte Schlacht kommt bald. Und der Wiedergeborene Drache muß in der Letzten Schlacht dem Dunklen König gegenübertreten, sonst wird der Schatten alles bedecken. Das Rad der Zeit würde sonst zerbrochen. Jedes Zeitalter würde der Dunkle König nach seinem Bilde neu erschaffen. Und ich bin allein.« Er lachte freudlos. Seine Schultern bebten dabei. »Auf mir ruht die Pflicht, denn es gibt sonst keinen, der das alles vollbringen kann, oder?«

Perrin bewegte sich unruhig. Dieses Lachen verursachte bei ihm eine Gänsehaut. »Ich hörte, daß du dich wieder mit Moiraine gestritten hast. Das gleiche Thema?«

Rand atmete tief und rauh ein. »Streiten wir uns nicht immer über das gleiche? Sie sind drunten auf der Ebene von Almoth, und das Licht allein weiß, wo noch. Hunderte. Tausende. Sie haben sich für den Wiedergeborenen Drachen entschieden, weil ich diese Flagge hißte. Weil ich es zuließ, daß man mich Drache nannte. Weil ich keine andere Wahl habe. Und sie sterben. Kämpfen, suchen und beten für den Mann, der sie eigentlich anführen sollte. Und ich sitze den ganzen Winter über in Sicherheit hier oben in den Bergen. Ich... ich schulde ihnen... etwas.«

»Glaubst du, mir paßt das?« Perrin schüttelte verärgert den Kopf.

»Du schluckst, was sie dir auch sagt«, schimpfte Rand. »Du stellst dich bei ihr nie auf die Hinterbeine.«

»Und dir hat die Streiterei ja auch so viel eingebracht. Du hast dich den ganzen Winter mit ihr herumgeärgert und doch bloß hier herumgehockt.«

»Weil sie recht hat.« Rand lachte wieder so eigenartig humorlos. »Licht, seng mich, aber sie hat ja recht. Sie sind alle in kleine Gruppen aufgesplittert und über die ganze Ebene verteilt, von Tarabon bis Arad Doman. Wenn ich zu einer dieser Gruppen stoße, dann hat sie im Nu die Weißmäntel und das Heer der Domani und die Taraboner auf dem Hals wie ein Hund die Flöhe.«

Perrin hätte vor Verwirrung beinahe selbst losgelacht. »Wenn du ihr zustimmst, warum zum Licht noch mal streitest du dich dann ständig mit ihr?«

»Weil ich irgend etwas tun muß. Oder ich... ich... zerplatze wie eine überreife Melone!«

»Was denn tun? Wenn du auf sie hörst... «

Rand gab ihm nicht die Möglichkeit, zu sagen, dann würden sie für immer hier Wurzeln schlagen. »Moiraine sagt dies, Moiraine sagt das!« Er richtete sich ruckartig auf und barg den Kopf in seinen Händen. »Moiraine hat zu allem etwas zu sagen. Moiraine sagt, ich dürfe nicht zu den Männern gehen, die in meinem Namen sterben. Moiraine sagt, ich würde schon wissen, was als nächstes zu tun ist, weil mich das Muster entsprechend beeinflussen werde. Moiraine sagt... Aber sie sagt mir nicht, wie ich es wissen kann! O nein! Das weiß sie nicht.« Er ließ die Hände wieder fallen und wandte sich mit geneigtem Kopf und zusammengekniffenen Augen Perrin zu. »Manchmal fühle ich mich, als ob Moiraine mich drillt wie einen Hengst aus Tear, der seine Lektionen übt. Hast du auch dieses Gefühl?«

Perrin schob die Finger durch sein zerzaustes Haar. »Ich... was immer auch uns hin- und herschiebt, ich weiß, wer der Feind ist, Rand.«

»Ba'alzamon«, sagte Rand leise. Ein uralter Name für den Dunklen König. In der Trolloc-Sprache hieß das: Herz der Dunkelheit. »Und ich muß mich ihm entgegenstellen, Perrin.« Er schloß die Augen und verzog das Gesicht zu einem schmerzerfüllten Lächeln. »Licht, hilf mir! Die halbe Zeit über wünsche ich mir, daß es jetzt geschieht und ich es hinter mich bringen kann, und dann wieder... Wie oft kann ich noch... Licht, es zerreißt mich. Was ist, wenn ich es nicht schaffe... wenn ich... « Der Boden bebte.

»Rand?« sagte Perrin besorgt.

Rand schauderte. Trotz der Kühle stand Schweiß auf seinem Gesicht. Seine Augen waren noch dicht geschlossen. »O Licht, es zieht mich mit solcher Macht an.«

Plötzlich bäumte sich der Boden unter Perrin auf, und durch das Tal erklang das Echo eines erdrückenden Grollens. Es war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er stürzte — oder war es die Erde, die ihm entgegenkam? Das Tal bebte, als hätte sich aus dem Himmel eine riesige Hand nach unten gestreckt, um es aus dem Land zu reißen. Er klammerte sich am Boden fest, während der wiederum versuchte, ihn wie einen Ball tanzen zu lassen. Vor seinen Augen hüpften Kiesel auf und ab, und Wellen von Staub erhoben sich.

»Rand!« Sein Aufschrei verlor sich in dem Grollen.

Rand stand mit zurückgelegtem Kopf und immer noch geschlossenen Augen da. Er schien das wilde Aufbäumen des Bodens gar nicht zu spüren. Er stand nach einer Richtung geneigt da, dann nach der anderen, hielt aber immer sein Gleichgewicht, auch wenn er noch so hin- und hergeschleudert wurde. Perrin war sich nicht ganz sicher, da er selbst heftig durchgeschüttelt wurde, aber er glaubte, auf Rands Gesicht ein trauriges Lächeln zu entdecken. Die Bäume schwankten herum, der Lederblattbaum zerbrach plötzlich in zwei Teile, und der größere davon krachte keine drei Schritt von Rand entfernt zu Boden. Er bemerkte es genauso wenig wie alles andere.

Perrin rang nach Luft. »Rand! Um der Liebe des Lichts willen, Rand! Hör auf!«

So plötzlich, wie es begonnen hatte, war es zu Ende. Mit einem lauten Krachen brach ein angebrochener Ast von einer verkrüppelten Eiche ab. Perrin stand langsam und hustend auf. Staub hing in der Luft. In den Strahlen der untergehenden Sonne tanzten glitzernde Staubkörner.

Rand blickte nun ins Nichts, doch sein Brustkorb hob und senkte sich, als sei er zehn Meilen weit gerannt. Das war ihm noch nie passiert — noch nicht einmal etwas entfernt Ähnliches.

»Rand«, sagte Perrin vorsichtig, »was...?«

Rand schien immer noch in eine unbestimmte Ferne zu blicken. »Es ist immer da. Ruft mich. Zieht mich. Saidin. Die männliche Hälfte der Wahren Quelle. Manchmal kann ich mich nicht zurückhalten und muß danach greifen.« Er machte eine Bewegung, als pflücke er etwas aus der Luft, und dann betrachtete er seine geballte Faust. »Ich kann das Verderben fühlen, bevor ich es noch berühre. Das Verderben des Dunklen Königs. Es ist wie eine dünne Schicht von Bösartigkeit, die versucht, das Licht darunter zu verbergen. Es dreht mir den Magen um, aber ich habe kein Mittel dagegen. Es gibt keinen Widerstand. Doch manchmal fühle ich danach und greife nur Luft.« Er öffnete seine leere Hand und lachte bitter auf. »Was geschieht, wenn das gerade während der Letzten Schlacht passiert? Wenn ich danach greife und nichts finde?«

»Na ja, diesmal jedenfalls hast du etwas eingefangen«, sagte Perrin heiser. »Was hast du denn gemacht?«

Rand blickte auf, als sehe er alles zum erstenmal: das umgestürzte Lederblatt und die abgebrochenen Äste. Es hatte, wie Perrin überrascht feststellte, wenig Schaden gegeben. Er hatte klaffende Risse in der Erde erwartet. Die Wand der Bäume wirkte beinahe unberührt.

»Ich wollte das nicht tun. Es war, als wolle ich einen Wasserhahn öffnen, und statt dessen zog ich den ganzen Hahn aus dem Faß. Es... erfüllte mich. Ich mußte es irgendwohin ableiten, um nicht zu verbrennen, aber ich... wollte das nicht tun.«

Perrin schüttelte den Kopf. Was nützt es, wenn ich ihm sage, er solle so was nicht wieder tun? Er weiß ja kaum mehr über all das als ich. Er beließ es dabei, zu sagen: »Es gibt schon genug, die dir und uns allen den Tod an den Hals wünschen — denen mußt du die Arbeit nicht noch abnehmen!« Rand schien ihm gar nicht zuzuhören. »Wir sollten besser zum Lager zurückkehren. Es wird bald dunkel, und ich weiß wohl nicht, wie es mit dir steht, aber ich habe Hunger.«

»Was? Ach, geh nur schon vor, Perrin. Ich komme nach. Ich möchte noch ein wenig allein sein.«

Perrin zögerte und wandte sich dann unwillig dem Riß in der Felswand zu. Er blieb stehen, als Rand wieder etwas sagte: »Hast du auch Träume, wenn du schläfst? Gute Träume?«

»Manchmal«, meinte Perrin mißtrauisch. »Ich erinnere mich selten an meine Träume.« Er hatte gelernt, den Inhalt seiner Träume zu hüten.

»Sie sind immer da, diese Träume«, sagte Rand so leise, daß ihn Perrin kaum hörte. »Vielleicht sagen sie uns etwas? Wahrheiten.« Er schwieg wieder und grübelte.

»Das Abendessen wartet«, sagte Perrin, aber Rand war ganz in Gedanken versunken. Schließlich wandte sich Perrin ab und ließ ihn dort allein.


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