33 Im Gewebe

Vom Sattel aus blickte Perrin stirnrunzelnd auf die flache Steinplatte hinunter, die an der Seite der Straße halb unter Unkraut verborgen zu sehen war. Die Straße bestand aus einer dicken, festgefahrenen Lehmschicht, aber Moiraine hatte ihnen vor zwei Tagen gesagt, sie sei früher gepflastert gewesen. Teile des ehemaligen Straßenpflasters traten von Zeit zu Zeit noch an die Oberfläche. Hier nannte man sie die Lugard-Straße, denn sie befanden sich bereits in der Nähe des Flusses Manetherendrelle und an der Grenze nach Lugard. Diese alte Steinplatte wies seltsame Markierungen auf.

Falls Hunde auf Stein Spuren hinterlassen könnten, dann sähen sie wohl so ähnlich aus. Jedenfalls hätte man meinen können, ein großer Hund habe hier seine Pfotenabdrücke hinterlassen. Auf dem gesamten sichtbaren Boden darum herum waren aber keine Hundespuren zu sehen, nicht einmal dort, wo der Boden einigermaßen weich war, und außerdem roch es nicht nach einer Hundespur. In der Luft lag nur der schwache Geruch von etwas Verbranntem, beinahe wie der Schwefelgestank nach einem Feuerwerk. Vor ihnen lag ein Dorf, genau dort, wo die Straße den Fluß erreichte. Vielleicht hatten einige Kinder hier draußen heimlich mit Feuerwerkskörpern gespielt.

Das ist aber ziemlich weit weg, weiter, als sich Kinder normalerweise fortschleichen, wenn sie etwas Verbotenes vorhaben. Aber er hatte auch Bauernhöfe gesehen. Vielleicht waren es Bauernkinder gewesen. Was auch immer, es hat nichts mit den eigenartigen Markierungen zu tun. Pferde fliegen nicht und Hunde hinterlassen keine Spuren auf Stein. Ich bin einfach zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen.

Gähnend gab er Traber seine Fersen zu spüren, und der Braune galoppierte den anderen nach. Moiraine hatte sie hart vorangetrieben, seit sie Jarra verlassen hatten, und sie wartete nicht, wenn jemand auch nur einen Moment lang zurückblieb. Wenn die Aes Sedai sich etwas vorgenommen hatte, dann hielt sie sich auch eisern daran. Loial hatte sogar das Lesen aufgegeben, nachdem er vor sechs Tagen einmal von seinem Buch aufgeblickt hatte und feststellen mußte, daß er bereits eine halbe Meile zurückgeblieben war und die anderen sich schon über dem nächsten Hügelkamm außer Sicht befanden.

Perrin ließ Traber neben dem großgewachsenen Pferd des Ogiers verhalten, hinter Moiraines weißer Stute, und wieder mußte er gähnen. Lan war irgendwo voraus und erkundete den Weg. Die Sonne hinter ihnen stand nur noch etwa eine Stunde über den Baumwipfeln, aber der Behüter hatte ihnen gesagt, sie würden noch vor Einbruch der Dunkelheit eine kleine Stadt namens Remen am Manetherendrelle erreichen. Perrin wollte eigentlich gar nicht sehen, was sie dort vielleicht erwartete. Er wußte ja nicht, was es sein würde, aber seit Jarra war er äußerst mißtrauisch.

»Ich weiß nicht, warum du nicht schlafen kannst«, sagte Loial zu ihm. »Wenn sie uns endlich zur Nacht anhalten läßt, bin ich so müde, daß ich schon schlafe, bevor ich auch nur liege.«

Perrin schüttelte nur den Kopf. Er konnte Loial nicht erklären, daß er Angst davor hatte, fest einzuschlafen, und daß sogar sein leichtester Schlaf von Alpträumen durchsetzt war. Wie dieser seltsame Traum, in dem Egwene und Springer vorgekommen waren. Na ja, kein Wunder, daß ich von ihr träume. Licht, wie mag es ihr nur gehen? Ist wohl mittlerweile in der Burg in Sicherheit und lernt, wie man eine Aes Sedai wird. Verin wird sich um sie kümmern und auch um Mat. Er glaubte nicht, daß sich jemand um Nynaeve kümmern müsse. In Nynaeves Nähe waren es seiner Meinung nach gewöhnlich die anderen, um die man sich kümmern mußte.

Er wollte nicht weiter über Springer nachdenken. Er bemühte sich ja erfolgreich darum, nicht an die lebenden Wölfe zu denken, auch wenn er sich dabei wie zerschlagen fühlte; da wollte er nicht, daß sich auch noch ein toter Wolf in seine Gedanken einschlich. Er schüttelte sich und riß die Augen weit auf. Nicht einmal Springer.

Es gab aber noch andere Gründe außer den schlimmen Träumen, daß er nicht schlafen konnte. Sie hatten wieder Spuren gefunden, die deutlich zeigten, daß Rand hier durchgekommen war. Zwischen Jarra und dem Flüßchen Eldar hatte Perrin nichts entdecken können, aber als sie den Eldar auf einer Steinbrücke überquerten, die sich von einer fünfzig Fuß hohen Klippe zu einer anderen auf der gegenüberliegenden Seite spannte, hatten sie ein Städtchen namens Sidon hinter sich gelassen, das ganz in Schutt und Asche lag. Jedes Gebäude. Nur ein paar Steinmauern und Schornsteine ragten noch über den Schutt hinaus.

Betrübte Einwohner hatten ihnen erzählt, daß eine umgefallene Laterne in einem Heuschober das Feuer verursacht habe. Dann habe es sich wie wild ausgebreitet, und alles ging schief. Die Hälfte aller auffindbaren Eimer wies Löcher auf. Jede einzelne brennende Hauswand war nach außen umgestürzt statt nach innen, und damit wurden auch die Häuser in der Nähe in Brand gesteckt. Brennende Balken aus der Schenke waren irgendwie bis in den Dorfbrunnen auf dem Vorplatz gerollt, und so hatte niemand mehr Wasser holen können, um die Brände zu bekämpfen. Es gab noch drei weitere Brunnen, aber sie alle wurden durch umstürzende Häuser begraben. Selbst der Wind hatte sich gedreht und aus jeder Richtung die Flammen erst richtig entfacht.

Es war nicht notwendig gewesen, Moiraine zu fragen, ob Rands Anwesenheit alles ausgelöst hatte; ihr Gesicht, so kalt wie Eis, war Antwort genug. Das Muster formte sich um Rand herum, und dem Zufall war Tür und Tor geöffnet.

Nach Sidon waren sie durch vier kleine Städtchen geritten, in denen nur Lans Künste als Spurenleser ihnen sagten, daß sich Rand nach wie vor ein Stück vor ihnen befand. Rand war nun schon eine Weile lang zu Fuß marschiert. Unweit von Jarra hatten sie sein Pferd tot aufgefunden. Es sah aus, als sei es von Wölfen oder wilden Hunden gerissen worden. Perrin war es schwergefallen, nicht mit seinem Geist hinauszufühlen, besonders als Moiraine von dem Pferd aufblickte und ihn mit gerunzelter Stirn anblickte. Glücklicherweise hatte Lan in dem Moment Rands Fußspuren gefunden, die sich von dem toten Pferd entfernten. Ein Stiefel hatte eine dreieckige Scharte von einem scharfen Felsen abbekommen, und deshalb waren seine Spuren leicht zu erkennen. Aber zu Fuß oder beritten: Er schien immer vor ihnen zu bleiben.

In den vier Dörfern nach Sidon war das Aufregendste, woran sich die Einwohner erinnern konnten, die Ankunft von Loial. Bei der Gelegenheit erfuhren sie, daß er wirklich und wahrhaftig ein Ogier war. Das nahm sie völlig in Anspruch, und so bemerkten sie Perrins Augen kaum. Als ihnen dann die Farbe seiner Augen auffiel... Nun, wenn Ogier schon Wirklichkeit waren und keine Sage, dann durften Menschen ja wohl so ziemlich jede Augenfarbe haben.

Aber danach kamen sie an einen ganz kleinen Ort namens Willar, und dort feierte man. Die Quelle auf dem Dorfanger sprudelte endlich wieder, nachdem die Bürger ein Jahr lang das Wasser von einem Bach herschleppen mußten, denn sie hatten keine andere Quelle oder Brunnen erschließen können, und die Hälfte der Einwohner war bereits weggezogen. Nun würde Willar nicht sterben. Dann folgten drei weitere Dörfer ohne sichtbare Spuren am gleichen Tag, und anschließend erreichten sie Samaha, wo jeder Brunnen im Ort gerade erst in der Nacht zuvor ausgetrocknet war. Die Menschen flüsterten etwas vom Dunklen König. Als nächstes kam Tallan. Dort war am Morgen vorher jeder noch so alte Streit, den seine Einwohner in den letzten Jahren untereinander ausgetragen hatten, wieder hochgekommen — eine wahre Flut von Auseinandersetzungen! Es mußten drei Morde geschehen, bis die Menschen in diesem Ort wieder zur Besinnung kamen. In Fyall sah es so aus, daß die Ernte in diesem Jahr wohl ganz schlecht ausfallen würde. Doch der Bürgermeister stieß beim Graben hinter seinem Haus, wo er eine neue Toilette anlegen wollte, auf mehrere halbverfallene Ledersäcke voll Gold. So würde niemand verhungern müssen. Keiner in Fyall erkannte die dicken Münzen, die auf der einen Seite ein Frauengesicht und auf der anderen einen Adler trugen, aber Moiraine sagte, sie seien in Manetheren geprägt worden.

Perrin hatte sie nach alledem, als sie eines Nachts um das Lagerfeuer saßen, schließlich doch gefragt: »Nach Jarra dachte ich... Sie waren alle so glücklich bei ihren Hochzeiten. Selbst die Weißmäntel waren am Ende nur die Narren. Fyall hat auch Vorteile aus Rands Eigenschaften gezogen: Er kann mit der bevorstehenden Mißernte nichts zu tun gehabt haben, denn das war schon vor seiner Ankunft klar, und das ganze Gold war ja ein Segen! Doch all die anderen Dinge... Diese brennende Stadt und die ausgetrockneten Brunnen und... Das ist schlimm, Moiraine. Ich kann nicht glauben, daß Rand böse ist. Das Muster formt sich vielleicht um ihn herum, aber wie kann denn das Muster soviel Böses vollbringen? Das ergibt keinen Sinn, und letzten Endes muß doch alles einen Sinn haben. Wenn man ein sinnloses Werkzeug herstellt, ist das reine Metallverschwendung. Aber das Muster verschwendet aber doch nichts.«

Lan warf ihm einen sarkastischen Blick zu und verschwand in der Dunkelheit, um eine Runde um das Lager zu drehen. Loial hatte sich schon unter seinen Decken ausgestreckt, und jetzt hob er den Kopf und spitzte buchstäblich die Ohren, um zu lauschen.

Moiraine schwieg eine Weile lang und wärmte sich die Hände. Schließlich antwortete sie und starrte dabei in die Flammen: »Der Schöpfer ist gut, Perrin. Der Vater der Lügen ist böse. Das Muster eines Zeitalters und auch das Gewebe der Zeitalter selbst ist weder das eine, noch das andere. Das Muster ist einfach. Das Rad der Zeit webt alle Leben in das Muster hinein, alle Handlungen. Ein Muster, das nur aus einer Farbe besteht, ist kein Muster. Für das Muster eines Zeitalters sind Gut und Böse soviel wie Kette und Schuß.«

Selbst jetzt, drei Tage später, als sie im Schein der Spätnachmittagssonne einherritten, fühlte Perrin noch die Eiseskälte, die ihn überfallen hatte, als er diese Worte zum erstenmal von ihr hörte. Er wollte einfach an das Gute des Musters glauben. Er wollte glauben, daß Menschen, die böse Dinge taten, damit gegen das Muster handelten und es verformten. Für ihn war das Muster eine wundervoll fein gewirkte Schöpfung eines Meisterschmieds. Daß darin wertloses Metall und noch Schlimmeres ganz selbstverständlich mit gutem Stahl verschmelzen sollte, war für ihn ein bedrückender Gedanke.

»Es geht mir nahe«, murmelte er leise. »Licht, wie mir das nahegeht.« Moiraine blickte zu ihm zurück, und er schwieg. Er wußte nicht genau, was der Aes Sedai naheging, außer Rand natürlich.

Ein paar Minuten später kehrte Lan zurück und lenkte sein schwarzes Streitroß neben Moiraines Stute. »Remen liegt gleich hinter dem nächsten Hügel«, sagte er. »Sie hatten ein oder zwei aufregende Tage, wie es scheint.«

Loials Ohren zuckten einmal. »Rand?«

Der Behüter schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht kann Moiraine das feststellen, wenn sie es sieht.« Die Aes Sedai blickte ihn forschend an und trieb ihre Stute zu einer schnelleren Gangart an.

Sie erreichten den Hügelkamm, und unter ihnen erstreckte sich Remen bis ganz zum Fluß hin. Der Manetherendrelle war hier eine gute halbe Meile breit, und es gab keine Brücke. Nur zwei überfüllte bootsähnliche Fähren überquerten, von langen Rudern vorwärtsgetrieben, den Fluß in eine Richtung, und in der Gegenrichtung fuhr eine weitere, beinahe leere Fähre herüber. Noch drei weitere lagen an einer langen Kaimauer, zusammen mit fast einem Dutzend Flußhandelsschiffen, einige davon mit einem Mast, andere mit zweien. Zwischen dem Anlegeplatz und der kleinen Stadt selbst lagen einige massige, graue, aus Stein erbaute Lagerhäuser. In der Stadt waren die meisten Häuser ebenfalls aus Stein. Nur ihre Dächer waren mit Ziegeln in allen Farben gedeckt, von Gelb über Rot bis zu purpurnen. Ein wildes Durcheinander von Straßen zog sich um einen Platz im Stadtzentrum.

Moiraine zog sich die weite Kapuze an ihrem Umhang über den Kopf, um ihr Gesicht zu verbergen, bevor sie hinabritten.

Wie üblich starrten die Passanten auf der Straße Loial an, aber diesmal hörte Perrin ehrfürchtiges Gemurmel: »Ogier«. Loial saß höher aufgerichtet im Sattel als seit einiger Zeit, seine Ohren waren steif, und der Anflug eines Lächelns verzog ein wenig seine Mundwinkel. Er bemühte sich offensichtlich, nicht zu zeigen, daß er sich geschmeichelt fühlte, aber er sah aus wie eine Katze, die man hinter den Ohren krault.

Remen wirkte auf Perrin wie ein Durchschnittsort. Es roch nach Menschen und von Menschen erzeugten Gerüchen, auch der Geruch des Flusses mischte sich natürlich kräftig unter, und er überlegte gerade, was Lan wohl gemeint haben könnte — da stellten sich ihm die Nackenhaare auf, denn plötzlich witterte er etwas, das nicht hierher gehörte. Kaum hatte er die Witterung in der Nase, da war sie auch schon wieder verschwunden wie ein Pferdehaar auf glühenden Kohlen, doch er erinnerte sich daran. In Jarra hatte er genau das gleiche gewittert, und auch dort war die Witterung so schnell verflogen. Es war kein Entstellter oder Ungeborener — Trolloc, seng mich, das heißt nicht ›Entstellter‹! Und auch kein Ungeborener! Ein Myrddraal, ein Blasser, Halbmensch oder was sonst, aber kein Ungeborener! — kein Trolloc und kein Blasser, aber der Gestank war kein bißchen angenehmer, genauso beißend und widerlich. Wer auch immer diesen Geruch verströmte, hinterließ offensichtlich keine bleibende Spur.

Sie erreichten schließlich den Marktplatz. Genau in der Mitte hatte man eine der großflächigen Pflasterplatten herausgenommen, damit eine Art von Galgen errichtet werden konnte. Aus dem Erdboden erhob sich ein dicker Balken mit einem Querbalken obenauf, an dem ein eiserner Käfig etwa vier Schritt über dem Boden hing. Im Käfig saß ein hochgewachsener Mann in Grau und Braun gekleidet, das Kinn auf die Knie gestützt. Er hatte keinen Platz, um sich zu bewegen. Drei kleine Jungen warfen gerade Steine nach ihm. Der Mann blickte stur geradeaus und zuckte nicht einmal, als ihn ein Stein zwischen die Gitterstäben hindurch traf. Mehr als ein Blutgerinsel war bereits auf seinem Gesicht zu sehen. Die Stadtbewohner achteten im Vorbeigehen genauso wenig auf das, was die Jungen taten, wie der Mann selbst, obwohl sie sich alle die Hälse nach dem Käfig verdrehten, die meisten zustimmend und ein paar auch ängstlich.

Moiraine gab einen Laut von sich, in dem Ekel mitschwang. »Es gibt noch mehr«, sagte Lan. »Kommt. Ich habe bereits Zimmer in einer Schenke für uns genommen. Ich glaube, Ihr werdet es interessant finden.«

Perrin blickte sich nach hinten zu dem Mann im Käfig um, während er hinter den anderen herritt. Etwas an dem Mann kam ihm bekannt vor, doch er konnte ihn nicht zuordnen.

»So was sollten sie nicht tun.« Loials Stimme klang wie eine Mischung aus Grollen und Fauchen. »Die Kinder, meine ich. Die Erwachsenen sollten sie daran hindern.«

»Stimmt«, meinte Perrin, obwohl er nicht recht aufgepaßt hatte. Warum kommt er mir so bekannt vor?

Auf dem Schild über der Tür der Schenke in der Nähe des Flusses, zu der Lan sie führte, stand ›Wanderers Schmiede‹, und das schien Perrin ein gutes Omen, auch wenn das Haus nichts von einer Schmiede an sich hatte, abgesehen von dem Mann mit dem Lederschurz und dem Hammer, den man auf das Schild gemalt hatte. Es war ein großes, dreistöckiges Gebäude mit rotem Dach und aus gleichmäßigen, matt glänzenden grauen Steinen erbaut. Die Fenster waren groß, die Türen mit Runen eingelegt, und so wirkte das Ganze recht wohlhabend. Stallburschen kamen angerannt, um sich um die Pferde zu kümmern. Sie verbeugten sich noch tiefer, nachdem Lan ihnen ein paar Münzen zugeworfen hatte.

Drinnen musterte Perrin aufmerksam die Gäste. Die Männer und Frauen an den Tischen hatten, wie es ihm schien, alle Festtagsgewänder an. Er sah mehr bestickte Mäntel, mehr Spitzenbesätze an Kleidern, mehr bunte Bänder und fransenbesetzte Schals, als er seit langer Zeit gesehen hatte. Nur vier Männer an einem der Tische trugen einfache Mäntel, und sie waren auch die einzigen, die nicht erwartungsvoll aufblickten, als Perrin und die anderen eintraten. Die vier Männer unterhielten sich leise weiter. Er konnte kaum etwas von dem verstehen, was sie sagten. Es klang ihm nach den Vorzügen von Eispfeffer gegenüber Fellen als Ladung und welchen Einfluß die Unruhen in Saldaea wohl auf die Preise hätten. Er stufte sie daraufhin als Kapitäne von Handelsschiffen ein. Die anderen schienen Ortsansässige zu sein. Selbst die Bedienungen trugen ihre besten Kleider. Ihre langen Schürzen bedeckten bestickte Kleider mit Spitzenkragen.

In der Küche wurde hektisch gearbeitet. Er konnte den Duft von Hammel, Lamm, Hähnchen und Rindfleisch wahrnehmen und dann noch einige Gemüsesorten. Dazu kam ein Gewürzkuchen, der ihn für den Augenblick sogar das Fleisch vergessen ließ.

Der Wirt begrüßte sie sogleich. Er war ein dicker Mann mit Glatze und leuchtend braunen Augen in einem glatten rosa Gesicht. Er verbeugte sich und rang ergeben die Hände. Wenn er nicht zu ihnen hergekommen wäre, hätte ihn Perrin nie für den Wirt gehalten, denn statt der üblichen weißen Schürze trug er wie jedermann sonst eine lange Jacke, deren kräftige blaue Wolle mit weißen und grünen Stickereien geschmückt war. Der Mann schwitzte heftig darunter.

Warum tragen sie alle ihre Festgewänder? fragte sich Perrin.

»Ah, Meister Andra«, begrüßte der Wirt Lan. »Und ein Ogier, wie Ihr es angekündigt hattet. Nicht, daß ich daran gezweifelt hätte. Nicht bei all dem, was passiert ist, und an Eurem Wort zweifle ich sowieso nicht, Meister. Warum auch kein Ogier? Ach, Freund Ogier, Euch im Haus zu haben macht mir mehr Freude, als Ihr euch vorstellen könnt. Das ist eine schöne Sache und krönt einfach alles. Ach, und die Lady... « Er musterte ihr tiefblaues Seidenkleid und die kostbare Wolle ihres Umhangs, der wohl staubig war von der Reise, aber ansonsten unbeschädigt. »Vergebt mir, bitte, Lady.« Seine Verbeugung machte aus ihm beinahe ein Hufeisen. »Meister Andra hat mir nichts von Eurem Rang erzählt, Lady. Ich muß Euch den rechten Respekt zollen. Ihr seid natürlich sogar noch willkommener hier als ein Ogier, Lady. Bitte, stoßt Euch nicht an Gainor Furlans ungehobelter Sprache.«

»Keine Ursache.« Moiraine akzeptierte gelassen den Titel, den ihr Furlan verliehen hatte. Es war ja nicht eben das erstemal, daß die Aes Sedai unter falschem Namen reiste oder vorgab, jemand zu sein, die sie nicht war. Es war auch nicht das erstemal, daß Perrin den Namen Andra für Lan gehört hatte. Die Kapuze verbarg immer noch Moiraines glatte Aes-Sedai-Gesichtszüge, und sie hielt mit einer Hand ihren Umhang zusammen, als friere sie ein wenig. Aber nicht mit der Hand, an der sich der Ring der Großen Schlange befand. »Hier im Ort sind seltsame Dinge geschehen, Wirt, wie man mir sagte. Aber ich hoffe, es wird für Reisende deshalb keine Schwierigkeiten geben, oder?«

»O Lady, man kann das wahrhaftig seltsam nennen! Eure strahlende Gegenwart allein ist beinahe zuviel Ehre für dieses einfache Haus, Lady, und noch dazu mit einem Ogier in Eurer Begleitung. Aber wir haben auch Jäger hier in Remen. Hier in des Wanderers Schmiede befinden sich welche. Jäger nach dem Horn von Valere, die sich aus Illian auf der Suche nach Abenteuern aufgemacht haben. Und sie haben tatsächlich ein Abenteuer gefunden, Lady, hier in Remen oder ein, zwei Meilen flußaufwärts. Sie haben ausgerechnet gegen wilde Aiel-Männer kämpfen müssen. Könnt Ihr euch Aiel-Wilde mit dem schwarzen Schleier in Altara vorstellen, Lady?«

Aiel. Nun wußte Perrin, was ihm an dem Mann im Käfig bekannt vorgekommen war. Er hatte schon einmal einen Aiel gesehen, einen dieser harten, beinahe legendären Einwohner des unwirtlichen Landes, das man die Aiel-Wüste nannte. Der Mann hatte Rand sehr ähnlich gesehen, sehr hochgewachsen, mit grauen Augen und rötlichem Haar, und er war ähnlich wie der Mann im Käfig angezogen gewesen, nur in Braun und Grau, das sich kaum von Felsen oder Unterholz abhob, und dazu weiche, kniehoch geschnürte Stiefel. Perrin hörte beinahe Mins Stimme wieder: Ein Aiel-Mann in einem Käfig. Ein Wendepunkt in deinem Leben, oder etwas Wichtiges, das bald geschehen wird.

»Warum habt Ihr...?« Er hielt inne und räusperte sich, damit es nicht ganz so grob klang. »Wie kommt es, daß ein Aiel in einem Käfig auf Eurem Marktplatz hängt?«

»Ach, junger Meister, das ist wieder eine Geschichte, die... « Furlan sprach nicht weiter und musterte ihn erst einmal von Kopf bis Fuß. Er sah die einfache Bauernkleidung und den Langbogen, den er trug, und sein Blick stockte kurz bei der Axt an seinem Gürtel gegenüber dem Köcher. Der dicke Mann fuhr leicht zusammen, als er in seiner Musterung bei Perrins Gesicht ankam. Er hatte wohl, abgelenkt durch die Anwesenheit einer Lady und eines Ogiers, Perrins gelbe Augen noch gar nicht bemerkt. »Ist er Euer Diener, Meister Andra?« fragte er vorsichtshalber.

»Antwortet ihm«, war alles, was Lan darauf entgegnete.

»Ah. Ja, natürlich, Meister Andra. Aber hier ist jemand, der Euch das besser erzählen kann als ich. Es ist Lord Orban selbst. Seinetwegen haben wir uns hier versammelt, um ihm zu lauschen.«

Ein dunkelhaariger junger Mann im roten Mantel kam mühsam die Treppe auf der Seite des Schankraums herunter. Er humpelte an zwei Krücken, deren gepolsterte Oberkanten unter seinen Achseln steckten. Das linke Hosenbein war weggeschnitten, und sein Bein war vom Knie bis zu den Knöcheln dick bandagiert. Eine weitere Bandage trug er um die Stirn. Unter den Bewohnern von Remen entstand ein Volksgemurmel, als sei da etwas wundervolles zu sehen. Die Kapitäne fuhren in ihrer leisen Unterhaltung fort, die sich mittlerweile den Pelzen zugewandt hatte.

Furlan glaubte vielleicht, der Mann im roten Mantel könne die Geschichte besser erzählen, aber er fuhr dann doch selbst fort: »Lord Orban und Lord Gann standen mit nur zehn Knechten zwanzig wilden Aiel-Männern gegenüber. Ach, das war ein wilder und harter Kampf. Viele Wunden wurden da geschlagen. Sechs gute Knechte starben, und jedermann wurde verwundet, am schlimmsten Lord Orban und Lord Gann, aber sie töteten alle Aiel außer denen, die flohen, und sie nahmen einen gefangen. Das ist der, den Ihr draußen auf dem Marktplatz seht. Er wird die Gegend nicht mehr mit seinem wilden Gebaren unsicher machen, und die Toten auch nicht.«

»Ihr habt in dieser Gegend Schwierigkeiten mit Aiel gehabt?« fragte Moiraine.

Perrin fragte sich das auch und es regte ihn ziemlich auf. Wenn einige Leute immer noch den Ausdruck ›Aiel mit schwarzem Schleier‹ für etwas Gewaltsames verwandten, dann zeigte das nur, daß der Aiel-Krieg wohl seit zwanzig Jahren vorbei war, aber nicht vergessen. Dabei waren die Aiel weder vorher noch nachher aus ihrer Wüste hervorgekommen. Aber ich habe einen auf dieser Seite des Rückgrats der Welt gesehen und mit dem hier sind es nun schon zwei.

Der Wirt rieb sich über die Glatze. »Äh. Äh... nein... Lady, nicht direkt. Aber wir hätten mit diesen zwanzig Wilden welche gehabt, da könnt Ihr sicher sein. Schließlich weiß ja noch jeder, wie sie sich quer durch Cairhien gebrannt und geplündert haben. Männer aus diesem Dorf marschierten zur Schlacht der Leuchtenden Mauer, als sich die Heere der Länder versammelten, um sie zurückzuschlagen. Ich litt zu der Zeit gerade an einer Rückgratverkrümmung und konnte nicht mit, aber ich erinnere mich noch gut daran, genau wie die anderen. Wie sie nun hierherkamen, so weit von ihrem Land entfernt, das weiß ich nicht, aber Lord Orban und Lord Gann haben uns vor ihnen gerettet.« Von den Menschen in ihren Festtagsgewändern her erklang zustimmendes Gemurmel.

Orban kam durch den Schankraum zu ihnen herübergestampft. Er schien nur den Wirt im Auge zu haben. Perrin roch schalen Wein an ihm, bevor er sie erreicht hatte. »Wohin ist die alte Frau mit ihren Kräutern verschwunden, Furlan?« wollte Orban ungehalten wissen. »Gann hat große Schmerzen, und mir zerreißt es bald den Kopf.«

Furlan verbeugte sich fast bis auf den Boden hinunter. »Oh, Mutter Leich kommt am Morgen wieder, Lord Orban. Eine Geburt, Lord. Aber sie sagte, sie habe Eure und Lord Ganns Wunden genäht und gesäubert, so daß es keinen Grund zur Sorge gibt. Ach, Lord Orban, ich bin sicher, sie wird morgen früh gleich als erstes zu Euch kommen.«

Der verbundene Mann knurrte etwas in sich hinein, was nur für Perrins Ohren noch verständlich war. Es ging darum, daß sie einer Bäuerin half, ihre Jungen zu werfen, und von ihr wie ein Sack Mehl geflickt zu werden. Er blickte sich mürrisch und ärgerlich um und schien zum erstenmal die Neuankömmlinge zu erblicken. Über Perrin sah er geflissentlich hinweg, was den nicht im geringsten überraschte. Er riß beim Anblick Loials die Augen auf, aber nicht so sehr überrascht, wie man vermuten sollte. Er hat bereits Ogier gesehen, dachte Perrin, aber er vermutete nicht, hier einen anzutreffen. Orbans Augen zogen sich etwas zusammen, als er Lan musterte. Er erkennt einen Kämpfer, wenn er ihn sieht, aber erfreut sich nicht gerade darüber. Dann hellte sich seine Miene auf, als er unter Moiraines Kapuze spähte, obwohl er nicht nahe genug war, um ihr Gesicht klar erkennen zu können.

Perrin beschloß, nicht weiter darüber nachzudenken, wo es doch keine Aes Sedai betraf, und er hoffte, auch Lan und Moiraine würden es ignorieren. Aber ein gewisser Blick des Behüters strafte seine Hoffnung Lügen.

»Zwölf von Euch haben gegen zwanzig Aiel gekämpft?« fragte Lan mit ausdrucksloser Stimme.

Orban richtete sich hoch auf und verzog das Gesicht vor Schmerz. In bewußt nebensächlichem Tonfall sagte er: »Ja. Solche Dinge muß man eben in Kauf nehmen, wenn man nach dem Horn von Valere sucht. Es war nicht die erste Auseinandersetzung dieser Art für Gann und mich, und es wird wohl auch nicht die letzte sein, bis wir das Horn finden. Falls uns das Licht gnädig ist.« Es klang, als bliebe dem Licht überhaupt nichts anderes übrig. »Natürlich haben wir nicht jedesmal gegen Aiel gekämpft, aber es gibt immer Leute, die einen Jäger daran hindern wollen, das Horn zu finden. Gann und mich kann man aber nicht so leicht aufhalten.« Wieder erhob sich zustimmendes Gemurmel von den Ortsansässigen. Orban richtete sich noch ein wenig mehr auf.

»Ihr habt sechs Mann verloren und einen Gefangenen gemacht.« Aus Lans Tonfall konnte man nicht entnehmen, ob er das für eine gute oder eine schlechte Ausbeute hielt.

»Ja«, sagte Orban. »Die anderen haben wir getötet bis auf diejenigen, die flüchten konnten. Zweifellos werden sie nun ihre Toten verstecken. Ich habe gehört, daß dies bei ihnen Sitte ist. Die Weißmäntel suchen gerade nach ihnen, aber sie werden sie nicht finden.«

»Sind Weißmäntel hier?« fragte Perrin in scharfem Ton.

Orban sah ihn an und dann wieder über ihn hinweg. Der Mann sprach statt dessen wieder Lan an: »Die Weißmäntel stecken immer ihre Nase in alles, ob es sie etwas angeht oder nicht. Unfähige Klötze sind das. Ja, sie werden tagelang durch die Gegend reiten, aber ich bezweifle, daß sie mehr als ihre eigenen Schatten finden.« »Das denke ich auch«, sagte Lan.

Der bandagierte Mann runzelte die Stirn, als sei ihm unklar, was Lan damit sagen wolle. Dann fuhr er wieder den Wirt an: »Hört mal, Ihr sucht jetzt diese alte Frau! Mein Kopf platzt beinahe!« Mit einem letzten Blick auf Lan humpelte er weg und nahm wieder mühsam eine Stufe nach der anderen hoch in Richtung seines Zimmers. Bewundernde Äußerungen für den Jäger des Horns, der Aiel-Männer bezwungen hatte, folgten ihm nach oben.

»Das ist ja eine ereignisreiche Zeit für diese Stadt.« Loials tiefe Stimme zog alle Blicke auf ihn. Nur die Kapitäne, bei denen es jetzt um Tauwerk ging, soweit Perrin verstehen konnte, achteten nicht darauf. »Wo ich auch hinkomme, immer seid Ihr Menschen so aktiv, immer in Eile, immer passieren Euch solche Sachen. Wie könnt Ihr nur soviel Aufregung ertragen?«

»Ach, Freund Ogier«, sagte Furlan, »wir Menschen brauchen eben diese Aufregung. Wie ich es bedaure, daß ich nicht in der Lage war, mit zur Schlacht bei der Leuchtenden Mauer zu marschieren. Laßt mich Euch sagen... «

»Unsere Zimmer.« Moiraine sprach nicht lauter als vorher, aber sie schnitt dem Wirt das Wort wie mit einem scharfen Messer ab. »Andra hat doch Zimmer bestellt, oder nicht?«

»Ach, Lady, vergebt mir. Ja, Meister Andra hat wirklich Zimmer gebucht. Vergebt mir, bitte. Es ist nur all diese Aufregung, daß ich mein Herz so ausschütten muß. Bitte, vergebt mir, Lady. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet?« Mit tiefen Verbeugungen und unter weiteren Entschuldigungen führte Furlan sie die Treppe hoch. Er hörte dabei nicht mit Reden auf.

Oben blieb Perrin stehen und blickte zurück. Er hörte Gemurmel wie »Lady« und »Ogier«, fühlte die Blicke auf sich ruhen, aber es schien ihm, daß besonders ein Augenpaar nicht auf Moiraine und Lan, sondern auf ihn gerichtet war.

Er sah sie sofort. Zum einen hob sie sich von den anderen ab, und dann war sie die einzige Frau im Schankraum, die nicht die geringste Spur von Spitzen trug. Ihr dunkelgraues, fast schwarzes Kleid war genauso schmucklos wie die Kleider der Kapitäne mit seinen weiten Ärmeln und dem engen Rock. Keine einzige Rüsche, keine Stickerei oder sonstiger Zierrat waren zu sehen. Ihr Rock war zum Reiten geteilt, wie er bemerkte, als sie sich bewegte. Sie trug weiche Stiefel, die unter dem Rocksaum hervorlugten. Sie war jung — vielleicht nicht älter als er — und groß für eine Frau. Ihr schwarzes Haar fiel ihr auf die Schultern. Die Nase war gerade noch klein genug, die Lippen voll, die Backenknochen relativ hoch und die Augen dunkel und ein wenig schräg stehend. Er konnte nicht ganz entscheiden, ob er sie nun schön nennen solle oder nicht.

Sobald er sie anblickte, wandte sie sich einer Serviererin zu und sah nicht mehr zu ihm hoch, aber er war sich durchaus sicher. Sie hatte ihn lange angesehen.


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