27 Tel'aran'rhiod

Das Zimmer, das Egwene an der gleichen Galerie wie Nynaeve und Elayne bekommen hatte, unterschied sich kaum von denen der anderen. Ihr Bett war ein wenig breiter und ihr Tisch ein wenig kleiner. Ihr kleiner Läufer hatte ein Blumenmuster anstatt der Runen bei Nynaeve. Das war alles. Nach den dürftigen Zimmern der Novizinnen erschien ihr das allerdings wie ein Raum in einem Palast. Als die drei dann spät abends zusammensaßen, wünschte sich Egwene doch wieder ins Novizinnenquartier zurück, ohne den Ring an ihrem Finger und die Farbbänder an ihrem Kleid. Die anderen wirkten genauso nervös, wie sie sich fühlte.

Sie hatten zwei weitere Mahlzeiten in der Küche vorbereitet und hinterher die Spuren beseitigt, und dazwischen hatten sie versucht, die Bedeutung der im Lagerraum gefundenen Gegenstände zu enträtseln. War es eine Falle oder ein Ablenkungsmanöver, um ihre Suche zu erschweren? Wußte die Amyrlin von diesen Sachen, und wenn ja, warum hatte sie dann ihnen gegenüber nichts davon erwähnt? Alle Überlegungen führten nicht weiter, und die Amyrlin tauchte nicht auf, so daß sie ihr auch keine Fragen stellen konnten.

Verin war nach dem Mittagessen in die Küche gekommen, zwinkernd und unsicher, als sei ihr selbst nicht ganz klar, warum sie gekommen war. Als sie Egwene und die anderen beiden auf den Knien zwischen Kesseln und Töpfen entdeckte, blickte sie einen Augenblick lang überrascht drein, und dann ging sie zu ihnen hin und fragte so laut, daß es jeder hören konnte: »Habt ihr etwas herausgefunden?«

Elayne, die bis zu den Schultern kopfüber in einem riesigen Suppenkessel steckte, zuckte so zusammen, daß sie sich den Kopf hart am Kesselrand anschlug, als sie ihn herauszuziehen versuchte. Ihre blauen Augen schienen in dem Moment ihr ganzes Gesicht einzunehmen.

»Nichts als fettige Töpfe und Schweiß, Aes Sedai«, sagte Nynaeve. Sie zog an ihrem Zopf und hinterließ dabei einen seifigen Schmierer auf ihrem dunklen Haar. Ärgerlich verzog sie das Gesicht.

Verin nickte, als sei das die Antwort gewesen, die sie hören wollte. »Also, dann schaut mal weiter.« Sie sah sich noch einmal in der Küche um, runzelte die Stirn, als sei sie erstaunt, sich hier wiederzufinden, und ging.

Auch Alanna kam nach dem Essen in die Küche und holte sich eine Schüssel großer, grüner Stachelbeeren und einen Krug Wein. Elaida sah sich ebenfalls nach ihnen um, und nach dem Abendessen schauten erst Sheriam und anschließend Anaiya vorbei.

Alanna hatte Egwene gefragt, ob sie mehr über die Grünen Ajah erfahren wolle und wann sie eigentlich weiter lernen würden. Nur weil die Aufgenommenen sich ihre eigenen Studiengebiete und ihre eigene Zeit zum Lernen auswählen durften, hieß das ja nicht, daß sie überhaupt nichts tun müßten. Die ersten paar Wochen würden natürlich schlimm, aber sie mußten ihre Fächer auswählen, oder man würde die Wahl einfach für sie treffen.

Elaida hatte nur eine Weile lang mit ernstem Gesicht dagestanden und sie angesehen, die Hände in die Hüften gestützt, nun ja, und bei Sheriam war es so in etwa das gleiche gewesen. Auch Anaiya hatte zunächst genauso dagestanden, aber ihr Blick war besorgter gewesen. Bis sie bemerkte, daß die drei auch sie musterten. Dann paßte sich ihr Gesichtsausdruck denen von Elaida und Sheriam an.

Keiner dieser Besuche hatte in Egwenes Augen irgendeine Bedeutung. Die Herrin der Novizinnen hatte ganz sicher Grund genug, nach ihren Schützlingen zu sehen und auch nach den anderen Novizinnen, die in der Küche arbeiteten, nun, und Elaida wollte natürlich ein Auge auf die Tochter-Erbin von Andor haben. Egwene bemühte sich, nicht an das Interesse der Aes Sedai an Rand zu denken. Was Alanna betraf, war sie nicht die einzige Aes Sedai, die lieber ein Tablett mit Speisen in ihr Zimmer mitnahm, anstatt mit allen anderen gemeinsam zu essen. Die Hälfte der Schwestern in der Burg war einfach zu sehr beschäftigt, um unten zu essen oder sich die Zeit zu nehmen, nach einer Dienerin zu suchen, die ihnen das Essen bringen sollte. Und Anaiya? Anaiya war möglicherweise einfach besorgt um ihre ›Träumerin‹. Nicht, daß sie irgend etwas unternahm, um die von der Amyrlin ausgesprochene Strafe zu mildern. Sie kam also wahrscheinlich Egwenes wegen. Das konnte jedenfalls der Grund sein.

Als sie ihr Kleid in den Schrank hängte, sagte sich Egwene noch einmal, daß Verins verbaler Ausrutscher wahrscheinlich völlig normal gewesen sei, denn die Braune Schwester war ja wohl ständig geistesabwesend. Falls es ein Versehen war. Sie setzte sich auf die Bettkante, zog ihr Nachthemd über und begann, ihre Strümpfe herunterzurollen. Langsam war ihr die Farbe Weiß fast genauso verhaßt wie Grau.

Nynaeve stand vor dem Kamin, hatte Egwenes Gürteltasche in der einen Hand, und mit der anderen zog sie schon wieder an ihrem Zopf. Elayne saß am Tisch und bemühte sich nervös, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

»Grüne Ajah«, sagte die junge Frau mit dem goldenen Haarschopf wohl zum zwanzigstenmal seit dem Mittagessen. »Ich wähle auch vielleicht die Grünen Ajah, Egwene. Dann kann ich drei oder vier Behüter haben und vielleicht einen davon heiraten. Wer wäre besser als Prinzgemahl von Andor geeignet als ein Behüter? Außer, es ist... « Sie ließ errötend die Worte verklingen.

Egwene fühlte Eifersucht in sich aufsteigen, obwohl sie die längst abgelegt zu haben glaubte. Es mischte sich allerdings auch Sympathie darunter. Licht, wie kann ich nur eifersüchtig werden, wo ich doch Galad nicht einmal ansehen kann, ohne zu zittern und das Gefühl zu bekommen, ich schmelze, und das zur gleichen Zeit? Rand gehörte zu mir, aber jetzt nicht mehr. Ich wünschte, ich könnte ihn dir geben, Elayne, aber ich fürchte, er gehört keiner von uns. Es mag ja schön und gut für die Tochter-Erbin sein, einen Bürgerlichen zu heiraten, solange er wenigstens aus Andor kommt, aber nicht den Wiedergeborenen Drachen! Sie ließ die Strümpfe auf den Boden fallen, weil sie sich sagte, daß es heute abend wichtigere Dinge gäbe als Ordnung und Sauberkeit. »Ich bin soweit, Nynaeve.«

Nynaeve gab ihr die Gürteltasche und ein langes, dünnes Lederband. »Vielleicht wirkt er bei mehr als einer Person gleichzeitig? Ich könnte... möglicherweise mit dir gehen.«

Egwene ließ den Steinring auf ihre Handfläche rollen, zog das Lederband durch und band es sich um den Hals. Die Streifen und die blauen, braunen und roten Flecken wirkten vor dem Hintergrund ihres weißen Nachthemds noch lebhafter. »Und soll Elayne dann uns beide bewachen und schützen? Obwohl es sein kann, daß die Schwarzen Ajah uns bereits auf den Fersen sind?«

»Das schaffe ich schon«, meinte Elayne tapfer. »Oder laß mich mit dir gehen, und Nynaeve kann Wache halten. Wenn sie zornig ist, ist sie sowieso die Stärkste von uns, und sollten wir eine Wächterin brauchen, kannst du sicher sein, daß sie rechtzeitig wütend wird.«

Egwene schüttelte den Kopf. »Und was ist, wenn es gar nicht bei zweien auf einmal wirkt? Wenn es zwei von uns versuchen, kann es sein, daß überhaupt nichts mehr geht. Und wir wüßten es nicht einmal, bevor wir wieder wach sind. Dann hätten wir die Nacht vertan. Wenn wir aufholen wollen, dürfen wir keine einzige Nacht verschwenden. Wir liegen so schon zu weit hinter ihnen zurück.« Das waren stichhaltige Gründe, hinter denen sie stand, doch insgeheim hatte sie noch einen anderen Grund, der ihrem Herzen näher lag. »Und dann fühle ich mich auch wohler, wenn ich weiß, daß ihr beide mich behütet, falls... «

Sie wollte es nicht aussprechen. Falls jemand hereinkam, während sie schlief. Die Grauen Männer. Die Schwarzen Ajah. Irgendeine der Gestalten, die aus der Weißen Burg einen Ort gemacht hatten wie ein dunkler Wald, voll von Gruben und Fallen. Wenn etwas hereinkäme, während sie hilflos dalag. An ihren Gesichtern sah sie, daß die beiden sie verstanden.

Als sie sich auf dem Bett ausstreckte und sich ein Federkissen unter den Kopf stopfte, trug Elayne die Stühle heran und stellte jeden auf eine Seite des Bettes. Nynaeve löschte eine Kerze nach der anderen und setzte sich dann im Dunkeln auf den einen Stuhl. Elayne nahm den anderen.

Egwene schloß die Augen und versuchte, einzuschlafen, aber sie war sich dieses Dings auf ihrer Brust einfach zu bewußt. Viel bewußter als der Striemen auf ihrer Hinterpartie, die sie von dem Besuch in Sheriams Arbeitszimmer davongetragen hatte. Der Ring schien ihr jetzt so schwer wie ein Backstein, und immer wieder verflogen alle Gedanken an zu Hause und stille Teiche im Mondlicht durch sein Gewicht auf ihrer Brust. Dabei wartete Tel'aran'rhiod auf sie. Die Unsichtbare Welt. Die Welt der Träume. Sie wartete gleich hinter dem Schlaf.

Nynaeve begann, leise zu summen. Egwene erkannte darin eine namenlose, wortlose Melodie, die ihre Mutter ihr vorgesummt hatte, als sie noch klein war. Als sie im Bett lag, in ihrem eigenen Zimmer, auf einem flauschigen Kissen, unter warmen Decken, und von ihrer Mutter ging der vermischte Duft nach Rosenöl und Gebäck aus, und... Rand, geht es dir gut? Perrin? Wo war er? Sie schlief ein.

Sie stand inmitten weitgeschwungener Hügel, die mit Blumen übersät waren und in deren Senken und auf deren Kämmen kleine Dickichte aus immergrünen Büschen wuchsen. Schmetterlinge schwebten über den Blüten. Ihre Flügel schimmerten gelb und blau und grün. In der Nähe sangen sich zwei Lerchen gegenseitig etwas vor. Auf einem cremigblauen Himmel trieben gerade genug Wattebauschwölkchen, und die leichte Brise war weder zu kühl noch zu warm. So etwas erlebte man nur an wenigen auserwählten Frühlingstagen. Dieser Tag war einfach zu vollkommen, um etwas anderes als ein Traum zu sein.

Sie blickte auf ihr Kleid herunter und lachte entzückt. Es war haargenau ihre Lieblingsfarbe — himmelblaue Seide mit weißen Falten am Rock, die sich nach einem leichten Stirnrunzeln grün färbten. Bestickt war es mit Reihen winzigkleiner Perlen an den Ärmeln und am Busen. Sie steckte einen Fuß darunter hervor und sah die Spitze eines Samthausschuhs. Das einzige, was die Harmonie störte, war der verdrehte, vielfarbige Steinring, der an einem Lederband um ihrem Hals hing.

Sie nahm den Ring in die Hand und schnappte nach Luft. Er war plötzlich federleicht! Wenn sie ihn nach oben warf, würde er wie eine Daunenfeder vom Wind fortgetragen. Mit einem Mal hatte sie die Angst davor verloren. Sie steckte ihn in ihr Kleid, um ihn aus dem Weg zu haben.

»Also das ist Tel'aran'rhiod«, sagte sie. »Corianin Nedeals Welt der Träume. Sie wirkt nicht gefährlich auf mich.« Aber Verin hatte behauptet, sie sei gefährlich. Schwarze Ajah oder nicht, jedenfalls glaubte Egwene nicht, daß eine Aes Sedai bewußt lügen könne. Sie irrt sich vielleicht. Aber daran glaubte sie bei Verin auch nicht.

Nur um festzustellen, ob das klappte, öffnete sie sich der Einen Macht. Saidar erfüllte sie. Selbst hier war es gegenwärtig. Sie ergriff den Strom ganz leicht und vorsichtig, lenkte ihn in den Wind, wirbelte Schmetterlinge in flatternden Farbspiralen empor, trieb sie zu ineinander verschlungenen Ringen zusammen.

Plötzlich ließ sie die Macht fahren. Die Schmetterlingen kehrten auf ihre Blüten zurück. Offensichtlich hatte ihnen ihr kurzes Abenteuer nichts ausgemacht. Die Myrddraal und andere Abkömmlinge des Schattens konnten fühlen, wenn jemand die Macht benützte. Wenn sie sich umsah, konnte sie sich wohl solche Wesen an diesem Ort nicht vorstellen, aber ihr Mangel an Vorstellungsvermögen mußte ja nicht bedeuten, daß es hier keine gab. Und die Schwarzen Ajah hatten all diese Ter'Angreal, die Corianin Nedeal untersucht hatte. Das erinnerte sie auf unangenehme Weise an den Zweck ihres Hierseins.

»Wenigstens weiß ich nun, daß ich hier die Macht gebrauchen kann«, murmelte sie. »Aber ich erfahre nichts, wenn ich hier herumstehe. Ich sollte mich etwas umschauen... « Sie tat einen Schritt...

... und stand in der schalen Luft eines düsteren Ganges in einer Schenke. Sie war die Tochter eines Schankwirts — deshalb war sie sicher, daß es eine Schenke sein mußte. Es war aber kein Laut zu hören, und alle Türen zum Gang waren geschlossen. Als sie sich gerade fragte, wer wohl hinter der einfachen Holztür vor ihrer Nase hause, öffnete sie sich lautlos.

Das Zimmer dahinter war kahl. Kalter Wind seufzte in den offenen Fenstern und wirbelte die Asche auf dem Herd hoch. Ein großer Hund lag zusammengerollt auf dem Boden, den zerzausten Schwanz über die Schnauze gelegt. Er lag zwischen der Tür und einem dicken, roh behauenen Pfeiler aus schwarzem Stein in der Zimmermitte. Ein hochgewachsener junger Mann mit zerzaustem Haar saß in Unterwäsche vor der Säule und hatte sich daran gelehnt. Sein Kopf hing wie im Schlaf zur Seite. Eine massive, schwarze Kette spannte sich um den Pfeiler und um seine Brust. Er hatte ihre Enden in seinen Fäusten. Ob er nun schlief oder nicht: Seine mächtigen Muskeln waren angespannt, um die Kette straff zu halten und sich selbst an den Pfeiler zu fesseln.

»Perrin?« fragte sie staunend. Sie trat in das Zimmer. »Perrin, was ist denn los mit dir? Perrin!« Der Hund rührte sich und stand auf. Es war kein Hund, sondern ein Wolf, ganz schwarz und grau. Er zog die Lefzen hoch und zeigte schimmernde, weiße Zähne. Gelbe Augen betrachteten sie, als sei sie eine Maus. Eine Maus, die er fressen wollte.

Egwene trat unwillkürlich ganz schnell in den Gang zurück. »Perrin! Wach auf! Ein Wolf ist da!« Verin hatte behauptet, was hier geschehe, sei Wirklichkeit, und sie hatte zum Beweis ihre Narbe gezeigt. Die Zähne des Wolfs sahen so groß wie Messer aus.

»Perrin, wach auf! Sag ihm, daß ich ein Freund bin!« Sie berührte Saidar. Der Wolf schlich näher heran.

Perrins Kopf fuhr hoch, und seine Augen öffneten sich schläfrig. Nun wurde sie von zwei gelben Augenpaaren beobachtet. Der Körper des Wolfs straffte sich. »Springer«, rief Perrin, »nein! Egwene!«

Die Tür knallte vor ihrer Nase zu, und sie befand sich in totaler Dunkelheit.

Sie konnte nichts sehen, doch sie fühlte, wie auf ihrer Stirn Schweißtropfen standen. Und die rührten nicht von Hitze her. Licht, wo bin ich? Mir gefällt es hier nicht. Ich will aufwachen!

Ein Zirpen erklang, und Egwene fuhr erschrocken zusammen. Dann wurde ihr klar, daß die Ursache eine Grille war. Ein Frosch quakte laut in der Dunkelheit, und ein ganzer Chor antwortete ihm. Als sich ihre Augen langsam eingewöhnt hatten, konnte sie schattenhaft Bäume um sich herum erkennen. Wolken verdeckten die Sterne, und der Mond war nur eine hauchfeine Sichel.

Zu ihrer Rechten konnte sie zwischen den Bäumen ein flackerndes Glühen erkennen — ein Lagerfeuer.

Sie überlegte einen Moment lang, bevor sie sich in Bewegung setzte. Der bloße Wille, aufzuwachen, hatte nicht gereicht, um sie von Tel'aran'rhiod wegzuholen, aber etwas Nützliches hatte sie auch noch nicht herausgefunden. Allerdings hatte sie auch noch keinerlei Verletzung erlitten. Bis jetzt, dachte sie schaudernd. Aber sie hatte keine Ahnung, wer — oder was — dort am Lagerfeuer saß. Es könnte ein Myrddraal sein. Außerdem bin ich nicht gerade passend für den Wald angezogen. Dieser letzte Gedanke gab den Ausschlag. Sie war stolz darauf, daß sie selbst merkte, wenn sie sich dumm anstellte.

Sie atmete tief durch, raffte ihren Rock hoch und schlich näher heran. Sie hatte vielleicht nicht Nynaeves Geschick darin, doch sie war schlau genug, nicht auf herumliegende Äste zu treten. Schließlich spähte sie vorsichtig hinter dem Stamm einer alten Eiche hervor auf das Lagerfeuer.

Dort saß nur ein hochgewachsener junger Mann und starrte in die Flammen. Rand. Diese Flammen wurden nicht von Holz genährt. Es brannte dort überhaupt nichts Sichtbares. Das Feuer tanzte über einem Fleck kahlen Bodens. Sie glaubte nicht, daß es die darunterliegende Erde versengen würde.

Bevor sie sich auch nur rühren konnte, hob Rand den Kopf. Sie war überrascht, zu sehen, daß er Pfeife rauchte. Ein dünner Rauchfaden erhob sich aus dem Pfeifenkopf. Er wirkte müde, sehr müde.

»Wer ist dort?« fragte er laut. »Ihr habt genug mit Blättern geraschelt, um Tote aufzuwecken, also könnt Ihr genausogut herauskommen und Euch zeigen!«

Egwene preßte die Lippen zusammen, aber sie trat aus ihrer Deckung hervor. Habe ich nicht! »Ich bin es, Rand. Hab keine Angst. Es ist ein Traum. Ich muß mich in deinen Träumen befinden.«

Er war so plötzlich auf den Beinen, daß sie wie erstarrt stehenblieb. Irgendwie kam er ihr größer vor als in ihrer Erinnerung. Und ein wenig gefährlicher. Vielleicht sogar viel gefährlicher. Seine blaugrauen Augen schienen wie gefrorenes Feuer zu brennen.

»Glaubst du, ich wüßte nicht, daß es ein Traum ist?« höhnte er. »Ich weiß, daß alles dadurch nicht weniger wirklich wird.« Er blickte angestrengt in die Dunkelheit hinaus, als suche er nach jemandem. »Wie lange wirst du es noch versuchen?« schrie er in die Nacht hinein. »Wie viele Gesichter benützt du noch? Meine Mutter, meinen Vater und jetzt sie! Hübsche Mädchen können mich auch mit einem Kuß nicht in Versuchung bringen — noch nicht einmal eine, die ich kenne! Ich verweigere mich Euch, Vater der Lügen! Ich gebe nicht nach!«

»Rand«, sagte sie nervös, »ich bin es doch, Egwene. Ich bin wirklich Egwene.«

Plötzlich, wie aus dem Nichts gekommen, hielt er ein Schwert in der Hand. Die Klinge war aus einer einzigen Flamme geschmiedet, leicht gekrümmt und mit einem Reiher verziert. »Meine Mutter hat mir Honigkuchen gegeben, aber er roch nach Gift. Mein Vater hatte ein Messer in der Hand, das er mir in die Rippen rennen wollte. Sie... sie hat mir Küsse geboten und noch mehr.« Schweiß rann über sein Gesicht. Sein Blick schien zu reichen, um sich daran zu entzünden. »Und was bringst du mir?«

»Du wirst mir zuhören, Rand al'Thor, und wenn ich mich auf dich setzen muß!« Sie berührte Saidar und lenkte den Strom, so daß die Luft ihn wie in einem Netz festhielt.

Das Schwert wirbelte in seiner Hand und dröhnte dabei wie das Feuer eines Hochofens.

Sie ächzte und taumelte. Es war, als sei ein zu straff gespanntes Seil plötzlich gerissen.

Rand lachte. »Ich lerne es auch, wie du siehst. Wenn es funktioniert... « Er verzog das Gesicht und ging auf sie zu. »Ich könnte jedes Gesicht ertragen, aber nicht das. Nicht ihr Gesicht, seng dich!« Das Schwert blitzte auf.

Egwene floh.

Sie war sich nicht sicher, was sie da tat oder wie, aber sie befand sich mit einem Mal wieder zwischen den Hügeln unter einem strahlenden Himmel, und Lerchen sangen und Schmetterlinge tanzten. Sie atmete tief und zittrig ein.

Ich habe erfahren — was? Daß der Dunkle König noch hinter Rand her ist? Das weiß ich auch so. Daß der Dunkle König ihn wahrscheinlich töten will? Das ist etwas anderes. Außer, er ist tatsächlich bereits wahnsinnig und weiß nicht, was er sagt. Licht, warum konnte ich ihm nicht helfen? O Licht, Rand!

Sie atmete noch einmal tief durch, um ruhiger zu werden. »Der einzige Weg, ihm zu helfen, ist, ihn einer Dämpfung zu unterziehen«, murmelte sie. »Aber da kann man ihn ja gleich umbringen.« Ihr Magen verknotete sich bei diesem Gedanken. »Das werde ich niemals machen. Niemals!«

Ein Rotkehlchen ließ sich auf einem Schlehenbusch in der Nähe nieder und hielt den Kopf schräg, um sie zu beobachten. Sie sprach den Vogel an: »Also, ich helfe niemandem damit, wenn ich hier herumstehe und Selbstgespräche führe, oder? Oder wenn ich mit dir rede.«

Das Rotkehlchen flog auf, als sie auf den Busch zutrat. Beim zweiten Schritt war es nur noch ein weghuschender Farbfleck, und beim dritten war es in einem Dickicht verschwunden.

Sie blieb stehen und holte den Steinring an seinem Riemen aus ihrem Kleid hervor. Warum veränderte es sich nicht? Alles hatte sich bisher so schnell verändert, daß sie kaum zum Atemholen gekommen war. Warum nicht jetzt? Gab es hier in der Umgebung eine Antwort auf diese Frage? Sie sah sich unsicher um. Die Blumen neckten sie, und die Lieder der Lerchen verspotteten sie. Dieser Ort schien zu sehr ihrer eigenen Sehnsucht zu entspringen.

Entschlossen festigte sie ihren Griff um den Ter'Angreal. »Bring mich dorthin, wo ich hin muß.« Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf den Ring. Er bestand schließlich aus Stein, und so sollte das Element Erde ihr ein Gefühl für ihn verleihen. »Mach schon. Bring mich dorthin, wo ich sein will.« Wieder rief sie Saidar herbei und ließ ein Rinnsal der Macht in den Ring hineinsickern. Sie wußte, daß er die Macht eigentlich nicht benötigte, um zu funktionieren, und so versuchte sie auch nicht, etwas Bestimmtes damit zu erreichen. Sie wollte ihm nur mehr Energie zuleiten. »Bring mich dorthin, wo ich eine Antwort finde. Ich muß wissen, was die Schwarzen Ajah vorhaben. Bring mich zu der Antwort.«

»Tatsächlich. Ihr habt also endlich den Weg gefunden, Kind. Hier gibt es alle möglichen Antworten.«

Egwene riß die Augen auf. Sie stand in einem großen Saal. Die riesige Kuppel wurde von einem wahren Wald massiver Sandsteinsäulen gestützt. Mitten in der Luft hing ein Schwert aus Kristall. Es glitzerte und funkelte und drehte sich langsam. Sie war nicht sicher, glaubte aber, es könne das Schwert sein, nach dem Rand in diesem Traum gegriffen hatte. Diesem anderen Traum. Das hier erschien alles so wirklich! Sie mußte sich immer selbst daran erinnern, daß auch dies nur ein Traum war.

Eine alte Frau trat aus dem Schatten einer der Säulen. Sie humpelte gebückt an einem Stock einher. Häßlich war gar kein Ausdruck für sie. Sie hatte ein knochiges, hervorstehendes Kinn, eine noch härtere, spitzere Nase, und es schien, als wüchsen mehr Haare aus ihren Warzen im Gesicht, als sie auf dem Kopf hatte.

»Wer seid Ihr?« fragte Egwene. Die einzigen Menschen, die sie bisher in Tel'aran'rhiod angetroffen hatte, kannte sie alle, aber sie glaubte nicht, daß sie diese arme alte Frau jemals vergessen hätte.

»Nur die arme alte Sylvie, Lady«, krächzte die alte Frau. Zur gleichen Zeit brachte sie eine Art von Bückling zustande, der ein Zwischending darstellte zwischen Knicks und unterwürfigem Kriechen. »Ihr kennt doch die arme alte Sylvie, Lady. Hat Euch all die Jahre hindurch treu gedient. Fürchtet Ihr Euch immer noch vor diesem alten Gesicht? Bitte nicht, Lady. Wenn ich es brauche, dient es mir genauso wie ein hübscheres.«

»Natürlich«, sagte Egwene. »Es ist ein starkes Gesicht. Ein gutes Gesicht.« Sie hoffte, die Frau würde das schlucken. Wer auch diese Sylvie war, sie schien jedenfalls zu glauben, sie kenne Egwene. Vielleicht kannte sie auch Antworten. »Sylvie, Ihr habt etwas davon gesagt, daß es hier Antworten gebe.«

»Ach, Ihr seid an den rechten Ort gekommen, wenn Ihr Antworten sucht, Lady. Das Herz des Steins ist voll von Antworten. Und Geheimnissen. Die Hochlords wären nicht gerade erfreut, wenn sie uns hier sähen, Lady. O nein. Nur die Hochlords kommen hier herein. Und Diener natürlich.« Sie lachte schlau und krächzend. »Die Hochlords fegen bestimmt nicht den Boden. Aber wer nimmt schon eine Dienerin wahr?«

»Welche Geheimnisse gibt es denn hier?«

Aber Sylvie humpelte auf das Kristallschwert zu. »Intrigen«, sagte sie mehr in sich selbst hinein. »Alle geben vor, dem Großlord zu dienen, und alle intrigieren und planen, das wiederzugewinnen, was sie verloren haben. Jeder glaubt, daß er oder sie der einzige ist, der hier Intrigen spinnt. Ishamael ist ein Narr!«

»Was?« fragte Egwene scharf. »Was habt Ihr da von Ishamael gesagt?«

Die alte Frau wandte sich um und lächelte schief, aber dankbar für die Ansprache. »Nur etwas, was die armen Leute so sagen, Lady. Es lenkt die Macht der Verlorenen ab, wenn man sie Narren nennt. Da fühlt man sich gut und sicher. Selbst der Schatten kann es nicht ertragen, ein Narr genannt zu werden. Versucht es auch, Lady. Sagt, Ba'alzamon sei ein Narr!«

Egwenes Lippen zuckten im Anflug eines Lächelns. »Ba'alzamon ist ein Narr! Ihr habt recht, Sylvie.« Es war tatsächlich ein gutes Gefühl, wenn man den Dunklen König verspottete. Die alte Frau schmunzelte. Das Schwert drehte sich langsam hinter ihrer Schulter. »Sylvie, was ist das?«

»Callandor, Lady. Davon wißt Ihr doch, oder? Das Schwert, Das Man Nicht Berühren Kann.« Plötzlich schwang sie ihren Stock nach hinten auf das Schwert zu. Einen Fuß vom Schwert entfernt schlug der Stock mit einem dumpfen Laut auf etwas Unsichtbares und prallte zurück. Sylvie grinste noch breiter. »Das Schwert, Das Kein Schwert Ist, obwohl verdammt wenige nur wissen, was es tatsächlich ist. Aber niemand außer einem kann es berühren. Diejenigen, die es hierherbrachten, haben dafür gesorgt. Eines Tages wird der Wiedergeborene Drache Callandor in der Hand halten und allein schon damit der Welt beweisen, daß er der Drache ist. Jedenfalls wird das der erste Beweis sein. Lews Therin, der zurückgekehrt ist, und alle können es sehen und vor ihm im Staub liegen. Ach, die Hochlords finden es nicht gut, daß es hier ist. Sie haben nicht gern etwas mit der Einen Macht zu tun. Wenn sie könnten, würden sie es gern loswerden. Was würde nicht einer der Verlorenen darum geben, Callandor in Händen zu halten!«

Egwene blickte das glitzernde Schwert an. Wenn die Prophezeiungen des Drachen stimmten und wenn Rand wirklich der Drache war, wie Moiraine behauptete, dann würde er es eines Tages benützen. Allerdings — den Prophezeiungen nach zu schließen, konnte das eigentlich gar nicht sein! Aber wenn es einen Weg gibt, es zu gewinnen, dann kennen ihn die Schwarzen Ajah vielleicht. Und wenn sie es wissen, kann ich es auch herausfinden.

Vorsichtig tastete sie mit der Macht nach dem, was das Schwert dort festhielt und abschirmte. Ihr Fühler traf auf... irgend etwas... und konnte nicht weiter. Sie konnte feststellen, welche der Fünf Mächte hier eingesetzt worden waren: Luft und Feuer und Geist. Sie fuhr im Geist das komplizierte Muster nach, das mit Hilfe von Saidar hier erzeugt worden war. Es war überraschend stark. Es gab Lücken im Gewebe, durch die ihr tastender Energiefinger dringen konnte. Aber als sie es versuchte, war das, als renne sie mit dem Kopf gegen den stärksten Teil des Gewebes überhaupt. Dann wurde ihr klar, was sie da mit Hilfe der Macht zu durchdringen versuchte, und sie gab auf. Die Hälfte dieser Wand war unter Einsatz von Saidar gewoben worden, und für die andere Hälfte hatte man Saidin verwendet. Diese Hälfte konnte sie weder fühlen noch berühren. So ähnlich mußte es gewesen sein. Doch die Wand war aus einem einzigen Stück gewebt! Eine Steinmauer hält eine blinde Frau genauso zurück wie eine, die sehen kann.

In einiger Entfernung erklang das Echo von Schritten. Stiefelschritten.

Egwene konnte nicht sagen, wie viele Personen es waren oder aus welcher Richtung die Schritte ertönten, aber Sylvie fuhr zusammen und blickte zwischen den Säulen hindurch. »Er kommt wieder, um es anzusehen«, murmelte sie. »Im wachen Zustand oder schlafend — immer will er... « Sie schien sich Egwenes Anwesenheit bewußt zu werden und setzte ein besorgtes Lächeln auf. »Ihr müßt nun gehen, Lady. Er darf Euch hier nicht finden und überhaupt nicht wissen, daß Ihr jemals hier wart.«

Egwene zog sich bereits zwischen die Säulen zurück, und Sylvie folgte ihr. Sie spreizte die Hände und wedelte mit ihrem Stock herum. »Ich gehe ja schon, Sylvie. Ich muß mich nur daran erinnern, wie.« Sie fühlte nach dem Steinring. »Bring mich zu den Hügeln zurück.« Nichts geschah. Sie lenkte einen haarfeinen Strang der Macht hinein. »Bring mich zu den Hügeln zurück.« Immer noch umgaben die Sandsteinpfeiler sie. Die Schritte kamen näher, nahe genug, um nicht mehr vom eigenen Echo überlagert zu werden.

»Ihr kennt den Weg hinaus nicht«, sagte Sylvie mit tonloser Stimme. Dann fuhr sie flüsternd fort, wobei ihr Flüstern sowohl unterwürfig, wie auch gleichzeitig spöttisch klang — eine alte Dienerin, die sich etwas herausnehmen konnte: »O Lady, das ist ein gefährlicher Ort, wenn man sich hierherbegibt, ohne zu wissen, wie man wieder herauskommt. Kommt, laßt Euch von der armen alten Sylvie hinausführen. Die arme alte Sylvie wird Euch sicher in Euer Bett stecken, Lady.« Sie nahm Egwene in die Arme und drängte sie noch weiter vom Schwert weg. Nicht, daß Egwene dazu erst gedrängt werden mußte. Die Schritte hatten aufgehört. Er — wer auch immer es sein mochte — stand wahrscheinlich da und blickte Callandor an.

»Zeigt mir nur den Weg«, flüsterte Egwene zurück. »Oder sagt ihn mir. Ihr braucht mich nicht drängen.«

Irgendwie hatten sich die Finger der alten Frau in der Schnur mit dem Steinring verwickelt. »Faßt das nicht an, Sylvie.«

»Sicher in Euer Bett.«

Der Schmerz löschte die Welt aus.

Mit einem schrillen Schrei fuhr Egwene im Bett hoch. Sie saß in der Dunkelheit, und Schweiß rann über ihr Gesicht. Einen Augenblick lang wußte sie nicht mehr, wo sie sich befand, und es war ihr auch ganz egal. »O Licht«, stöhnte sie, »das tat weh! O Licht, war das schlimm!« Sie tastete ihren Körper ab, sicher, daß ihre Haut angesengt sei oder zumindest Brandblasen aufweisen mußte, doch ihre Hände fanden keine Spur.

»Wir sind ja hier«, erklang Nynaeves Stimme aus der Dunkelheit. »Wir sind hier, Egwene.«

Egwene warf sich in Richtung der Stimme und klammerte sich voller Erleichterung an Nynaeve. »O Licht, ich bin wieder da. Licht, ich bin wirklich zurück!«

»Elayne«, sagte Nynaeve.

Nach wenigen Augenblicken erglühte das Licht einer der Kerzen. Elayne hielt mit der Kerze in der Hand inne. In der anderen Hand hielt sie noch den Fidibus, den sie mit einem Stück Feuerstein und dem kleinen Stahlklotz entzündet hatte. Dann lächelte sie jedoch, und mit einem Schlag flammten alle Kerzen im Zimmer gleichzeitig auf. Sie ging kurz zum Waschtisch und kam mit einem kühlen, feuchten Tuch ans Bett, um Egwenes Gesicht abzuwischen.

»War es so schlimm?« fragte sie besorgt. »Du hast dich vorher überhaupt nicht gerührt und auch nicht im Schlaf gesprochen. Wir wußten nicht, ob wir dich aufwecken sollten oder nicht.«

Hastig zerrte sich Egwene das Lederband über den Kopf und schleuderte es mitsamt dem Steinring durch das Zimmer. »Das nächste Mal«, keuchte sie, »machen wir eine feste Zeit ab, und ihr weckt mich dann auf jeden Fall. Weckt mich, und wenn ihr meinen Kopf in ein Wasserbecken stecken müßt!« Es war ihr nicht klar, daß sie sich bereits entschlossen hatte, es ein zweites Mal zu wagen. Würdest du deinen Kopf in den Rachen eines Bären stecken, nur um zu beweisen, daß du keine Angst hast? Würdest du es zum zweitenmal tun, weil du es einmal fertiggebracht hast, ohne dabei zu sterben?

Und doch war es mehr, als nur sich selbst zu beweisen, daß sie keine Angst habe. Sie hatte Angst und war sich dessen bewußt. Aber solange die Schwarzen Ajah die gestohlenen Ter'Angreal in Händen hielten, die Corianin einst untersucht hatte, mußte sie immer wieder zurück. Sie war sicher, daß die Antwort auf die Frage, warum sie gerade diese Ter'Angreal gestohlen hatten, in Tel'aran'rhiod zu finden war und nirgends anders. Wenn sie das und mehr über die Schwarzen Ajah dort herausfinden konnte, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was man ihr über die Träumer berichtet hatte, dann mußte sie dorthin zurück. »Aber nicht mehr heute nacht«, sagte sie leise. »Noch nicht.«

»Was ist geschehen?« fragte Nynaeve. »Wovon hast du... geträumt?«

Egwene legte sich auf das Bett zurück und begann zu erzählen. Sie ließ nur das mit Perrin aus, wie er mit dem Wolf gesprochen hatte. Den Wolf erwähnte sie überhaupt nicht. Sie fühlte sich ein wenig schuldig deshalb, denn sie sollte doch nichts vor Nynaeve und Elayne verbergen, aber das war eben Perrins Geheimnis, und nur ihm stand es zu, davon zu erzählen, wann immer er es für richtig befand. Das übrige gab sie ihnen Wort für Wort wieder.

Sie beschrieb alles genau. Als sie fertig war, fühlte sie sich ausgebrannt.

»Abgesehen davon«, sagte Elayne, »daß er müde wirkte: Sah es aus, als sei er verletzt? Egwene, ich kann nicht glauben, daß er dir jemals weh täte. Ich kann das einfach nicht glauben.«

»Rand«, meinte Nynaeve trocken, »wird noch eine Weile länger auf sich selbst aufpassen müssen.« Elayne wurde rot. Das sah hübsch aus. Egwene wurde wieder einmal bewußt, daß Elayne immer hübsch wirkte, was sie auch machte, selbst wenn sie weinte oder Töpfe auskratzte. »Callandor«, fuhr Nynaeve fort. »Das Herz des Steins. Das war auf dem Plan angestrichen. Ich glaube, wir wissen, wo die Schwarzen Ajah sind.«

Elayne hatte sich wieder gefangen. »Das ändert nichts an der Falle«, sagte sie. »Wenn es kein Ablenkungsmanöver ist, ist es eben eine Falle.«

Nynaeve lächelte grimmig. »Der beste Weg, den Fallensteller zu fangen, ist der, die Falle auszulösen und abzuwarten, wer dann kommt.«

»Heißt das, wir sollen nach Tear gehen?« fragte Egwene und Nynaeve nickte.

»Die Amyrlin hat uns von der Leine gelassen, scheint mir. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen, denkt daran. Wenigstens wissen wir jetzt, daß die Schwarzen Ajah in Tear sind, und wir wissen sogar, wo wir nach ihnen suchen müssen. Hier sitzen wir nur herum, mißtrauen allen und haben Angst, da draußen könne ein weiterer Grauer Mann auf uns warten. Ich bin lieber der Jagdhund als das Kaninchen.«

»Ich muß an meine Mutter schreiben«, sagte Elayne. Als sie die Blicke wahrnahm, die sie trafen, verteidigte sie sich: »Ich bin schon einmal verschwunden, ohne ihr zu sagen, wo ich war. Wenn ich das noch einmal mache... Ihr kennt Mutters Temperament nicht. Es könnte sein, daß sie dann Gareth Bryne mit dem ganzen Heer gegen Tar Valon aussendet. Oder daß sie uns suchen läßt.«

»Du kannst ja hierbleiben«, sagte Egwene.

»Nein. Ich werde euch doch nicht alleine losziehen lassen. Und ich bleibe nicht hier und frage mich die ganze Zeit, ob die Schwester, die mich gerade unterrichtet, nun eine Schwarze ist oder nicht, und ob der nächste Graue Mann zur Abwechslung mich aufs Korn nimmt.« Sie lachte ein wenig verlegen. »Außerdem will ich nicht in der Küche arbeiten, während ihr beiden auf Abenteuer aus seid. Ich muß nur meiner Mutter mitteilen, daß ich mich im Auftrag der Amyrlin außerhalb der Burg befinde, damit sie nicht durchdreht, wenn sie es erst aus Gerüchten erfährt. Ich muß ihr aber nicht mitteilen, wo wir uns befinden und warum.«

»Das solltest du wirklich nicht«, sagte Nynaeve. »Sie würde uns wahrscheinlich hinterherkommen, wenn sie von den Schwarzen Ajah wüßte. Aber natürlich kannst du nicht wissen, durch welche Hände dein Brief gehen wird, bevor er sie erreicht, oder was fremde Augen darin entdecken werden. Am besten schreibst du nichts, von dem du andere nichts wissen lassen willst.«

»Da ist aber noch etwas anderes«, seufzte Elayne. »Die Amyrlin weiß nichts davon, daß ihr mich eingeweiht habt. Ich muß eine Möglichkeit finden, den Brief abzuschicken, ohne daß sie davon erfährt.«

»Da muß ich mir etwas einfallen lassen.« Nynaeve runzelte die Stirn. »Vielleicht schickst du ihn erst ab, wenn wir unterwegs sind. Du könntest ihn auf dem Weg flußabwärts in Aringill abschicken, falls wir genug Zeit haben, dort jemanden aufzuspüren, der nach Caemlyn geht. Wenn wir diese Papiere vorzeigen, die uns die Amyrlin gegeben hat, können wir vielleicht jemanden für diese Aufgabe gewinnen. Wir müssen hoffen, daß die Papiere auch bei den Kapitänen von Flußschiffen wirken, außer, eine von euch hat erheblich mehr Geld als ich.« Elayne schüttelte bedauernd den Kopf.

Egwene dachte noch nicht einmal darüber nach. Alles Geld, das sie besessen hatten, hatte die Reise von der Toman-Halbinsel hierher verschlungen, bis auf ein paar Kupfermünzen vielleicht. »Wann... « Sie unterbrach und räusperte sich. »Wann brechen wir auf? Heute abend?«

Nynaeve sah sie einen Moment lang nachdenklich an, schüttelte dann aber den Kopf. »Du brauchst Schlaf nach... « Ihre Geste umfaßte alles, sogar den Steinring, der noch an dem Fleck lag, auf den er von der Wand her zurückgeprallt war. »Wir geben der Amyrlin noch eine Chance, mit uns zu sprechen. Wenn wir nach dem Frühstück fertig sind, packt ihr alles ein, was ihr mitnehmen wollt. Macht eure Bündel aber leicht. Denkt daran: Wir müssen die Burg ungesehen verlassen. Wenn die Amyrlin uns bis Mittag nicht erreicht hat, will ich bereits auf einem Handelsschiff sein. Notfalls stopfe ich dem Kapitän diese Papiere in den Rachen, bevor die EinUhr-Glocke läutet. Wie findet ihr das?«

»Das klingt ausgezeichnet«, sagte Elayne entschlossen, und Egwene stellte fest: »Heute abend oder morgen — je eher, desto besser, wie ich die Dinge sehe.« Sie wünschte, sie klänge genauso selbstsicher wie Elayne.

»Dann sollten wir jetzt noch etwas schlafen.«

»Nynaeve«, sagte Egwene mit ganz kläglicher Stimme, »ich... ich möchte heute nacht nicht allein sein.« Es tat ihr weh, das zugeben zu müssen.

»Ich auch nicht«, sagte Elayne. »Ich muß immer an die Seelenlosen denken. Ich weiß nicht, warum, aber vor ihnen fürchte ich mich noch mehr als vor den Schwarzen Ajah.«

»Ich glaube«, sagte Nynaeve bedächtig, »ich lege auch keinen Wert darauf, allein zu sein.« Sie beäugte das Bett, auf dem Egwene lag. »Das sieht groß genug aus für drei, wenn jede die Ellbogen einzieht.«

Später, als sie sich herumwälzten und versuchten, trotz der Enge eine gute Lage zum Schlafen zu finden, mußte Nynaeve plötzlich lachen.

»Was ist los?« fragte Egwene. »Du bist doch sonst nicht kitzlig.«

»Ich habe gerade jemanden gefunden, der glücklich wäre, Elaynes Brief überbringen zu dürfen. Und auch glücklich, Tar Valon verlassen zu können. Darauf wette ich!«


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