42 ›Zum fröhlichen Dachs‹

Im Lärm der Stadt ging Zarines Lachen schnell unter — falls er sich da nicht sowieso getäuscht hatte. Es war so, wie Perrin es von Caemlyn und Cairhien her kannte. Hier waren die Geräusche allerdings etwas anders, gedämpfter, und sie bewegten sich auf einer anderen Tonhöhe, doch im Prinzip war es das gleiche: Stiefel und Räder und Hufe auf groben, unebenen Pflastersteinen, das Achsenquietschen von kleinen Karren bis zu großen Wagen, Musik und Gesang und Gelächter, das aus Schenken und Tavernen drang. Stimmen. Ein Stimmengesumme, als habe er den Kopf in einen gigantischen Bienenstock gesteckt. Eine große, lebendige Stadt.

Aus einer Seitenstraße hörte er das metallische Geräusch eines Hammers auf einem Amboß, und unwillkürlich richtete er sich höher auf. Er vermißte das Gefühl von Hammer und Zange in seinen Händen, den Anblick des weißglühenden Metalls, wie es unter seinen formenden Schlägen Funken sprühte. Die Geräusche der Schmiede verklangen hinter ihm, wurden begraben unter dem Gerumpel der Karren und Wagen und dem Geplappere der Ladeninhaber und der Passanten auf den Straßen. Unter all den Gerüchen nach Menschen und Pferden, Kochen und Backen und den hundert anderen, die so bezeichnend für eine Stadt waren, lag hier der Geruch nach Salz und Sumpf und Brackwasser.

Er war überrascht, als sie innerhalb der Stadt eine Brücke passierten. Es war ein niedriger Steinbau, der über einen nicht mehr als dreißig Schritt breiten Wasserweg führte. Bei der dritten solchen Brücke wurde ihm dann klar, daß kreuz und quer durch Illian genauso viele Kanäle wie Straßen verliefen. Männer stießen schwer beladene Lastkähne mit Hilfe von langen Stangen voran, während oben die Fahrer ihre Peitschen knallen ließen, um die Gespanne mit den schweren Wagen anzutreiben. Sänften schoben sich durch die Menschenmengen auf den Straßen. Gelegentlich sah er die lackierte Kutsche eines reichen Kaufmanns oder Adligen mit einem auf die Tür groß aufgemalten Wappen oder Abzeichen. Viele der Männer trugen eigenartige Bärte, bei denen die Oberlippe frei blieb, und die Frauen schienen breitkrempige Hüte mit angenähten Schals zu bevorzugen, die sie sich um den Hals schlangen.

Einmal überquerten sie einen Platz von immensen Ausmaßen, der von riesigen Säulen eingerahmt war. Sie bestanden aus weißem Marmor, waren mindestens fünfzehn Spannen hoch, maßen zwei Spannen im Durchmesser und stützten überhaupt nichts außer jeweils einen in Stein gehauenen Olivenzweig obenauf. An jedem Ende des Platzes stand ein riesengroßer weißer Palast mit Säulenumgängen, luftigen Balkonen, schlanken Türmchen und purpurroten Dächern. Auf den ersten Blick schienen beide genau gleich, aber dann merkte Perrin, daß der eine um ein weniges kleiner war und seine Türmchen vielleicht ein klein bißchen niedriger.

»Der Königspalast«, sagte Zarine hinter seinem Rücken, »und der Große Saal des Rats. Man sagt, der erste König von Illian habe dem Rat der Neun zugestanden, daß sie jeden Palast haben konnten, den sie wollten, aber er dürfe nicht größer sein als sein eigener. Also baute der Rat den Königspalast haargenau nach, aber jedes Maß um zwei Fuß geringer. So hielt man das seither in Illian. Der König und der Rat der Neun streiten sich ständig, und die große Ratsversammlung streitet sich mit beidem herum, und während sie ihre Privatfehden austragen, leben die Menschen mehr oder weniger unbehelligt, wie sie wünschen. Das hat sich recht gut bewährt, wenn man schon an eine bestimmte Stadt gebunden ist. Wahrscheinlich willst du auch noch wissen, Schmied, daß dies der Tammuz-Platz ist, wo ich den Jägereid ablegte. Ich glaube, ich werde dir soviel beibringen müssen, damit keiner das Heu in deinem Haar bemerkt.«

Perrin hielt mit großer Mühe den Mund und beschloß, sich künftig nicht mehr so neugierig umzusehen.

Niemand hier schien Loial als besonders ungewöhnlich zu betrachten. Ein paar Leute blickten ihm hinterher, und einige kleinere Kinder liefen ihnen ein Stückchen nach, aber offenbar waren Ogier in Illian keineswegs unbekannt. Auch schien niemand hier die Hitze und die Feuchtigkeit zu bemerken.

Diesmal schien Loial nicht besonders glücklich darüber zu sein, daß ihn die Menschen so selbstverständlich hinnahmen. Seine langen Augenbrauen hingen ihm traurig auf die Wangen herunter, und seine Ohren waren welk. Perrin meinte, es könne aber auch an der Luft liegen. Sein Hemd klebte an ihm — naß vom Schweiß und dieser Feuchtigkeit, die in der Luft lag.

»Fürchtest du, daß du hier andere Ogier antreffen könntest, Loial?« fragte Perrin. Er spürte, wie sich Zarine hinter ihm rührte, und verfluchte sein loses Mundwerk. Er wollte die junge Frau eigentlich noch weniger wissen lassen, als Moiraine sowieso schon angedeutet hatte. Das wäre dann vielleicht Grund genug für sie zu verschwinden.

Falls Moiraine sie jetzt überhaupt noch gehen läßt. Seng mich, ich will keinen verfluchten Falken auf der Schulter tragen, und wenn sie noch so hübsch ist.

Loial nickte. »Unsere Steinwerker kommen manchmal hierher.« Er sprach im Flüsterton, und zwar nicht nur leise für einen Ogier, sondern diesmal wirklich leise. Selbst Perrin konnte ihn kaum verstehen. »Aus dem Stedding Schangtai, meine ich. Es waren Handwerker aus unserem Stedding, die einen Teil Illians erbauten — den Palast der Versammlung, die große Ratshalle, einige der anderen —, und sie schicken immer nach uns, wenn es etwas zu reparieren gibt. Perrin, falls Ogier hier sind, werden sie mich zwingen, ins Stedding zurückzugehen. Daran hätte ich vorher denken sollen. Dieser Ort macht mich nervös, Perrin.« Seine Ohren zuckten unruhig.

Perrin ließ Traber näher aufrücken und faßte hoch, um Loial auf die Schulter zu klopfen. Es war ein langer Weg für seine Hand — bis über Kopfhöhe. Da er sich Zarines Gegenwart in seinem Rücken nur zu bewußt war, wählte er seine Worte sorgfältig. »Loial, ich glaube nicht, daß Moiraine das zulassen würde. Du warst schon so lange bei uns, und sie scheint zu wünschen, daß du bei uns bleibst. Sie wird dich nicht von ihnen mitnehmen lassen, Loial.« Warum nicht? fragte er sich auf einmal. Sie hält mich hier, weil sie glaubt, ich sei für Rand wichtig, und vielleicht auch, damit ich niemanden etwas von dem erzähle, was ich weiß. Vielleicht will sie ihn aus demselben Grund hierbehalten.

»Natürlich würde sie es verhindern«, sagte Loial mit leicht gestärkter Stimme, und seine Ohren stellten sich auf. »Ich bin schließlich auch sehr nützlich. Es kann sein, daß sie wieder die Kurzen Wege benützen will, und das könnte sie nicht ohne mich.« Zarine rührte sich wieder an Perrins Rücken, und er schüttelte den Kopf, um Loial auf sie aufmerksam zu machen. Aber der schaute gar nicht her. Er schien gerade erst selbst begriffen zu haben, was er gesagt hatte. Die Haarbüschel an seinen Ohren sanken wieder ein wenig herunter. »Ich hoffe, es liegt nicht nur daran, Perrin.« Der Ogier blickte sich in der Stadt um, und seine Ohren sanken nun wieder ganz herab. »Mir gefällt dieser Ort nicht, Perrin.«

Moiraine ritt näher an Lan heran und sprach leise auf ihn ein, aber Perrin konnte verstehen, was sie sagte. »Irgend etwas an dieser Stadt stimmt nicht.« Der Behüter nickte.

Perrin juckte es zwischen den Schulterblättern. Die Aes Sedai hatte sich ernst angehört. Erst Loial und nun sie. Bin ich etwa blind? Die Sonne strahlte auf die funkelnden Dachziegel herunter, und ihr Licht wurde von den blassen Mauern reflektiert. Die Gebäude wirkten, als müsse ihr Inneres angenehm kühl sein. Sie strahlten Sauberkeit aus, diese Gebäude. Und auch die Menschen. Die Menschen.

Zuerst bemerkte er nichts Außergewöhnliches. Männer und Frauen gingen zielbewußt ihren Geschäften nach, wenn auch etwas langsamer, als er es vom Norden her gewohnt war. Er glaubte, das müsse an der Hitze und dem grellen Sonnenschein liegen. Dann entdeckte er einen Bäckerjungen, der ein großes Tablett mit frischen Broten auf dem Kopf balancierte und so die Straße herunterlief. Der junge Bursche hatte einen Gesichtsausdruck, der schon fast bösartig wirkte. Eine Frau vor einer Weberei sah aus, als wolle sie den Mann, der ihr die bunten Garnspulen zeigte, am liebsten beißen. Ein Jongleur an einer Ecke biß die Zähne zusammen und betrachtete die Leute, die ihm Münzen in die vor ihm liegende Kappe warfen, als hasse er sie alle. Nicht jeder wirkte so, aber ihm schien, daß zumindest jeder fünfte Zorn oder Haß im Gesicht geschrieben trug. Und er glaubte nicht, daß sie sich dessen bewußt waren.

»Was ist los?« fragte Zarine. »Du bist plötzlich so verkrampft. Es ist, als halte man sich an einem Felsblock fest.«

»Etwas stimmt hier nicht«, sagte er zu ihr. »Ich weiß nicht, was, aber es stimmt wirklich irgend etwas nicht.« Loial nickte traurig und murmelte etwas davon, daß sie ihn zurückbringen würden.

Der Baustil in ihrer Umgebung veränderte sich im Weiterreiten. Sie überquerten noch mehr Brücken zur anderen Seite Illians hin. Die Mauern waren nun häufig unverputzt. Die Türmchen und Paläste verschwanden und machten Schenken und Lagerhäusern Platz. Viele der Männer auf der Straße und auch einige der Frauen gingen mit eigenartig rollenden Bewegungen einher. Sie alle waren barfuß wie die Seeleute. In der Luft lag ein starker Geruch nach Pech und Hanf und vor allem nach Holz — frisch gehacktem und auch lackiertem, und sauer riechender Schlamm überlagerte das alles noch. Auch die von den Kanälen ausgehenden Gerüche waren hier anders. Er rümpfte die Nase. Nachttöpfe, dachte er. Nachttöpfe und alte Sickergruben hinter den Klos. Ihm wurde ein wenig übel davon.

»Die Brücke der Blumen«, verkündete Lan, als sie wieder über eine der niedrigen Brücken ritten. Er atmete tief ein. »Und nun befinden wir uns im Parfümierten Viertel. Die Illianer sind ein Volk von Poeten.«

Zarine unterdrückte offensichtlich das Lachen, indem sie sich an Perrins Rücken drückte.

Als habe er mit einem Mal die Geduld verloren, sich dem langsamen Rhythmus der Illianer anzupassen, führte Lan sie nun schnell durch die Straßen zu einer Schenke. Zwei Stockwerke waren aus rauhem, grüngeädertem Stein erbaut, und obenauf thronten blaßgrüne Dachplatten. Der Abend nahte, und mit dem Sinken der Sonne wurden ihre Strahlen erträglicher. Das brachte ein wenig Erleichterung von der Hitze, aber eben nicht viel. Ein paar Jungen saßen auf den kurzen Steinpfosten vor der Schenke, und nun hüpften sie herunter und nahmen ihre Pferde in Empfang. Ein schwarzhaariger Bursche von vielleicht zehn Jahren fragte Loial, ob er ein Ogier sei, und als Loial das bejahte, sagte der Junge: »Ich das gedacht haben.« Er grinste selbstgefällig und nickte dabei. Dann führte er Loials großes Pferd weg und warf im Gehen die Kupfermünze hoch, die ihm Loial gegeben hatte. Er fing sie ebenso geschickt wieder auf.

Perrin blickte mit gerunzelter Stirn zu dem Schild hoch, das über dem Eingang hing. Ein weiß gestreifter Dachs tanzte auf den Hinterbeinen mit einem Mann, der etwas wie eine silberne Schaufel zu tragen schien. ›Zum fröhlichen Dachs‹ stand darauf. Das muß aus irgendeiner Geschichte stammen, die ich noch nie gehört habe.

Im Schankraum lagen Sägespäne auf dem Fußboden und Tabaksrauch in der Luft. Es roch außerdem noch nach Wein und Fisch aus der Küche und nach einem schweren, blumigen Parfum. Die freiliegenden Deckenbalken waren roh behauen und dunkel vom Alter. So früh am Abend waren nur etwa ein Viertel der Stühle und Bänke besetzt. Da saßen vor allem Arbeiter in einfachen Jacken und Westen, und einige davon zeigten die schwieligen bloßen Füße von Seeleuten. Alle saßen so nahe wie möglich zusammengedrängt um einen Tisch herum. Dort tanzte mit wirbelndem Rock auf der Tischfläche ein hübsches, dunkeläugiges Mädchen — von ihr ging der Parfumduft aus — und sang, begleitet von einer zwölfseitigen Zither. Ihre lose weiße Bluse war auffallend tief ausgeschnitten. Perrin erkannte die Melodie — ›Die Tänzerin‹ —, aber der Text des Mädchens war ganz anders als der, den er kannte.

»Ein Mädel aus Lugard kam in die Stadt, um was zu erleben.

Sie lachte und blinzelte jedem gleich zu, die Herzen der Jungs bracht' sie zum Beben. Ihre Beine so schlank, die Haut so zart, so fing sie 'nen Käpten sich ein im Nu. Mit jedem Mann, ob sanft oder hart, war sie bereit, einen zu heben.«

Sie fing die nächste Strophe an, und als Perrin begriff, was sie da sang, lief er knallrot an. Er hatte geglaubt, nachdem er die Kesselflickermädchen hatte tanzen sehen, könne ihn nichts mehr aus dem Gleichgewicht bringen, aber die hatten nur angedeutet, was dieses Mädchen offen heraussang.

Zarine nickte im Rhythmus der Musik und lächelte. Als sie ihn anblickte, grinste sie schließlich breit. »Na, Bauernjunge, ich habe ja noch nie einen Mann in deinem Alter kennengelernt, der immer noch rot wird.« Er funkelte sie an und hätte beinahe etwas Dummes gesagt. Diese verdammte Frau bringt mich aus der Ruhe, bevor ich auch nur denken kann. Licht, ich wette, sie glaubt, ich hätte noch nie ein Mädchen geküßt! Er bemühte sich, nicht mehr auf den Text des Liedes zu hören, den das Mädchen sang. Wenn er die Röte nicht schleunigst aus seinem Gesicht vertrieb, würde Zarine garantiert noch mehr auf ihm herumhacken.

Die Wirtin hatte bei ihrem Eintreten ganz kurz überrascht dreingeblickt. Die große, rundliche Frau, die ihr Haar im Nacken zu einem dicken Dutt zusammengebunden hatte und die stark nach Seife roch, überwand ihre Überraschung jedoch schnell und eilte zu Moiraine herüber.

»Frau Mari«, sagte sie, »ich hatte nicht erwartet, Euch heute hier zu sehen!« Sie zögerte, musterte Perrin und Zarine kurz und warf Loial einen Blick zu, doch keinen so forschenden wie den zuvor. Ihre Miene hellte sich sogar beim Anblick des Ogiers auf. Doch ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie ›Frau Mari‹. Sie senkte die Stimme. »Meine Tauben nicht ankommen bei Euch?« Sie schien Lan als Teil von Moiraine ganz selbstverständlich hinzunehmen.

»Bestimmt sind sie sicher angekommen, Nieda«, sagte Moiraine. »Ich war weg, aber Adine hat bestimmt alles aufgeschrieben, was Ihr berichtet habt.« Sie betrachtete das Mädchen auf dem Tisch ohne ein äußeres Anzeichen der Mißbilligung oder irgendeinen meßbaren Gesichtsausdruck. »Im ›Dachs‹ war es erheblich ruhiger, als ich zuletzt hier war.«

»Ja, Frau Mari, das sein so. Aber die Rabauken noch nicht über den Winter weggekommen sind, es mir scheinen. Ich in zehn Jahren keine Rauferei im ›Dachs‹ haben, bis der Schwanz von diesem Winter vorbei sein.« Sie nickte in Richtung eines Mannes, der ausnahmsweise nicht in der Nähe der Sängerin saß. Der Bursche war noch größer als Perrin und stand mit verschränkten, mächtigen Armen an eine Wand gelehnt da. Mit dem Fuß klopfte er den Rhythmus der Musik nach. »Sogar Bili Schwierigkeiten haben, sie zu halten zurück. Deshalb ich einstellen das Mädchen, damit auf andere Gedanken sie kommen. Von irgendwo in Altara sie ist.« Sie hielt den Kopf schief und hörte einen Augenblick lang zu. »Eine gute Stimme, aber ich singen besser, ja, und auch tanzen besser, als ich sein in ihrem Alter.«

Perrin schnappte nach Luft, als er sich diese mächtige Frau auf einem Tisch beim Tanzen vorstellte. Und wenn sie dann noch dieses Lied sang — ein bißchen Text drang zu ihm durch: »Ich trag nichts drunter gewiß, gewiß« —, und dann knallte ihm Zarine eine Faust in die Rippen. Er stöhnte auf.

Nieda sah zu ihm herüber. »Ich werden Euch ein wenig Honig und Schwefel mischen, Junge, für Euren Hals. Ihr sicher nicht wollen noch mehr Erkältung vor dem Frühling, wo ihr haben ein solch hübsches Mädchen am Arm.«

Moiraine warf ihm einen warnenden Blick zu, er solle sich nicht einmischen. »Seltsam, daß es hier Raufereien gibt«, sagte sie. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Euer Neffe so etwas im Keim erstickt. Ist etwas vorgefallen, daß die Menschen so gereizt sind?«

Nieda dachte einen Augenblick lang nach. »Vielleicht. Es sein schwer zu sagen. Die jungen Lords immer kommen herunter zum Hafen, um zu feiern und sich Mädchen zu suchen, weil sie nicht dürfen, wo die Luft frischer sein. Vielleicht sie nun kommen öfters, weil Winter war so hart. Vielleicht. Und andere streiten sich auch viel öfter. Es wirklich war ein schlimmer Winter. Das machen Männer zorniger und Frauen auch. All der Regen und die Kälte. Ich sogar aufwachen an zwei Morgen mit Eis in meiner Waschschüssel. Natürlich trotzdem nicht so schlimm wie der Winter davor, aber das sein ohnehin der schlimmste Winter in tausend Jahren gewesen. Beinahe könnte ich glauben die Geschichten von Reisenden, daß gefrorenes Wasser vom Himmel fällt.« Sie kicherte, um zu zeigen, wie wenig sie daran glauben mochte. Es war ein eigenartiger Laut von einer so großen Frauensperson.

Perrin schüttelte den Kopf. Sie glaubt nicht an Schnee? Aber wenn sie dieses Wetter schon für kühl hielt, konnte das wohl angehen.

Moiraine senkte nachdenklich den Kopf. Die Kapuze warf ihren Schatten auf ihr Gesicht.

Das Mädchen auf dem Tisch begann eine neue Strophe, und Perrin lauschte unwillkürlich wieder. Er hatte noch nie davon gehört, daß eine Frau auch nur im entferntesten das tat, wovon sie sang, aber es klang interessant. Er bemerkte, daß Zarine ihn beim Zuhören beobachtete, und so bemühte er sich, so zu tun, als sei er nur in Gedanken versunken gewesen.

»Was ist in letzter Zeit an Außergewöhnlichem in Illian geschehen?« fragte Moiraine schließlich.

»Ich denken, Ihr könnt Lord Brends Aufnahme in den Rat der Neun als ungewöhnlich bezeichnen«, sagte Nieda. »Glück stich mich, ich nicht können erinnern mich, vor diesem Winter überhaupt gehört zu haben seinen Namen, aber er kommen in die Stadt — von irgendwo in der Nähe der Grenze nach Murandy, Leute sagen — und sein aufgenommen innerhalb einer Woche. Man sagen, er ein guter Mann sei und der stärkste der Neun. Sie alle folgen seiner Führung, wie man sich erzählen, obwohl er der neueste und unbekannteste sein. Aber manchmal ich träumen so seltsam von ihm.«

Moiraine hatte den Mund geöffnet, um Nieda zu sagen, sie solle sich auf die letzten Nächte beschränken, da war Perrin sicher, aber sie zögerte dann doch und fragte schließlich: »Was für seltsame Träume, Nieda?«

»Ach, nur Quatsch, Frau Mari. Nur Quatsch. Ihr wollen es wirklich wissen? Träume von Lord Brend an fremdartigen Orten und Fußgängerbrücken, die in der Luft hängen. Alles nebelhaft in diesen Träumen sein, aber beinahe jede Nacht sie kommen wieder. Haben Ihr jemals so etwas Dummes gehört? Quatsch, Glück stich mich! Aber es sein schon seltsam. Bili sagen, er träumen das gleiche. Ich glauben, er hören von meine Träume und dann machen nach. Bili sein nicht gerade klug manchmal, ich glauben.«

»Vielleicht tut Ihr ihm da unrecht«, hauchte Moiraine.

Perrin starrte ihre dunkle Kapuze an. Sie hatte einen Moment lang erschüttert gewirkt, noch mehr als damals, als sie geglaubt hatte, in Ghealdan sei ein weiterer falscher Drache aufgetaucht. Er konnte keine Angst an ihr wittern, aber... Doch, Moiraine hatte Angst. Das war ein viel erschreckenderer Gedanke als der, Moiraine sei wütend. Er konnte sie sich sehr wohl zornig vorstellen, aber daß sie Angst haben sollte... ?

»Was ich nur alles zusammenquatschen«, sagte Nieda und klopfte sich auf den Dutt in ihrem Nacken. »Als ob meine närrischen Träume sein wichtig.« Sie kicherte wieder. Ein kurzes Kichern nur — das letztere war nicht ganz so närrisch wie der Glaube an Schnee. »Ihr klingen aber müde, Frau Mari. Ich werden Euch bringen auf Eure Zimmer. Und dann ein gutes Mahl von frisch gefangenem Rotstreifen.«

Rotstreifen? Er glaubte, das müsse wohl ein Fisch sein. Er roch den Duft kochenden Fisches aus der Küche.

»Zimmer«, sagte Moiraine. »Ja. Wir nehmen Zimmer hier. Das Essen kann warten. Schiffe. Nieda, welche Schiffe laufen nach Tear aus? Früh am Morgen. Diese Nacht muß ich etwas Bestimmtes tun.« Lan blickte sie mit gerunzelter Stirn an.

»Nach Tear, Frau Mari?« Nieda lachte. »Also, nach Tear fährt keines. Die Neun haben vor einem Monat verboten, daß ein Schiff fahren nach Tear und keines auch von Tear nach hier, obwohl ich glauben, das Meervolk sich nicht halten daran. Aber es sein kein Schiff des Meervolks im Hafen. Das sein eigenartig. Ich meinen, ein Befehl der Neun, und der König halten den Mund dazu, wo er sonst immer gleich schreien, wenn sie machen einen Schritt ohne ihn. Oder vielleicht es doch nicht sein ganz so? Aller Klatsch sein von Krieg mit Tear, aber die Flußschiffer und die Wagenfahrer, die versorgen Heer, sagen, Soldaten blicken alle nach Norden, nach Murandy.«

»Die Wege des Schattens sind verwickelt«, sagte Moiraine mit gepreßter Stimme. »Wir werden tun, was sein muß. Die Zimmer, Nieda. Und dann werden wir Euer Mahl genießen.«

Perrins Zimmer war bequemer, als er erwartet hatte, wenn er so an den Eindruck dachte, den der ›Dachs‹ auf ihn machte. Das Bett war breit und die Matratze weich. Die Tür war aus festen, übereinandergenagelten Leisten gefertigt, und als er die Fensterflügel öffnete, wehte eine Brise durch den Raum, die den Geruch des Hafens mit sich brachte. Und auch etwas von dem der Kanäle, doch wenigstens wurde es jetzt kühler. Er hängte Jacke, Köcher und Axt an einen Haken und stellte den Bogen in eine Ecke. Alles andere beließ er in den Satteltaschen und der Deckenrolle. Vielleicht würde die Nacht wenig Ruhe bringen.

Wenn Moiraine schon zuvor verängstigt geklungen hatte, war das nichts gegen den Tonfall gewesen, in dem sie gesagt hatte, sie müsse diese Nacht noch etwas Bestimmtes tun. In diesem Augenblick hatte sie so stark nach Angst gerochen wie eine Frau, die ihre Hand in ein Hornissennest steckt und sie mit bloßen Fingern zerdrücken will. Was beim Licht hat sie vor? Wenn Moiraine schon Angst hat, sollte ich vor Furcht gelähmt sein.

Aber das war er nicht, wie er feststellte. Weder vor Angst gelähmt, noch überhaupt irgendwie eingeschüchtert. Er fühlte... Erregung. Er war bereit, irgend etwas geschehen zu lassen, freute sich beinahe darauf. Entschlossen. Er kannte dieses Gefühl. Die Wölfe empfanden das, wenn sie sich zum Kampf entschlossen hatten. Seng mich, lieber hätte ich Angst!

Nach Loial war er der erste, der wieder unten im Schankraum erschien. Nieda hatte einen großen Tisch für sie decken lassen. Sie konnten auf Lehnstühlen sitzen, statt auf Bänken. Sie hatte sogar einen Stuhl aufgetrieben, der groß genug für Loial war. Das Mädchen auf der anderen Seite des Raums sang nun von einem reichen Kaufmann, der gerade auf unerklärliche Weise sein Pferdegespann verloren hatte und sich aus irgendeinem Grund entschloß, seine Kutsche selber zu ziehen. Die lauschenden Männer brüllten vor Lachen. An den Fenstern sah er, daß die Dunkelheit sich schneller herabsenkte, als er erwartet hatte. Es lag ein Geruch wie nach Regen in der Luft.

»In dieser Schenke gibt es ein Ogier-Zimmer«, sagte Loial, als Perrin sich hinsetzte. »Anscheinend gibt es in jeder Schenke Illians eines. Sie hoffen, Ogier-Gäste anzulocken, wenn die Steinwerker in die Stadt kommen. Nieda behauptet, es bringe Glück, wenn man einen Ogier unter dem Dach hat. Ich kann nicht glauben, daß sie viele solche Gäste bekommen. Die Steinwerker bleiben immer zusammen, wenn sie draußen arbeiten. Die Menschen handeln so überhastet, und die Ältesten fürchten immer, daß jemand die Beherrschung verlieren und einen langen Stiel an seine Axt stecken könne.« Er beäugte die Männer um die Sängerin herum mißtrauisch, als habe er sie im Verdacht, etwas Böses im Schilde zu führen. Seine Ohren hingen wieder herunter.

Der reiche Kaufmann war nun gerade dabei, seine Kutsche zu verlieren, und die Männer wieherten vor Lachen. »Hast du herausgefunden, ob sich Ogier aus dem Stedding Schangtai in Illian aufhalten?«

»Es waren welche da, aber Nieda sagte, sie seien im Winter bereits abgereist. Sie meinte, sie hätten ihre Arbeit nicht einmal beendet. Das verstehe ich nicht. Die Steinwerker hätten niemals ihre Arbeit liegen lassen, außer man hätte sie nicht bezahlt, und Nieda sagte, daran habe es nicht gelegen. Eines Morgens waren sie einfach weg. Jemand hat sie nachts den Maredodamm hinabgehen sehen. Perrin, mir gefällt diese Stadt nicht. Ich weiß nicht, warum, aber sie macht mich... nervös.«

»Ogier«, stellte Moiraine fest, »sind für manche Dinge empfänglich.« Sie hatte ihr Gesicht noch immer verborgen, aber Nieda hatte offensichtlich jemanden ausgeschickt, um ihr einen leichteren Umhang aus dunkelblauem Leinen zu kaufen. Lan hielt ihr den Stuhl zurecht. Sein Blick war besorgt.

Zarine kam als letzte herunter. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr frischgewaschenes Haar. Der Kräuterduft umgab sie noch stärker als sonst. Sie betrachtete das Tablett, das Nieda auf den Tisch stellte, und knurrte leise: »Ich hasse Fisch.«

Die rundliche Frau hatte alle Speisen auf einem kleinen Servierwagen mit mehreren übereinanderliegenden Auflageflächen hereingerollt. Der Wagen war zum Teil noch ein wenig verstaubt. Wahrscheinlich hatte sie ihn Moiraines wegen aus dem Lager holen lassen. Das Geschirr war aus dem Porzellan des Meervolks, wenn auch an manchen Stellen abgeschlagen.

»Eßt«, sagte Moiraine und sah dabei Zarine an. »Denkt daran, daß jedes Mahl Euer letztes sein könnte. Ihr habt Euch entschlossen, mit uns zu kommen. Also werdet Ihr heute abend Fisch essen. Morgen sterbt Ihr vielleicht.«

Perrin kannte den beinahe runden Fisch mit den roten Streifen nicht, aber er roch gut. Er hob sich gleich zwei davon mit der Serviergabel auf seinen Teller und grinste dann Zarine mit vollem Mund an. Der Fisch schmeckte auch gut, leicht gewürzt, wie er war. Iß deinen schrecklichen Fisch, Falke, dachte er. Er dachte auch, daß Zarine aussah, als wolle sie ihn gleich beißen.

»Sollen ich das Mädchen mit Singen aufhören lassen, Frau Mari?« fragte Nieda. Sie stellte Schüsseln mit Erbsen und irgendwelchem steifen, gelben Brei auf den Tisch. »Damit Ihr in Ruhe essen können?«

Moiraine starrte ihren Teller an und schien nicht hinzuhören.

Lan lauschte einen Augenblick lang. Der Kaufmann hatte mittlerweile hintereinander Kutsche, Umhang, Stiefel, Gold und den Rest seiner Kleidung verloren und mußte nun mit einem Schwein um sein Abendessen kämpfen. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie stört uns nicht.« Er war ganz kurz einem Lächeln nahe, bevor sein Blick wieder auf Moiraine fiel. Dann kehrte die Sorge in seinen Blick zurück.

»Was stimmt nicht?« fragte Zarine. Sie ignorierte den Fisch. »Ich weiß, daß irgend etwas los ist. Ich habe seit unserem ersten Zusammentreffen noch nicht soviel Ausdruck auf Eurem Gesicht bemerkt wie jetzt, Steingesicht.«

»Keine Fragen«, sagte Moiraine in scharfem Ton. »Ihr werdet erfahren, was ich Euch sage, und nicht mehr!«

»Und was werdet Ihr mir sagen?« wollte Zarine wissen.

Die Aes Sedai lächelte süß: »Eßt Euren Fisch.«

Danach aßen sie schweigend weiter. Nur die Lieder drangen durch den Raum zu ihnen herüber. Da war ein Lied über einen reichen Mann, den seine Frau und Tochter immer wieder zum Narren hielten, ohne daß er sein aufgeblasenes Getue abgelegt hätte. In einem anderen entschloß sich eine junge Frau, einen Spaziergang ohne Kleidung zu machen. Dann wieder erzählte eines die Geschichte eines Hufschmieds, der sich selbst beschlug anstatt des Pferdes. Zarine erstickte dabei fast vor Lachen und vergaß sich soweit, daß sie tatsächlich einen Happen Fisch schluckte. Dann verzog sie das Gesicht, als habe sie Schlamm im Mund.

Ich werde sie nicht auslachen, sagte sich Perrin. So idiotisch sie auch gerade aussieht, werde ich ihr doch beweisen, was gute Manieren sind. »Das schmeckt gut, nicht wahr?« fragte er. Zarine sah ihn bitterböse an, und Moiraine runzelte die Stirn, weil er wohl ihren Gedankengang unterbrochen hatte. Das war aber auch schon ihr ganzes Tischgespräch.

Nieda räumte gerade den Tisch ab und stellte ihnen eine Käseplatte zum Nachtisch hin, als ein schrecklicher Gestank in Perrins Nase drang und sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Es war der Geruch von etwas, das es eigentlich nicht geben durfte, und er hatte das schon zweimal zuvor gewittert. Er sah sich nervös im Schankraum um.

Das Mädchen sang immer noch vor der Schar ihrer Zuhörer, ein paar Männer kamen von der Tür aus hereingelaufen und Bili lehnte immer noch an der Wand und klopfte mit dem Fuß den Rhythmus der Zither nach. Nieda griff nach ihrem Dutt, sah sich kurz im Raum um und wandte sich ab, um den Servierwagen wegzuschieben.

Er betrachtete seine Begleiter. Loial hatte, keineswegs überraschend, ein Buch aus einer Manteltasche gezogen und schien vergessen zu haben, wo er sich befand. Zarine rollte abwesend einen Brocken Quark zu einer Kugel zusammen und musterte verstohlen erst Perrin, dann Moiraine und dann wieder ihn. Aber er war vor allem an Lan und Moiraine interessiert. Sie konnten einen Myrddraal oder einen Trolloc oder irgendeinen anderen Abkömmling des Schattens fühlen, bevor er näher als auf ein paar hundert Schritt heran war, aber die Aes Sedai blickte nachdenklich auf die Tischplatte, und der Behüter schnitt sich ein Stück gelben Käse ab und beobachtete sie. Und doch war da dieser Geruch nach etwas Falschem, Unpassendem, so wie in Jarra und am Stadtrand von Remen, und diesmal verflog er nicht so schnell. Er schien von etwas innerhalb des Schankraums auszugehen.

Er sah sich noch einmal um. Bili an der Wand, ein paar Männer, die quer durch den Raum schritten, das Mädchen, das auf dem Tisch sang, und all die lachenden Männer um sie herum. Männer, die durch den Raum schritten? Er sah sich mit gerunzelter Stirn nach ihnen um. Sechs Männer mit durchschnittlichen Gesichtern, die auf sie zukamen. Ganz unauffällige Gesichter. Er wollte gerade die Männer um das Mädchen noch einmal unter die Lupe nehmen, da fiel ihm auf, daß der Gestank des Bösen von den sechs ausging. Mit einem Mal hatten sie Dolche in den Händen, als sei ihnen bewußt geworden, daß er sie bemerkt hatte.

»Sie haben Messer!« brüllte er und warf die Käseplatte nach ihnen.

Der Schankraum explodierte förmlich. Männer schrien, die Sängerin kreischte, Nieda rief nach Bili und alles passierte gleichzeitig. Lan sprang auf, ein Feuerball schoß aus Moiraines Hand, Loial schnappte sich seinen Stuhl und schwang ihn wie einen Knüppel, und Zarine tänzelte fluchend zur Seite. Auch sie hatte ein Messer in der Hand, aber Perrin war zu beschäftigt, um viel auf die anderen zu achten. Diese Männer schienen nur ihn anzublicken, und seine Axt hing oben an dem Haken in seinem Zimmer.

Er griff sich einen Stuhl und riß ihm ein dickes Bein ab. Den Rest schleuderte er auf die Männer. Dann schlug er mit diesem langen Knüppel um sich. Sie bemühten sich, ihn mit ihren Stahlklingen zu erreichen, als seien Lan und die anderen keinerlei Hindernis für sie. Es wurde eng. Er konnte lediglich ihre Klingen immer wieder parieren, denn mit wilderen Schlägen brachte er Lan und Loial und Zarine ebenso in Gefahr wie die sechs Angreifer. Aus dem Augenwinkel sah er Moiraine an der Seite stehen, Frustration im Gesicht. Es war ein solches Durcheinander, daß sie nichts tun konnte, ohne ihre Freunde genauso zu gefährden wie ihre Feinde. Keiner der Dolchbewehrten sah sich auch nur nach ihr um; sie befand sich nicht zwischen ihnen und Perrin.

Schwer atmend schaffte er es, einem der so durchschnittlich aussehenden Männer kräftig über den Schädel zu schlagen, daß er die Knochen splittern hörte. Plötzlich lagen sie alle am Boden. Das Ganze schien ihm eine Viertelstunde oder länger gedauert zu haben, aber er sah, daß Bili in diesem Moment kurz vor ihnen stehenblieb und die Hände rang, als er die sechs toten Männer auf dem Boden anblickte. Bili hatte noch nicht einmal genug Zeit gehabt, in den Kampf einzugreifen, da war er auch schon vorbei.

Lans Gesicht war noch grimmiger als sonst. Er begann, die Toten gründlich zu durchsuchen, aber mit schnellen Bewegungen, die seinen Ekel deutlich widerspiegelten. Loial hatte den Stuhl noch zum Schlag erhoben. Er schreckte zusammen und stellte ihn mit verlegenem Grinsen ab. Moiraine starrte Perrin an, genau wie Zarine, die ihr Messer aus der Brust eines der toten Männer zog. Dieser Gestank nach Bösem war verschwunden, als sei er mit ihnen gestorben.

»Graue Männer«, sagte die Aes Sedai leise, »und sie waren hinter Euch her.«

»Graue Männer?« Nieda lachte ein wenig schrill und nervös. »Aber, Frau Mari, demnächst behauptet Ihr noch, Ihr glaubt an Gnome und Necks und Irrlichter und daß der Alte Grimme mit den schwarzen Hunden in der Wilden Jagd über den Himmel reitet.« Ein paar der Männer, die den Liedern gelauscht hatten, lachten auch, aber sie sahen Moiraine genauso mißtrauisch an wie die toten Männer. Auch die Sängerin starrte mit weit aufgerissenen Augen Moiraine an. Perrin erinnerte sich an diesen einen Feuerball, bevor das Durcheinander zu unübersichtlich geworden war. Einer der Grauen Männer schien leicht verkohlt und verströmte einen süßlichen Brandgeruch.

Moiraine wandte sich der rundlichen Frau zu. »Ein Mann kann im Schatten wandeln«, sagte die Aes Sedai ruhig, »ohne ein Abkömmling des Schattens zu sein.«

»O ja, Schattenfreunde.« Nieda stützte die Hände auf ihre mächtigen Hüften und blickte die Leichen finster an. Lan hatte seine Suche beendet. Er sah Moiraine an und schüttelte den Kopf, als habe er gar nicht erwartet, etwas zu finden. »Eher waren das Diebe, obwohl ich noch nie von Dieben gehört habe, die kühn genug waren, einfach in eine Schenke hineinzuspazieren. Ich haben noch nie einen Mord im Dachs erlebt. Bili! Bring sie hinaus, wirf sie in einen Kanal und streue frische Sägespäne auf den Boden. Hinten hinaus, bitte! Ich nicht wollen, daß die Wachsoldaten ihre langen Nasen in den Dachs hineinstecken.« Bili nickte, als sei er froh, endlich auch etwas Nützliches tun zu können. Er packte mit jeder Hand einen toten Mann am Gürtel und trug sie hinter zur Küche zu.

»Aes Sedai?« sagte die dunkeläugige Sängerin. »Ich wollte Euch nicht mit meinen gewöhnlichen Liedern beleidigen.« Sie bedeckte den entblößten Teil ihres Busens — also den größten Teil davon — mit ihren Händen. »Ich kann andere singen, wenn Ihr wünscht.«

»Singt, was Euch gefällt, Mädchen«, sagte Moiraine zu ihr. »Die Weiße Burg ist nicht so weltfremd, wie Ihr zu glauben scheint, und ich habe schon schlimmere Lieder gehört, als Ihr sie singen würdet.« Trotzdem schien sie nicht gerade glücklich darüber, daß nun alle im Schankraum wußten, was sie war. Sie sah Lan an, raffte den Leinenumhang um sich zusammen und ging zur Tür.

Der Behüter bewegte sich schnell, um sie abzufangen, und sie unterhielten sich leise vor der Tür. Doch Perrin verstand sie, als flüsterten sie gleich neben ihm miteinander.

»Wollt Ihr ohne mich gehen?« fragte Lan. »Ich habe geschworen, Euch zu beschützen, Moiraine, als ich Euren Eid entgegennahm.«

»Ihr habt schon immer gewußt, daß es Gefahren gibt, denen Ihr nicht gewachsen seid, mein Gaidin. Ich muß allein gehen.«

»Moiraine... «

Sie unterbrach ihn. »Hört auf mich, Lan. Sollte ich versagen, werdet Ihr es wissen, und Ihr werdet gezwungen sein, zur Weißen Burg zurückzukehren. Das würde ich nicht ändern, selbst wenn ich die Zeit dazu hätte. Ich will nicht, daß Ihr in dem erfolglosen Versuch, mich zu rächen, auch noch sterbt. Nehmt Perrin mit. Mir scheint, der Schatten habe mir seine Bedeutung im Muster erst jetzt klargemacht. Ich war eine Närrin. Rand ist ein so starker Ta'veren, daß ich nicht darauf geachtet habe, was es bedeutet, daß er noch zwei andere neben sich hatte. Mit der Hilfe Perrins und Mats kann die Amyrlin vielleicht immer noch den Ablauf der Ereignisse ändern. Wenn Rand ohne Hilfe herumläuft, wird sie eingreifen müssen. Berichte ihr, was geschehen ist, mein Gaidin.«

»Ihr sprecht, als wärt Ihr schon tot«, sagte Lan grob.

»Das Rad webt, wie das Rad es wünscht, und der Schatten verdunkelt die Welt. Hört auf mich, Lan, und gehorcht, wie Ihr es geschworen habt.« Damit war sie aus der Tür.


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