Außerhalb des Arbeitszimmers der Amyrlin waren die Gänge leer bis auf ein paar Dienerinnen, die auf weichen Hausschuhen flink und leise ihren Geschäften nachgingen. Egwene war dankbar für ihre Gegenwart. Die Säle erschienen ihr mit einem Mal wie Höhlen, trotz all der Wandbehänge und Steinfriese. Gefährliche Höhlen.
Nynaeve schritt zielbewußt voran. Sie zupfte immer wieder an ihrem Zopf. Egwene mußte sich beeilen, um Schritt zu halten. Sie wollte nicht allein zurückbleiben.
»Falls immer noch Schwarze Ajah hier sind, Nynaeve, und sie auch nur ahnen, was wir tun... Ich hoffe, du hast es nicht ernst gemeint, als du sagtest, wir sollten uns verhalten, als hätten wir schon die Drei Eide abgelegt. Ich habe nicht die Absicht, mich von ihnen umbringen zu lassen, wenn ich das mit Hilfe der Macht verhindern kann.«
»Falls noch welche von ihnen hier sind, Egwene, werden sie wissen, was wir vorhaben, sobald sie uns sehen.« Trotz ihrer Worte schien Nynaeve nicht ganz bei der Sache zu sein. »Oder sie werden uns zumindest als Bedrohung ansehen, und das bedeutet für uns die gleiche Gefahr.«
»Wieso werden sie uns als Bedrohung ansehen? Niemand bedroht jemanden, der ihn letzten Endes herumkommandieren kann. Niemand fühlt sich von Frauen bedroht, die Töpfe schrubben und dreimal am Tag die Spucknäpfe ausleeren müssen. Deshalb schickt uns die Amyrlin in die Küche zum Arbeiten. Zumindest ist das ein Teil ihrer Gründe.«
»Vielleicht hat die Amyrlin das nicht gründlich genug durchdacht«, sagte Nynaeve abwesend. »Oder sie plant etwas anderes, als sie uns wissen läßt! Denk nach, Egwene. Liandrin hätte gar nicht versucht, uns aus dem Weg zu schaffen, wenn wir nicht eine Bedrohung für sie dargestellt hätten. Ich weiß wohl nicht, wie und warum, aber das ändert sowieso nichts. Falls noch eine Schwarze Ajah hier ist, wird sie uns auf die gleiche Weise sehen, ob sie uns nun im Verdacht hat oder nicht.«
Egwene schluckte. »Daran hatte ich nicht gedacht. Licht, ich wünschte, ich wäre unsichtbar. Nynaeve, wenn sie immer noch hinter uns her sind, riskiere ich lieber eine Dämpfung, als daß ich mich von Schattenfreunden umbringen lasse oder noch Schlimmeres! Und ich kann nicht glauben, daß du dich von ihnen erwischen läßt, gleich, was du der Amyrlin gesagt hast.«
»Ich habe es ernst gemeint.« Einen Augenblick lang schien Nynaeve aus ihrer Nachdenklichkeit zu erwachen. Ihre Schritte wurden langsamer. Eine weißblonde Novizin huschte mit einem Tablett an ihnen vorbei. »Ich habe wirklich jedes Wort ernst gemeint, Egwene.« Nynaeve fuhr fort, als die Novizin außer Hörweite war: »Es gibt andere Möglichkeiten, uns zu verteidigen. Wenn nicht, würden jedesmal Aes Sedai getötet, kaum daß sie die Burg verlassen. Wir müssen nur herausfinden, wie das geht, und es genauso machen.«
»Ich kenne bereits mehrere Möglichkeiten, genau wie du.«
»Sie sind zu gefährlich.« Egwene öffnete den Mund, um zu erwidern, sie seien nur für den gefährlich, der sie angreife, doch Nynaeve ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Es kann sein, daß es dir zu gut gefällt. Als ich heute morgen meine Wut an den Weißmänteln ausließ... habe ich mich verlockend gut gefühlt. Es ist zu gefährlich!« Sie schauderte und beschleunigte ihre Schritte wieder, worauf auch Egwene schneller gehen mußte, um nicht zurückzubleiben.
»Du hörst dich an wie Sheriam. Das war früher nicht so. Da hast du den Bogen fast immer überspannt. Warum akzeptierst du jetzt solche Einschränkungen, wenn wir sie vielleicht doch ignorieren müssen, um zu überleben?«
»Was hilft es uns, wenn wir am Ende vielleicht aus der Burg gewiesen werden? Vor oder nach einer Dämpfung ist dann schon einerlei.« Nynaeves Stimme wurde leiser, als führe sie ein Selbstgespräch. »Ich kann es schaffen. Ich muß, wenn ich lange genug hierbleiben will, um alles zu lernen, und ich muß es lernen, wenn ich... « Mit einem Mal schien ihr klarzuwerden, daß sie laut gesprochen hatte. Sie warf Egwene einen scharfen Blick zu und ihre Stimme wurde wieder fester. »Laß mich darüber nachdenken. Bitte sei ruhig und laß mich denken.«
Egwene blieb still, doch in ihrem Innern brodelten unausgesprochene Fragen. Welchen besonderen Grund hatte Nynaeve dafür, mehr von dem zu erlernen, was ihr die Weiße Burg in der Hinsicht bieten konnte? Was wollte sie damit anfangen? Warum machte Nynaeve ihr gegenüber ein Geheimnis daraus? Geheimnisse. Wir haben viel zu sehr gelernt, Dinge geheimzuhalten, seit wir zur Burg kamen. Auch die Amyrlin hat ihre Geheimnisse vor uns. Licht, was wird sie in bezug auf Mat unternehmen?
Nynaeve begleitete sie zurück zu den Quartieren der Novizinnen. Sie bog nicht zu den Zimmern der Aufgenommenen hin ab. Die Balkone waren noch immer menschenleer, und auch auf der langen Wendeltreppe trafen sie niemanden.
Als sie an Elaynes Tür vorbeikamen, blieb Nynaeve stehen, klopfte kurz an und steckte dann sofort den Kopf hinein, ohne auf eine Antwort zu warten. Dann ließ sie die weiße Tür wieder zufallen und ging weiter zur nächsten, die in Egwenes Zimmer führte. »Sie ist noch nicht da«, sagte sie. »Ich muß mit euch beiden sprechen.«
Egwene packte sie an den Schultern und hielt sie abrupt an. »Was...?« Etwas zupfte an ihrem Haar und stach ihr Ohrläppchen. Ein schwarzer Schemen huschte an ihrem Gesicht vorbei und knallte gegen die Wand. Im nächsten Augenblick warf sich Nynaeve auf sie und drückte sie hinter dem Geländer zu Boden.
Mit weit aufgerissenen Augen lag Egwene platt auf dem Bauch und starrte das an, was nun auf dem Boden des Balkons vor ihrer Nase lag: ein Bolzen von einer Armbrust. In den vier schweren Widerhaken hingen noch einige dunkle Haarsträhnen. Solch ein Bolzen konnte eine Rüstung durchschlagen. Sie hob eine zitternde Hand an ihr Ohr und berührte eine winzige Wunde, an der noch ein Blutstropfen hing. Wenn ich nicht in dem Moment gerade stehengeblieben wäre... Wenn ich nicht... Der Bolzen hätte ihren Kopf glatt durch bohrt und vielleicht auch noch Nynaeve getötet. »Blut und Asche«, keuchte sie. »Blut und blutige Asche!«
»Drücke dich bitte nicht so ordinär aus«, mahnte Nynaeve, aber es klang nicht sehr ernst. Sie lag da und blickte zwischen den weißen Steinpfeilern des Geländers hindurch zur anderen Seite hinüber. In Egwenes Augen wurde sie von einem Glühen umgeben. Sie hatte Saidar berührt.
Schnell versuchte auch Egwene, die Eine Macht zu berühren, aber zuerst gelang es ihr nicht. Die Eile, und dann glitten immer wieder Bilder durch ihr Bewußtsein, so daß sie sich die Leere, das Nichts, nicht vorstellen konnte. Sie sah ständig ihren Kopf vor sich, der von dem schweren Bolzen zerfetzt wurde. Anschließend erwischte es auch Nynaeve. Sie atmete tief durch und versuchte es wieder. Endlich schwebte die Rose in der Leere, öffnete sich der Wahren Quelle und die Macht erfüllte sie.
Sie rollte sich herum und folgte Nynaeves Blick. »Siehst du irgend etwas? Siehst du ihn? Ich werde ihn mit einem Blitz erwischen!« Sie fühlte, wie sich in ihr der Blitz aufbaute. Der Druck wuchs. »Es ist doch ein Mann, oder?« Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann in die Quartiere der Novizinnen eindrang, aber es war noch weniger vorstellbar, daß eine Frau eine Armbrust durch die Burg trug.
»Ich weiß es nicht.« Unterdrückter Zorn erfüllte Nynaeves Stimme. Ihr Zorn war immer dann am schlimmsten, wenn sie ganz ruhig wurde. »Ich glaubte, zu sehen... Ja! Dort!« Egwene fühlte, wie die Macht die andere Frau durchströmte, und dann stand Nynaeve plötzlich gelassen auf und strich ihr Kleid glatt, als hätte sie sonst keine Sorgen.
Egwene sah sie verblüfft an. »Was? Was hast du getan? Nynaeve?«
»Von den Fünf Mächten«, sagte Nynaeve in schulmeisterlichem Ton mit leicht spöttischen Untertönen, »wird die Luft, manchmal auch Wind genannt, von vielen für die nutzloseste gehalten. Das ist jedoch absolut nicht wahr.« Sie lachte ein wenig unsicher. »Ich habe dir doch gesagt, daß es noch andere Möglichkeiten gibt, uns zu verteidigen. Ich benützte die Luft, um ihn festzuhalten. Falls es ein ›er‹ ist; ich konnte ihn nicht klar erkennen. Den Trick hat mir die Amyrlin einmal gezeigt, obwohl ich nicht glaube, daß sie von mir erwartete, ihn zu durchschauen. Also, willst du den ganzen Tag hier liegenbleiben?«
Egwene raffte sich auf und eilte hinter ihr her um die Galerie herum. Nach kurzer Zeit kam ein Mann in Sicht. Er war in einfache braune Hosen und einen braunen Mantel gekleidet. Er blickte von ihnen weg und stand auf den Zehenspitzen eines Fußes, während der andere Fuß in der Luft hing, als renne er gerade in dem Moment. Der Mann fühlte sich vermutlich, als stecke er in einer zähen Flüssigkeit, obwohl ihn nur die verfestigte Luft so hielt. Egwene erinnerte sich auch an den Trick der Amyrlin, aber sie glaubte nicht, daß sie ihn hätte nachvollziehen können. Nynaeve aber mußte etwas nur ein einziges Mal sehen, dann wußte sie, wie man das machte. Falls sie es gerade fertigbrachte, die Macht zu benützen.
Sie kamen näher, und der Schock ließ Egwenes Bindung an die Macht dahinschwinden. Aus der Brust des Mannes ragte der Griff eines Dolches. Sein Gesicht war erschlafft, und der Tod überzog seine halbgeschlossenen Augen mit einem dünnen Schleier. Als Nynaeve die Falle auflöste, die ihn festhielt, sackte er auf den Fußboden.
Der Mann sah ganz gewöhnlich aus, war von durchschnittlicher Größe und Gestalt, und seine Gesichtszüge wirkten so unauffällig, daß Egwene glaubte, sie hätte ihn überhaupt nicht bemerkt, wenn er nur mit zwei anderen Leuten zusammengestanden hätte. Sie betrachtete ihn nur ganz kurz, und dann bemerkte sie, daß etwas fehlte: eine Armbrust.
Sie zuckte zusammen und blickte sich nervös um. »Da muß noch jemand anders gewesen sein, Nynaeve. Jemand hat die Armbrust mitgenommen. Und ihn erstochen. Vielleicht ist er irgendwo dort draußen und schießt gleich wieder auf uns.«
»Beruhige dich«, sagte Nynaeve, spähte aber ebenfalls unruhig erst nach der einen und dann nach der anderen Richtung und zupfte dabei an ihrem Zopf. »Sei nur ganz ruhig, und wir überlegen, was zu tun...« Als sie auf der Wendeltreppe Schritte hörte, brach sie schnell ab.
Egwenes Herz klopfte ihr bis hoch zum Hals. Ihren Blick fest auf die oberste Stufe der Treppe gerichtet, versuchte sie verzweifelt, Saidar wieder zu berühren, doch das erforderte Ruhe, und die wiederum wurde durch ihr Herzklopfen vertrieben.
Sheriam Sedai blieb auf der obersten Stufe stehen und runzelte die Stirn bei dem Anblick, der sich ihr bot. »Was im Namen des Lichts ist hier passiert?« Sie eilte vorwärts, und zum erstenmal war von ihrer Würde nichts mehr zu sehen.
»Wir haben ihn gefunden«, sagte Nynaeve, als die Oberin der Novizinnen neben der Leiche niederkniete.
Sheriam legte eine Hand auf die Brust des Mannes und riß sie noch schneller wieder zurück. Sie gab dabei ein Zischen von sich. Dann nahm sie sich sichtlich zusammen und berührte ihn noch einmal. Diesmal benützte sie offensichtlich die Macht dazu. »Tot«, murmelte sie. »So tot wie überhaupt nur möglich und vielleicht noch mehr.« Als sie sich wieder aufrichtete, zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich die Finger ab. »Ihr habt ihn gefunden? Hier? So, wie er daliegt?«
Egwene nickte. Sie wollte nichts sagen, denn sie war sicher, daß Sheriam ihre Lüge herausgehört hätte.
»Haben wir«, sagte Nynaeve mit fester Stimme. Sheriam schüttelte den Kopf. »Ein Mann — und auch noch ein toter Mann dazu — in den Quartieren der Novizinnen wäre an sich schon ein Skandal, aber dieser hier...!«
»Was ist an ihm anders?« fragte Nynaeve. »Und wie kann er mehr als tot sein?«
Sheriam atmete tief durch und betrachtete beide Frauen forschend. »Es ist einer der Seelenlosen. Ein Grauer Mann.« Geistesabwesend wischte sie sich noch mal die Finger ab und sah wieder zu der Leiche hinüber. Ihr Blick war besorgt.
»Die Seelenlosen?« fragte Egwene mit leicht zitternder Stimme, und beinahe im gleichen Moment fragte Nynaeve: »Ein Grauer Mann?«
Sheriam warf ihnen einen kurzen, aber um so durchdringenderen Blick zu. »Das ist noch nicht Teil eures Lehrstoffes, aber ihr scheint auf viele verschiedene Arten sämtliche Regeln zu durchbrechen. Und da ihr diesen... gefunden habt... « Sie deutete auf den Leichnam. »Die Seelenlosen, die Grauen Männer, geben ihre Seele auf, um dem Dunklen König als Attentäter zu dienen. Danach leben sie nicht mehr richtig. Sie sind nicht ganz tot, leben aber auch nicht. Und trotz der Bezeichnung sind einige der ›Grauen Männer‹ auch Frauen. Einige wenige. Selbst unter den Schattenfreunden sind nur wenige Frauen dumm genug, dieses Opfer zu bringen. Ihr könnt sie genau ansehen, und trotzdem bemerkt ihr sie nicht, bis es zu spät ist. Er war schon genauso tot, als er noch unter den Lebenden wandelte. Nun sagen mir lediglich meine Augen, daß das, was hier liegt, überhaupt einmal gelebt hat.« Sie sah sie noch einmal lange an. »Kein Grauer Mann hat mehr gewagt, Tar Valon zu betreten, seit die Trolloc-Kriege vorüber sind.«
»Was werdet Ihr nun tun?« fragte Egwene. Sheriam zog die Augenbrauen hoch, und sie fügte schnell hinzu: »Falls ich das fragen darf, Sheriam Sedai.«
Die Aes Sedai zögerte. »Ich denke schon, daß Ihr fragen dürft, denn Ihr hattet ja auch das Pech, ihn zu finden. Die Amyrlin wird das entscheiden, aber ich glaube, nach all dem, was zuletzt geschehen ist, wird sie das soweit wie möglich geheimhalten wollen. Wir brauchen nicht noch mehr Gerüchte. Ihr werdet mit niemandem außer mir darüber sprechen, und natürlich mit der Amyrlin, falls sie es zuerst erwähnt.«
»Ja, Aes Sedai«, sagte Egwene inbrünstig. Nynaeves Stimme klang kühler.
Sheriam nahm ihren Gehorsam als etwas ganz Selbstverständliches hin. Sie ließ nicht erkennen, daß sie sie überhaupt gehört hatte. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem toten Mann. Dem Grauen Mann. Dem Seelenlosen. »Die Tatsache, daß hier ein Mann getötet wurde, wird sich nicht verbergen lassen.« Plötzlich umgab sie das Glühen der Einen Macht, und genauso unvermittelt lag der Körper auf dem Boden unter einer niedrigen Glocke. Sie war durchscheinend grau, und darunter konnte man den Körper nur noch schwer erkennen. »Aber das wird jede, die seine Art erkennen könnte, davon abhalten, ihn zu berühren. Ich muß das entfernen lassen, bevor die Novizinnen zurückkommen.«
Ihre schrägstehenden, grünen Augen betrachteten sie, als habe sie sich gerade erst an ihre Gegenwart erinnert. »Ihr beiden geht jetzt weg. Am besten in euer Zimmer, Nynaeve. Wenn man bedenkt, was ihr schon alles zu bewältigen habt... Man darf nicht erfahren, daß ihr in diese Sache hier verwickelt seid, selbst wenn es nur am Rande ist. Geht!«
Egwene knickste und zupfte an Nynaeves Ärmel, aber Nynaeve sagte: »Warum seid Ihr hier heraufgekommen, Sheriam Sedai?«
Einen Augenblick lang blickte Sheriam überrascht drein, doch dann runzelte sie sogleich kritisch die Stirn.
»Muß die Oberin der Novizinnen plötzlich eine Entschuldigung haben, wenn sie die Quartiere der Novizinnen besucht, Aufgenommene?« fragte sie leise. »Stellen Aufgenommene nun plötzlich die Aes Sedai in Frage? Die Amyrlin hat vor, aus euch beiden etwas zu machen, aber ob sie das nun schafft oder nicht, ich werde euch wenigstens Manieren beibringen. Nun geht aber, ihr beiden, bevor ich euch in mein Arbeitszimmer schleife, und das keineswegs bereits für den Termin dort, den die Amyrlin für euch vorgesehen hat.«
Mit einem Mal kam Egwene ein Gedanke. »Verzeiht mir, Sheriam Sedai«, sagte sie schnell, »aber ich muß meinen Umhang noch holen. Mich friert.« Sie eilte weg um die Galerie herum, bevor die Aes Sedai etwas erwidern konnte. Falls Sheriam den Armbrustbolzen vor ihrer Tür fand, würde sie zu viele Fragen stellen. Dann könnten sie nicht mehr behaupten, sie hätten lediglich den Mann gefunden und sonst nichts mit ihm zu tun. Doch als sie die Tür zu ihrem Zimmer erreichte, war der schwere Bolzen weg. Nur die Scharte im Stein neben der Tür zeigte, daß er dort eingeschlagen war.
Egwene bekam eine Gänsehaut. Wie konnte jemand den entfernen, ohne daß wir es bemerkten? Ein weiterer Grauer Mann! Sie berührte ganz unbewußt Saidar. Nur der süße Strom der Macht in ihr sagte ihr, was sie getan hatte. Trotzdem tat sie etwas, was zum Schwersten gehörte, das sie jemals unternommen hatte: Sie öffnete die Tür und trat in ihr Zimmer. Es war niemand da. Sie schnappte sich den weißen Umhang vom Haken und rannte hinaus, und sie ließ Saidar nicht fahren, bis sie fast wieder bei den anderen angelangt war.
Zwischen den Frauen mußte während ihrer Abwesenheit noch etwas vorgegangen sein. Nynaeve bemühte sich, demütig zu wirken, brachte es aber nur fertig, dreinzuschauen, als habe sie Sodbrennen. Sheriam hatte die Fäuste in die Hüften gestützt und klopfte irritiert mit der Fußspitze auf den Boden. Der Blick, den sie Nynaeve zuwarf, wirkte, als wollten grüne Mahlsteine sie im nächsten Moment wie Hafer mahlen. Egwene wurde sofort darin mit einbezogen.
»Verzeiht, Sheriam Sedai«, sagte sie schnell, knickste vor ihr und warf sich gleichzeitig den Umhang über. »Das alles... einen toten Mann zu entdecken... einen... einen Grauen Mann! — das hat mich frieren lassen. Können wir jetzt gehen?«
Sheriam nickte kurz und Nynaeve machte ihren üblichen sehr kurz angebundenen Knicks. Egwene packte sie am Arm und zog sie weg.
»Willst du uns noch mehr Schwierigkeiten einhandeln?« fragte sie zwei Ebenen weiter unten. Sie befanden sich außer Hörweite von Sheriam, hoffte sie jedenfalls. »Was hast du noch zu ihr gesagt, daß sie so böse dreinschaute? Noch mehr Fragen, schätze ich! Ich hoffe, du hast etwas erfahren, was ihren Zorn auf uns wert war!«
»Sie hat gar nichts gesagt«, knurrte Nynaeve. »Wir müssen Fragen stellen, wenn wir etwas ausrichten wollen, Egwene. Es ist ein wenig Risiko wert, denn sonst erfahren wir überhaupt nichts.«
Egwene seufzte. »Na ja, aber sei ein bißchen verbindlicher dabei!« Nach Nynaeves Gesichtsausdruck zu schließen, hatte sie nicht die Absicht, verbindlicher zu werden oder Risiken aus dem Weg zu gehen. Egwene seufzte noch einmal. »Der Armbrustbolzen war weg, Nynaeve. Er muß von einem anderen Grauen Mann entfernt worden sein.«
»Deshalb bist du also... Licht!« Nynaeve runzelte die Stirn und riß wieder an ihrem Zopf.
Nach einer Weile sagte Egwene: »Was war denn das, womit sie die... den Körper verdeckt hat?« Sie vermied es, noch einmal an die Bezeichnung Grauer Mann zu denken. Das erinnerte sie zu sehr daran, daß draußen noch einer von der Sorte lauerte. Eigentlich wollte sie am liebsten an gar nichts denken.
»Luft«, erwiderte Nynaeve. »Sie benützte ganz einfach Luft dazu. Eine saubere Sache. Ich glaube, ich weiß, wie man sich das zunutze machen kann.«
Der Gebrauch der Einen Macht unterlag den fünf Elementen: Erde, Luft, Feuer, Wasser und Geist. Verschiedenartige Talente erforderten auch unterschiedliche Kombinationen dieser Elemente. »Ich verstehe einiges daran nicht, wie man die Fünf Elemente kombiniert. Nimm zum Beispiel die Heilung von Krankheiten oder Verletzungen. Klar, daß man dazu den Geist benötigt und vielleicht auch die Luft, aber warum das Wasser?«
Nynaeve fuhr sie an: »Was quatschst du denn da laut aus? Hast du vergessen, was wir tun müssen?« Sie sah sich um. Sie hatten die Quartiere der Aufgenommenen erreicht, die einige Galerien tiefer lagen als die der Novizinnen. Sie waren von einem Garten umgeben. Es war nur eine andere Aufgenommene zu sehen, die auf einer anderen Ebene weitereilte, doch sie senkte die Stimme: »Hast du die Schwarzen Ajah vergessen?«
»Ich versuche jedenfalls, sie zu vergessen«, sagte Egwene erhitzt. »Eine Weile lang wenigstens. Ich versuche auch, zu vergessen, daß wir gerade einen toten Mann zurückgelassen haben. Ich versuche, zu vergessen, daß er mich beinahe getötet hätte und daß er einen Gefährten hat, der das vielleicht noch einmal versuchen wird.« Sie berührte ihr Ohr. Der Blutstropfen war getrocknet, aber die Schramme schmerzte noch. »Wir hatten Glück, daß wir nicht beide jetzt tot sind.«
Nynaeves Gesichtsausdruck besänftigte sich, und als sie weitersprach, klang es ein wenig wie bei der Seherin von Emondsfeld, wenn sie jemanden beruhigen mußte. »Behalte diese Leiche gut in Erinnerung, Egwene. Denke daran, daß er dich töten wollte. Uns töten wollte. Denke auch immer an die Schwarzen Ajah. Die ganze Zeit über mußt du das im Hinterkopf behalten. Denn wenn du nur einmal nicht daran denkst, kann es bereits im nächsten Moment zu spät sein, und du bist tot.«
»Ich weiß«, seufzte Egwene. »Aber es muß mir ja nicht auch noch gefallen.«
»Hast du bemerkt, was Sheriam nicht erwähnt hat?«
»Nein. Was?«
»Sie hat überhaupt nicht danach gefragt, wer ihn wohl erdolcht hat. Also, komm jetzt. Mein Zimmer ist gleich dort drüben, und wenn wir uns drinnen weiter unterhalten, kannst du wenigstens die Füße hochlegen.«