45 Caemlyn

Mat erinnerte sich noch vage an Caemlyn, aber als sie sich der Stadt in den frühen Morgenstunden kurz nach Sonnenaufgang näherten, war ihm, als sei er noch nie hier gewesen. Seit dem ersten Morgengrauen waren sie auf der Straße nicht mehr die einzigen Reisenden gewesen, und auch jetzt bewegten sie sich inmitten anderer Reiter, Wagenzüge und Fußgänger... Alles strömte auf die große Stadt zu.

Sie erstreckte sich über mehrere Hügel und war mindestens so groß wie Tar Valon. Eine riesige Mauer schützte sie: fünfzig Fuß hoch, aus hellem, grauem Stein erbaut, in dem unzählige weiße und silberne Äderchen im Sonnenschein funkelten, und in regelmäßigen Abständen mit hohen, runden Türmen bewehrt, auf denen die Flagge mit dem Löwen von Andor flatterte, weiß auf rot. Außerhalb dieser Mauer schien es, daß man eine weitere große Stadt erbaut hatte, die jene andere schützend umgab. Dort sah man rote Backsteine, grauen Naturstein und weißgetünchte Wände, Schenken, Wand an Wand mit schönen drei- und vierstöckigen Häusern, die offensichtlich reichen Kaufleuten gehörten, Läden mit unter Markisen ausgelegten Waren direkt neben breiten, fensterlosen Lagerhäusern. Zu beiden Seiten der Straße zog sich ein offener Markt unter roten und purpurnen Ziegeldächern dahin. Jetzt schon priesen Frauen und Männer ihre Waren dort an, feilschten mit größtmöglicher Lautstärke, und eingesperrte Kälber und Schafe und Ziegen und Schweine, Gänse und Hühner und Enten in Käfigen vollführten einen ohrenbetäubenden Lärm. Er erinnerte sich dunkel daran, daß ihm bei seinem ersten Aufenthalt in Caemlyn der Lärm schon auf die Nerven gegangen war. Nun erschien ihm das Ganze wie der Herzschlag der Stadt, der unaufhörlich Reichtum fließen ließ.

Die Straße führte zu zwanzig Fuß hohen Torbögen, wo Soldaten der königlichen Garde in roten Röcken und glänzenden Brustpanzern die geöffneten Torflügel aufmerksam bewachten. Sie musterten Thom und ihn aber nicht mißtrauischer als alle anderen; nicht einmal der Bauernspieß, den er vor sich über den Sattel gelegt hatte, erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Es schien, daß sie nur den Strom der Menschen in Bewegung halten wollten.

Dann waren sie drinnen. Schlanke Türme erhoben sich hier, die noch höher waren als die an der Stadtmauer, und große Kuppeln schimmerten weiß und golden über von Menschen wimmelnden Straßen. Gleich hinter dem Stadttor teilte sich die Straße in zwei Parallelstraßen, die durch einen breiten Grünstreifen mit Gras und Bäumen voneinander getrennt wurden. Die Hügel der Stadt stiegen in sanften Stufen zu einem Gipfel hinauf, der von einer weiteren Mauer, weiß leuchtend wie die Tar Valons, umgeben war. Dahinter erhoben sich wieder Kuppeln und Türme. Das war, wie sich Mat erinnerte, die Innere Stadt, und auf dem höchsten Hügel stand der königliche Palast.

»Hat keinen Zweck, zu warten«, sagte er zu Thom. »Ich bringe den Brief auf schnellstem Weg hin.« Er betrachtete die Sänften und Kutschen, die sich durch die Menge schoben, und die Läden mit all ihren ausgestellten Waren. »In dieser Stadt kann ein Mann durchaus zu ein wenig Gold kommen, Thom, wenn er mit Würfeln oder Karten umgehen kann.« Mit den Karten hatte er nicht soviel Glück wie beim Würfelspiel, aber außer Adligen und Reichen spielte sowieso niemand mit Spielkarten. Und die sollte ich aufspüren.

Thom gähnte ihn an und zog seinen Gauklerumhang wie eine Decke hoch. »Wir sind die ganze Nacht geritten, Junge. Laß uns wenigstens zuerst etwas zum Essen finden. In ›Der Königin Segen‹ gibt es gute Speisen.« Er gähnte wieder. »Und gute Betten.«

»Daran erinnere ich mich auch«, sagte Mat bedächtig. Das stimmte, zumindest halbwegs. Der Wirt war ein fetter Mann mit ergrautem Haar — Meister Gill. Dort hatte Moiraine Rand und ihn vorgefunden, als sie geglaubt hatten, sie seien sie endlich losgeworden. Jetzt ist sie weg und spielt ihr Spielchen mit Rand. Hat mit mir nichts mehr zu tun. Jetzt nicht mehr. »Ich treffe dich dann dort, Thom. Ich sagte, ich wolle diesen Brief spätestens eine Stunde nach meiner Ankunft los haben, und daran werde ich mich halten. Reite du inzwischen dorthin.«

Thom nickte und ließ sein Pferd abbiegen. Er rief dann noch gähnend nach hinten zu: »Verirre dich nicht, Junge! Caemlyn ist eine große Stadt!«

Und eine reiche. Mat trieb sein Pferd mit den Fersen weiter die belebte Straße hinauf. Verirren! Ich finde mich, verflucht noch mal, zurecht! Die Krankheit schien Teile seines Erinnerungsvermögens ausgelöscht zu haben. Er sah beispielsweise eine Schenke, deren oberes Stockwerk nach allen Seiten über das untere hinausragte, und deren Schild im Wind knarrte, und er wußte, daß er sie früher schon gesehen hatte, aber was man nun wieder von hier aus sehen konnte, war ihm vollkommen aus dem Gedächtnis verschwunden. Es konnte sein, daß er sich an ein hundert Schritt langes Straßenstück mit einemmal ganz klar erinnerte, während alles andere so geheimnisvoll wirkte wie die Würfel im geschlossenen Becher.

Doch bei all diesen Gedächtnislücken war er vollkommen sicher, nie die Innere Stadt und den königlichen Palast besucht zu haben. Das könnte ich nicht vergessen! Der Weg war allerdings nicht zu verfehlen. Die Straßen der Neustadt — an diese Bezeichnung erinnerte er sich mit einem Schlag; das war der Teil Caemlyns, der weniger als zweitausend Jahre alt war — führten zwar in alle möglichen Richtungen, doch die Hauptstraßen verliefen alle ins Zentrum. Die Wächter am Tor machten keine Anstalten, irgend jemand aufzuhalten.

Innerhalb dieser weißen Mauer standen Gebäude, die auch nach Tar Valon gepaßt hätten. Die sich dahinwindenden Straßen führten auf Hügelkämme und gaben den Blick frei auf immer neue Türmchen, deren gekachelte Mauern den Sonnenschein in hundert verschiedenen Farben reflektierten, und auf Parks, deren geometrische Anlagen nur von hier oben zu sehen waren. Manchmal konnte man auch einen Blick quer über die ganze Stadt erhaschen, und man sah weit dahinter die hügelige Ebene und die Wälder Andors. Es spielte eigentlich gar keine Rolle, welche Straße er hier benützte. Alle zogen sich in Spiralen um die Hügel auf ein Ziel zu, den Königspalast.

Im Nu befand er sich auf dem riesigen, ovalen Platz vor dem Palast und ritt auf das hohe, vergoldete Tor zu. Der blendend weiße Königspalast von Andor hätte ganz sicher auch als eines der Wunder Tar Valons gegolten, hätte er sich dort befunden. Seine schlanken Türme und goldenen Kuppeln leuchteten in der Sonne über hochgelegenen Balkonen mit kunstvollen Steingittern davor. Das Blattgold auf einer dieser Kuppeln hätte gereicht, um ihn ein Jahr lang im Luxus leben zu lassen.

Auf dem Vorplatz befanden sich weniger Menschen als in der übrigen Stadt, so, als sei er nur für besondere Anlässe vorgesehen. Ein Dutzend Gardesoldaten stand steif vor dem geschlossenen Tor. Alle hielten ihre Bögen in exakt gleichem Winkel vor den schimmernden Brustpanzern. Ihre Gesichter waren hinter den Gitterstäben ihrer auf Hochglanz polierten Helmvisiere verborgen. Ein wuchtiger Offizier, dessen roter Umhang zurückgeworfen war, um einen Knoten aus Goldschnur freizulegen, den er auf der Schulter trug, marschierte wichtigtuerisch vor ihnen auf und ab und beäugte jeden Mann, als suche er nach einem Staubkörnchen oder einem Rostfleck an seiner Rüstung.

Mat ließ sein Pferd anhalten und setzte ein Lächeln auf. »Einen guten Morgen, Hauptmann!«

Der Offizier drehte sich zu ihm um und starrte ihn durch das Visiergitter hindurch mit tiefliegenden Knopfaugen an — wie eine fette Ratte in einem Käfig. Der Mann war älter, als er angenommen hatte, bestimmt alt genug, um mehr als einen Rangknoten an der Uniform zu tragen, und eher fett als kräftig. »Was wollt Ihr, Bauer?« fragte er grob.

Mat holte tief Luft. Jetzt heißt es, alles richtig zu machen. Ich muß diesen Affen beeindrucken, damit er mich nicht den ganzen Tag warten läßt. Ich will nicht ständig das Dokument der Amyrlin herumreichen, um nicht vor Langeweile sterben zu müssen. »Ich komme aus Tar Valon von der Weißen Burg und bringe eine Botschaft von... «

»Ihr kommt aus Tar Valon, Bauer?« Der Bauch des fetten Offiziers bebte, als er lachte, aber dann brach sein Lachen abrupt ab, und er starrte ihn bösartig an. »Wir brauchen keine Botschaften aus Tar Valon, Schurke, falls Ihr überhaupt so was habt! Unsere gute Königin — möge das Licht sie erleuchten! — will keinen Kontakt mit der Weißen Burg, bevor nicht die Tochter-Erbin zu ihr zurückgekehrt ist. Ich habe auch noch nie von einem Kurier der Weißen Burg gehört, der Bauernkleidung trägt. Es ist ganz klar, daß Ihr nichts Gutes im Schilde führt. Vielleicht glaubt Ihr, ein paar Münzen verdienen zu können, indem Ihr vorgebt, Briefe zu befördern, aber Ihr müßt schon Glück haben, wenn Ihr nicht statt dessen in einer Gefängniszelle landen wollt! Wenn Ihr wirklich aus Tar Valon kommt, dann reitet zurück und richtet der Burg aus, sie sollen die Tochter-Erbin herausgeben, bevor wir kommen und sie uns holen! Wenn Ihr aber bloß auf Betrug und Silber aus seid, dann geht aus meinen Augen, oder ich lasse Euch verprügeln, bis Euch das Lebenslicht ausgeht! Wie auch immer, Bauerntölpel, haut jetzt ab!«

Mat hatte von Beginn an versucht, ein Wort einzuwerfen, und nun sagte er schnell: »Von ihr ist der Brief ja, Mann! Er ist von... «

»Habe ich Euch nicht gesagt, Ihr sollt Euch trollen, Schurke?« brüllte der fette Mann. Sein Gesicht färbte sich beinahe so rot wie sein Mantel. »Hebt Euch fort aus meinen Augen, Ihr Gossenunrat! Wenn Ihr nicht weg seid, bis ich auf zehn gezählt habe, werde ich Euch verhaften, weil Ihr den Platz mit Eurer Anwesenheit verunreinigt! Eins! Zwei!«

»Könnt Ihr wirklich bis zehn zählen, Ihr fetter Narr?« fauchte Mat. »Ich sage Euch, Elayne hat... «

»Wachen!« Jetzt war das Gesicht des Offiziers purpurrot. »Verhaftet diesen Mann als Schattenfreund!«

Mat zögerte einen Moment lang, da er glaubte, so etwas könne ja wohl niemand ernst nehmen, aber die gesamte Wache, ein Dutzend Männer in roten Röcken, Brustpanzern und Helmen, rannte auf ihn zu, und so riß er sein Pferd herum und galoppierte davon, die empörten Schreie des fetten Mannes im Ohr. Der Hengst war zwar kein Rennpferd, aber die Männer zu Fuß ließ er dennoch schnell hinter sich. Leute sprangen zur Seite, als er die gewundene Straße hinabjagte, und sie drohten ihm mit geballten Fäusten und mit ebensolchen Flüchen wie der Offizier zuvor.

Narr, dachte er und meinte damit den fetten Offizier, aber dann bedachte er sich selbst mit dem gleichen Wort. Alles, was ich hätte tun müssen, war, ihren blutigen Namen gleich von Anfang an zu erwähnen. »Elayne, Tochter-Erbin von Andor, schickt diesen Brief an ihre Mutter, Königin Morgase.« Licht, wer konnte vorhersehen, daß sie Tar Valon auf einmal so feindselig gegenüberstehen? Wie er sich von seinem letzten Besuch her erinnerte, waren die Aes Sedai und die Weiße Burg in der Wertschätzung der Wachsoldaten gleich nach Königin Morgase gekommen. Seng sie, Elayne hätte mir das sagen können. Zögernd fügte er hinzu: Ich hätte auch ein paar Fragen stellen können.

Bevor er das Bogentor zur Neustadt erreichte, zügelte er seinen Hengst. Er glaubte nicht, daß ihn die Palastwache noch verfolgte, aber es brachte nichts, wenn er die Blicke aller am Tor auf sich zog, indem er im Galopp hindurchpreschte. Jetzt, in gemächlichem Schritt, widmeten sie ihm nicht mehr Aufmerksamkeit als zuvor.

Als er den breiten Torbogen passierte, lächelte er plötzlich und wäre beinahe umgekehrt. Er hatte sich nämlich gerade an etwas erinnert, und diese Vorstellung gefiel ihm bedeutend besser, als einfach durchs Palasttor hineinzuspazieren. Es hätte ihm wohl sogar dann noch besser gefallen, wenn der fette Offizier nicht am Tor auf Wache gestanden hätte. Er verirrte sich zweimal auf der Suche nach ›Der Königin Segen‹, aber schließlich fand er das Schild mit dem Mann, der vor einer Frau mit rotgoldenem Haar und einer Krone aus goldenen Rosen kniete, ihre Hand auf seinem Kopf. Es war ein breiter, dreistöckiger Steinbau mit großen Fenstern bis hinauf unter das rote Ziegeldach. Er ritt hinten herum zum Stallhof, wo ihm ein Bursche mit Pferdegesicht und einer Lederweste, die kaum zäher als seine Haut sein konnte, die Zügel des Pferdes abnahm. Er glaubte, sich an den Burschen erinnern zu können. Ja — Ramey.

»Es ist schon lange her, daß ich hier war, Ramey.« Mat warf ihm eine Silbermark zu. »Erinnert Ihr euch noch an mich?«

»Ich kann nicht sagen, daß ich...«, begann Ramey, aber dann glänzte Silber vor seinen Augen, wo er nur Bronze erwartet hatte. Er hustete, und sein kurzangebundenes Nicken wandelte sich zu einer hastigen Verbeugung mit einer Faust an der Stirn. »Aber natürlich erinnere ich mich, junger Herr. Vergebt mir. Es war mir vollkommen entfallen. Habe kein gutes Gedächtnis für Menschen. Gut für Pferde. Ich kenne Pferde, ja wirklich. Ein schönes Tier, junger Herr. Ich werde es gut pflegen, da könnt Ihr sicher sein.« Er sprudelte all das hastig heraus und gab Mat keine Zeit, selbst etwas einzuwerfen. Dann brachte er schleunigst den Hengst in den Stall, bevor er vielleicht Mats Namen hätte benützen müssen.

Mit saurem Gesichtsausdruck klemmte sich Mat die Rolle mit Feuerwerkskörpern unter den Arm und schulterte den Rest seiner Habseligkeiten. Der Bursche hätte mich nicht von Falkenflügels Zehennägeln unterscheiden können. Neben der Küchentür saß ein massiger, muskelbepackter Mann auf einem umgestülpten Faß und kraulte sanft eine schwarzweiße Katze auf seinem Schoß hinter dem Ohr. Der Mann musterte Mat unter dicken Augenlidern hervor, besonders den Bauernspieß auf dessen Schulter, aber er hörte dabei mit dem Kraulen nicht auf. Mat glaubte, sich auch an ihn erinnern zu können, aber den Namen wußte er nicht mehr. So sagte er nichts, als er hineinging, und der Mann schwieg ebenfalls. Warum sollte er sich an mich erinnern? Möglicherweise kommen jeden Tag Aes Sedai hierher, um jemanden abzuholen.

In der Küche eilten zwei Hilfsköchinnen und drei Küchenmägde zwischen Herden und Bratspießen geschäftig hin und her. Die Anweisungen kamen von einer rundlichen Frau, die ihr Haar zum Dutt zusammengebunden hatte und in der Hand einen langen Holzlöffel hielt, mit dem sie auf das deutete, was sie gerade getan haben wollte. Mat war sicher, daß er sie von damals her kannte. Coline, und welch ein Name für eine so dicke Frau. Aber alle nannten sie nur Köchin.

»Hallo, Köchin«, verkündete er, »ich bin wieder da, und es ist noch kein Jahr her!«

Sie sah ihn einen Moment lang scharf an und nickte dann. »Ich erinnere mich an Euch.« Er begann zu grinsen. »Ihr wart bei dem jungen Prinzen, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Der Tigraine so ähnlich sah, das Licht leuchte ihrem Angedenken. Ihr seid sein Diener, nicht wahr? Kommt er denn zurück, der junge Prinz?«

»Nein«, sagte er schroff. Ein Prinz! Licht! »Ich glaube nicht, daß er in nächster Zeit vorbeikommt, und es würde Euch auch nicht gefallen, wenn er käme.« Sie protestierte und beteuerte, was für ein feiner, gutaussehender junger Mann der Prinz sei, doch er ließ gar nicht erst ausreden. Seng mich, gibt es denn eine Frau, die Rands wegen nicht glänzende Augen bekommt, wenn man nur seinen verfluchten Namen erwähnt? Sie würde, verdammt noch mal, schreien, wenn sie wüßte, was er jetzt tut. »Ist Meister Gill in der Nähe? Und Thom Merrilin?«

»In der Bibliothek«, sagte sie leicht schniefend. »Sagt Basel Gill, wenn Ihr ihn seht, daß diese Abflüsse gereinigt werden müssen. Heute noch, hört Ihr?« Sie beobachtete, wie eine der Gehilfinnen irgend etwas mit einem Stück Rinderbraten anstellte, und watschelte zu ihr hinüber. »Nicht soviel, Kind. Das Fleisch wird zu süß, wenn Ihr soviel Arrath daraufgebt.« Sie schien Mat bereits wieder vergessen zu haben.

Er schüttelte den Kopf und machte sich auf die Suche nach der Bibliothek. Er konnte sich nicht an sie erinnern. Aber er erinnerte sich auch nicht daran, ob Coline eigentlich mit Meister Gill verheiratet war. Wenn er jemals vernommen hatte, wie eine Ehefrau ihrem Mann Anweisungen gab, dann jetzt gerade. Eine hübsche Dienerin mit großen Augen kicherte und wies ihn einen Flur hinunter zu einer Tür neben dem Schankraum.

Als er in die Bibliothek eintrat, blieb er erst einmal stehen und staunte. Auf den Wandregalen mußten wohl mehr als dreihundert Bücher stehen und auf den Tischen lagen noch mehr. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viele Bücher auf einmal gesehen. Er bemerkte ein ledergebundenes Exemplar der Reisen des Jaim Fernstreicher auf einem kleinen Tischchen in der Nähe der Tür. Das hatte er immer schon lesen wollen — Rand und Perrin hatten ihm ständig davon erzählt —, aber er schien niemals dazu zu kommen, die Bücher zu lesen, die ihn interessierten.

Basel Gill mit seinem rosa Gesicht und Thom Merrilin saßen an einem der Tische über einem Spielbrett. Die Pfeifen in ihren Mündern stießen dünnen, blauen Tabaksqualm aus. Eine gestreifte Katze saß auf dem Tisch neben einem hölzernen Würfelbecher, den Schwanz um die Beine gewickelt, und beobachtete sie beim Spielen. Der Umhang des Gauklers war nirgends zu sehen, und so nahm Mat an, daß er bereits ein Zimmer bezogen hatte.

»Du bist schneller fertig geworden, als ich gedacht hatte, Junge«, sagte Thom, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Er zupfte an einem langen, weißen Schnurrbartende, während er überlegte, wohin er den nächsten Stein auf den vielen gekreuzten Linien des Spielbretts plazieren solle. »Basel, du erinnerst dich vielleicht noch an Mat Cauthon.«

»Sicher«, sagte der fette Wirt und betrachtete das Spielbrett. »Krank beim letzten Mal, als ihr hier wart, oder? Ich hoffe, es geht Euch jetzt besser, Bursche.«

»Es geht mir besser«, sagte Mat. »Ist das alles, woran Ihr euch erinnert? Daß ich krank war?«

Meister Gill zuckte zusammen, als Thom seinen Zug tat, und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Wenn ich daran denke, mit wem Ihr weggegangen seid und unter welchen Umständen, dann ist es vielleicht besser, ich erinnere mich an nichts weiter.«

»Die Aes Sedai gelten wohl mittlerweile als etwas anrüchig, oder?« Mat legte seine Sachen auf einen großen Lehnstuhl, lehnte den Bauernspieß dagegen und setzte sich auf einen weiteren, wobei er ein Bein über die Lehne baumeln ließ. »Die Wache am Palast scheint zu glauben, die Weiße Burg habe Elayne gestohlen.« Thom blickte mißtrauisch auf die Rolle mit Feuerwerkskörpern und dann auf seine qualmende Pfeife. Er knurrte etwas in sich hinein, bevor er sich wieder dem Spielbrett widmete.

»Das wohl kaum«, sagte Gill, »aber die ganze Stadt weiß, daß sie aus der Burg verschwunden ist. Thom behauptet, sie sei zurückgekehrt, aber davon haben wir hier nichts gehört. Vielleicht weiß Königin Morgase Bescheid, aber jedermann bis hinunter zum Stallburschen benimmt sich so unauffällig wie möglich, damit sie ihm nicht den Kopf abreißt. Lord Gaebril hat sie davor bewahrt, tatsächlich irgend jemanden zum Henker zu schicken, aber ich kann meine Hand nicht ins Feuer legen, daß das nicht doch noch geschieht. Und ihre Stimmung in bezug auf Tar Valon hat er ganz sicher nicht ändern können. Wenn überhaupt, dann hat er den Konflikt noch geschürt.«

»Morgase hat einen neuen Ratgeber«, sagte Thom in trockenem Tonfall. »Gareth Bryne hat ihn nicht leiden können, und so hat sie Bryne seines Amtes enthoben und ihn nach Hause auf seine Güter geschickt, damit er den Schafen beim Wachsen ihrer Wolle zuschauen kann. Basel, ziehst du jetzt, oder willst du nicht mehr?«

»Einen Moment noch, Thom. Einen Moment. Ich will es ja richtig machen.« Gill biß fester auf seinen Pfeifenstiel und betrachtete das Spielbrett mit gerunzelter Stirn. Qualm stieg aus dem Pfeifenkopf.

»Also hat die Königin jetzt einen Ratgeber, der nichts für Tar Valon übrig hat«, sagte Mat. »Na ja, das erklärt, warum sich die Wache so verhielt, als ich sagte, ich käme von dort.«

»Wenn Ihr ihnen das gesagt habt«, meinte Gill, »hattet Ihr Glück, daß Ihr ohne gebrochene Knochen und heil wieder weggekommen seid. Zumindest wenn einer der neuen Männer Wache hatte. Gaebril hat die halbe Wache in Caemlyn durch seine eigenen Männer ersetzen lassen, und das ist eine gewaltige Leistung, wenn man bedenkt, wie kurz er erst hier ist. Einige behaupten, daß Morgase ihn vielleicht heiraten wird.« Er versetzte einen Stein auf dem Brett, hielt aber inne und nahm den Zug kopfschüttelnd zurück. »Die Zeiten ändern sich. Die Menschen ändern sich. Zuviel verändert sich für meinen Geschmack. Ich schätze, ich werde alt.«

»Du willst wohl, daß wir beide alt werden, bevor du den nächsten Zug machst«, knurrte Thom. Die Katze räkelte sich und schlich über die Tischfläche, um sich von ihm streicheln zu lassen. »Auch wenn wir den ganzen Tag schwatzen, kommst du trotzdem nicht auf einen guten Zug. Warum gibst du nicht einfach zu, daß du geschlagen bist, Basel?«

»Ich gebe mich niemals geschlagen«, sagte Gill tapfer. »Ich werde dich noch besiegen, Thom.« Er stellte einen weißen Stein auf einen Kreuzungspunkt zweier Linien. »Du wirst ja sehen.« Thom schnaubte.

Bei dem Spielstand, den Mat vom Brett ablesen konnte, glaubte er nicht an eine Chance für Meister Gill. »Ich muß eben nur die Garde umgehen und Elaynes Brief Morgase selbst in die Hand drücken.« Und erst recht, wenn sie alle so sind wie dieser fette Idiot. Licht, ich möchte wissen, ob er allen erzählt hat, ich sei ein Schattenfreund.

»Du hast ihn also nicht überbracht?« schnauzte ihn Thom an. »Ich dachte, du wolltest das Ding endlich loswerden?«

»Ihr habt einen Brief von der Tochter-Erbin?« rief Gill erstaunt. »Thom, warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Tut mir leid, Basel«, murmelte der Gaukler. Er funkelte Mat unter den buschigen Augenbrauen hervor an und blies seine Schnurrbartenden zur Seite. »Der Junge glaubt, jemand wolle ihn deshalb umbringen, also dachte ich, ich lasse ihn sagen, was er für richtig hält, und erwähne selbst nichts weiter. Es scheint ihm mittlerweile aber gleich zu sein.«

»Was denn für einen Brief?« fragte Gill. »Kommt sie nach Hause? Und Lord Gawyn auch? Ich hoffe es. Ich habe schon Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit Tar Valon gehört, als ob jemand so dumm sei, mit den Aes Sedai Krieg anzufangen. Wenn ihr mich fragt, paßt das alles zu diesen wilden Gerüchten, daß die Aes Sedai irgendwo im Westen einen falschen Drachen unterstützen und die Macht als Waffe einsetzen. Nicht, daß mir das als ausreichender Grund erscheint, mit ihnen Krieg anzufangen; im Gegenteil!«

»Seid Ihr mit Coline verheiratet?« fragte Mat, und Meister Gill fuhr zusammen.

»Das Licht bewahre mich davor! Man könnte schon jetzt glauben, die Schenke gehöre ihr. Wenn sie meine Frau wäre... Was hat das mit dem Brief der TochterErbin zu tun?«

»Nichts«, antwortete Mat, »aber Ihr habt so lange weitergesprochen, daß Ihr vermutlich Eure eigenen Fragen vergessen habt.« Gill gab einen erstickten Laut von sich, und Thom lachte schallend. Mat fuhr schnell fort, bevor der Wirt wieder zu Wort kam: »Der Brief ist versiegelt; Elayne hat mir nicht gesagt, was drin steht.« Thom sah ihn von der Seite her an und strich sich über den Schnurrbart. Glaubt er etwa, ich würde zugeben, daß wir das Ding geöffnet haben? »Aber ich glaube nicht, daß sie nach Hause kommt. Sie will eine Aes Sedai werden, wenn Ihr mich fragt.« Er erzählte ihnen von seinem Versuch, den Brief zu überbringen, wobei er ein paar Dinge wegließ, die sie nicht unbedingt wissen mußten.

»Die neuen Männer«, sagte Gill. »Jedenfalls hört sich das mit dem Offizier danach an. Da könnte ich wetten. Nicht besser als Räuber, die meisten jedenfalls, bis auf ein paar ganz schlaue. Wartet bis zum Nachmittag, Junge, wenn die Palastwache abgelöst wird. Sagt ihnen gleich den Namen der Tochter-Erbin, und falls der neue Offizier auch einer von Gaebrils Männern sein sollte, duckt Euch eben ein wenig. Ein Knöchel an der Stirn und Ihr werdet keine Schwierigkeiten haben.«

»Seng mich, wenn ich so was mache. Ich werde vor niemandem kriechen! Nicht einmal vor Morgase selbst. Diesmal werde ich den Wachen nicht einmal nahe kommen.« Ich will lieber gar nicht erst wissen, was dieser fette Bursche über mich erzählt hat. Sie blickten ihn an, als sei er verrückt geworden.

»Wie, beim Licht«, sagte Gill, »wollt Ihr den Königspalast betreten, ohne an den Wachen vorbeizukommen?« Er riß die Augen auf, so, als erinnere er sich gerade an etwas. »Licht, Ihr wollt doch nicht... Junge, Ihr hättet des Dunklen Königs eigenes Glück nötig, um lebend wieder herauszukommen!«

»Wovon redest du denn jetzt, Basel? Mat, was für eine blödsinnige Sache willst du jetzt wieder probieren?«

»Ich habe aber Glück, Meister Gill«, sagte Mat. »Haltet nur ein gutes Mahl für meine Rückkehr bereit.« Als er aufstand, nahm er den Würfelbecher in die Hand und ließ die Würfel neben das Spielbrett rollen, um sein Glück zu versuchen. Die gestreifte Katze sprang herunter und fauchte ihn mit gekrümmtem Buckel an. Die fünf Augenwürfel lagen still, und jeder zeigte eine Eins. Die Augen des Dunklen Königs.

»Das ist der beste Wurf oder der schlechteste«, sagte Gill. »Es hängt davon ab, welches Spiel Ihr spielt, nicht wahr? Junge, ich glaube, Ihr wollt ein gefährliches Spiel spielen. Warum nehmt Ihr diesen Becher nicht mit hinaus in den Schankraum und verliert ein paar Kupfermünzen? Ihr macht auf mich den Eindruck, als wüßtet Ihr ein gutes Spielchen zu schätzen. Ich sorge dafür, daß der Brief sicher in den Palast gelangt.«

»Coline will, daß Ihr die Abflüsse reinigt«, sagte Mat zu ihm, und dann wandte er sich Thom zu, während der Wirt noch blinzelte und vor sich hin brummte. »Es scheint keinen großen Unterschied zu geben, ob ich mir nun einen Pfeil zwischen die Rippen einhandle, weil ich diesen Brief überbringe, oder ob ich ein Messer in den Rücken bekomme, weil ich hier sitze und warte. Die Sechs zeigt nach oben und das halbe Dutzend nach unten. Stellt mir nur etwas zu essen bereit, Thom.« Er warf eine Goldmark vor Gill auf den Tisch. »Laßt meine Sachen in ein Zimmer bringen, Wirt. Wenn es mehr kostet, bezahle ich es Euch hinterher. Seid vorsichtig mit dieser großen Rolle! Thom hat gewaltige Angst davor.«

Als er hinausstolzierte, hörte er, wie Gill zu Thom sagte: »Ich habe immer schon geglaubt, dieser Junge sei ein richtiger Schurke. Wie kommt er an dieses Gold?«

Ich gewinne halt immer, dachte er grimmig. Jetzt muß ich noch einmal gewinnen, und dann bin ich mit Elayne fertig. Das wird das letzte sein, was ich mit der Weißen Burg zu tun habe. Nur noch einmal.


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