PROLOG Die Festung des Lichts

Pedron Nialls Blick schweifte über sein privates Audienzgemach; doch seine alten, dunklen, nachdenklichen Augen nahmen nichts wahr. Zerschlissene Wandbehänge, einst die Banner der Feinde aus seiner Jugendzeit; dunkle Holztäfelung über dicken Steinmauern... Selbst hier im Herzen der Festung des Lichts waren die Mauern dick. Ein einziger Stuhl stand im Gemach, schwer, mit hoher Lehne, beinahe wie ein Thron wirkend, und dazu ein paar über den Raum verteilte Tische — das war bereits die gesamte Einrichtung. Er sah nichts davon. Er nahm im Augenblick nicht einmal den in einen weißen Umhang gehüllten Mann wahr, der sichtlich angespannt auf dem im Boden eingelassenen Sonnenbanner kniete, obwohl nur wenige sonst diesen Mann zu mißachten wagten.

Man hatte Jaret Byar wenigstens Zeit gelassen, sich zu waschen, bevor man ihn zu Niall brachte, aber Helm und Brustpanzer waren stumpf und zerbeult von den Reisen und dem vielen Gebrauch. Dunkle, tiefliegende Augen leuchteten mit fieberhafter Intensität aus einem Gesicht, dem jedes bißchen überflüssiges Fleisch zu fehlen schien. Er trug kein Schwert — in Nialls Gegenwart war das verboten —, aber er schien voll unterdrückter Leidenschaft, wie ein Jagdhund, der nur darauf wartet, daß man ihn von der Leine läßt.

Die prasselnden Feuer in den langen Öfen an beiden Enden des Raums hielten die Winterkälte ab. Es war ein einfacher Raum, das Zimmer eines Soldaten, alles solide gefertigt, aber ohne jeden Luxus, bis auf das im Boden eingelassene Sonnenbanner. Die Möbel wählte der kommandierende Lordhauptmann der Kinder des Lichts bei seinem Amtsantritt aus, aber diese flammende Sonnenscheibe aus Münzgold war von Generationen von Menschen, die ihre Petitionen einreichten, abgenützt worden, erneuert und wieder abgenützt. Das Gold hätte gereicht, um damit jedes Gut in Amadicia zu kaufen — und den dazugehörigen Adelstitel. Zehn Jahre lang war Niall über dieses Gold gelaufen, ohne es weiter wahrzunehmen. Es war so selbstverständlich wie die gleiche strahlende Sonnenscheibe auf der Brust seines weißen Gewandes. Pedron Niall interessierte sich nicht sehr für Gold.

Schließlich ging sein Blick zurück zu dem Tisch neben ihm, der mit Landkarten und verstreuten Briefen und Berichten bedeckt war. In dem Durcheinander lagen auch drei zusammengerollte Zeichnungen. Er nahm eine davon zögernd in die Hand. Es spielte keine Rolle, welche der drei er nahm, denn alle zeigten die gleiche Szene, wenn auch von verschiedener Hand dargestellt.

Nialls Haut war dünn wie Pergament und spannte sich über einen gealterten Körper, der nur noch aus Knochen und Sehnen zu bestehen schien. Trotzdem wirkte er alles andere als gebrechlich. Sein Amt wurde keinem verliehen, dessen Haar nicht weiß war, und der Mann, der es übernahm, mußte ebenso hart sein wie die Steine der Kuppel der Wahrheit. Nun aber wurde ihm bewußt, wie mager und sehnig seine Hand aussah, die eine der Zeichnungen hielt, und er war sich darüber klar, daß die Zeit ablief. Seine Zeit lief langsam ab. Sie mußte reichen. Er mußte dafür sorgen, daß die Zeit reichte.

Er zwang sich, eine der Zeichnungen zur Hälfte aufzurollen, so daß er gerade das Gesicht erkennen konnte, das ihn interessierte. Die Kreide war vom Transport in der Satteltasche etwas verwischt, aber das Gesicht kam trotzdem klar heraus. Ein Jüngling mit grauen Augen und rötlichem Haar. Er wirkte hochgewachsen, doch das war nicht deutlich auszumachen. Von den Augen und Haaren abgesehen, hätte er, ohne weiter aufzufallen, aus jeder beliebigen Stadt stammen können.

»Dieser... dieser Junge hat sich zum Wiedergeborenen Drachen erklärt?« knurrte Niall.

Der Drache. Bei dem Namen überkam ihn die Kälte des Winters und des Alters. Der Name, den Lews Therin Telamon angenommen hatte, als er jeden Mann, damals und für alle Zukunft, zu Wahnsinn und Tod verdammte, der sich der Einen Macht bedienen konnte. Auch er selbst war unter den Opfern. Es war mehr als dreitausend Jahre her, daß der Stolz der Aes Sedai und der Schattenkrieg das Zeitalter der Legenden beendet hatten. Dreitausend Jahre, doch Prophezeiung und Legende halfen den Menschen dabei, sich daran zu erinnern, oder wenigstens an die wesentlichen Dinge, auch wenn die Einzelheiten vergessen waren. Lews Therin Brudermörder. Der Mann, der die Zerstörung der Welt eingeleitet hatte, als Wahnsinnige mit Hilfe der Macht, die das Universum erhielt, Berge einebneten und uralte Länder ins Meer versinken ließen, als das gesamte Antlitz der Erde verändert wurde und alle Überlebenden wie die Tiere vor dem Buschfeuer flohen. Es war erst vorbei gewesen, als der letzte männliche Aes Sedai gestorben war. Eine verstreute und verängstigte menschliche Rasse konnte dann beginnen, aus dem Schutt eine neue Welt zu bauen, sofern überhaupt Schutt übriggeblieben war. Die Ereignisse brannten sich ins Gedächtnis der Menschen ein, und die Mütter gaben es an die Kinder weiter. Und die Prophezeiung sagte, daß der Drache wiedergeboren werde.

Niall hatte es nur als rhetorische Frage ausgesprochen, doch Byar nahm sie ernst. »Ja, kommandierender Lordhauptmann, das hat er. Dieser Wahnsinn ist schlimmer als der irgendeines falschen Drachen, von dem ich jemals gehört hätte. Tausende haben sich ihm bereits angeschlossen. In Tarabon und Arad Doman herrscht Bürgerkrieg, und sie kämpfen dazu auch noch gegeneinander. Überall auf der Ebene von Almoth und der Toman-Halbinsel wird gekämpft: Taraboner gegen Domani und die gegen Schattenfreunde, die nach dem Drachen rufen — oder jedenfalls wurde gekämpft, bis die Winterkälte einbrach und die Kämpfe erstickte. Ich habe noch nie erlebt, daß sich ein Konflikt so schnell ausbreitete, kommandierender Lordhauptmann. Es war, als werfe man eine brennende Fackel in einen Heuschober. Der Schnee hat vielleicht etwas Ruhe gebracht, aber im Frühjahr wird er heißer aufflammen als zuvor.«

Niall unterbrach ihn mit erhobenem Zeigefinger. Schon zweimal hatte er ihm seine Geschichte entlockt. Seine Stimme zitterte vor Zorn und Haß. Teile kannte Niall auch aus anderen Quellen, und er wußte in mancher Hinsicht mehr als Byar, aber jedesmal, wenn er es hörte, erzürnte es ihn wieder. »Geofram Bornhald und tausend der Kinder sind tot. Und das haben Aes Sedai getan. Daran hegt Ihr keinen Zweifel, Kind Byar?«

»Keinen, kommandierender Lordhauptmann! Nach einem Scharmützel auf dem Weg nach Falme beobachtete ich zwei der Hexen aus Tar Valon. Sie haben uns mehr als fünfzig Leben gekostet, bis wir sie mit Pfeilen gespickt hatten.«

»Seid Ihr sicher — waren es wirklich Aes Sedai?«

»Der Boden ist uns unter den Füßen explodiert.« Byars Stimme klang fest und voller Überzeugung. Er hatte allerdings nicht viel Phantasie, dieser Jaret Byar. Der Tod war ein Teil des Soldatenlebens, in welcher Form er auch kommen mochte. »Unsere Reihen wurden von Blitzen aus heiterem Himmel getroffen. Lordhauptmann, wer sonst könnte das getan haben?«

Niall nickte ernst. Es hatte seit der Zerstörung der Welt keine männlichen Aes Sedai mehr gegeben, aber die Frauen, die diese Bezeichnung für sich in Anspruch nahmen, waren schlimm genug. Sie predigten etwas von ihren drei Eiden: kein unwahres Wort auszusprechen, keine Waffe herzustellen, mit der Menschen einander töten können, und die Eine Macht nur dann als Waffe einzusetzen, wenn sie Schattenfreunde oder Wesen des Schattens bekämpften. Doch nun hatten sich diese Eide ja wohl als Lügen erwiesen. Ihm war immer schon klar gewesen, daß niemand eine solch gewaltige Macht zu einem anderen Zweck beherrschen konnte, als dem, den Schöpfer damit herauszufordern. Und das bedeutete, daß sie dem Dunklen König dienten.

»Und Ihr wißt nichts über diejenigen, die Falme eroberten und die Hälfte einer meiner Legionen töteten?«

»Lordhauptmann Bornhald sagte, sie nannten sich Seanchan, kommandierender Lordhauptmann«, sagte Byar gleichgültig. »Er meinte, sie seien Schattenfreunde. Und sein Angriff zwang sie zum Rückzug, obwohl sie ihn selbst dabei töteten.« Seine Stimme wurde eindringlicher. »Es gab viele Flüchtlinge, die aus der Stadt kamen. Alle, mit denen ich sprechen konnte, waren sich darüber einig, daß die Eindringlinge zurückgewichen und geflohen waren. Das hat Lordhauptmann Bornhald erreicht.«

Niall seufzte leise. Byar hatte die ersten beiden Male beinahe genau die gleichen Worte benutzt, um von dem Heer zu berichten, das scheinbar aus dem Nichts erschienen war und Falme einnahm. Ein guter Soldat, dachte Niall, das sagte auch Geofram Bornhald immer, aber eben kein Mann, der selbständig denken kann.

»Lordhauptmann«, sagte Byar plötzlich, »Lordhauptmann Bornhald befahl mir, mich aus der Schlacht herauszuhalten. Ich sollte beobachten und Euch berichten. Und seinem Sohn, Lord Dain, von seinem Tod berichten.«

»Ja, ja«, sagte Niall ungeduldig. Einen Augenblick lang betrachtete er Byars hohlwangiges Gesicht, und dann fügte er hinzu: »Niemand bezweifelt Eure Ehrlichkeit und Euren Mut. Das ist genau, was man von Geofram Bornhald erwarten konnte — sich in eine Schlacht zu stürzen, obwohl er fürchtete, zusammen mit all seinen Leuten darin ums Leben zu kommen.« Und keine Sache, die Ihr euch ausgedacht habt, weil Euch dazu die Phantasie fehlt. Er konnte von dem Mann nichts weiter mehr erfahren. »Ihr habt Eure Aufgabe gut erfüllt, Kind Byar. Ihr habt meine Erlaubnis, nun zu gehen und Geofram Bornhalds Sohn die Nachricht vom Tod seines Vaters zu überbringen. Dain Bornhald ist bei Eamon Valda. Nach den letzten Berichten befinden sie sich vor Tar Valon. Ihr könnt Euch ihnen anschließen.«

»Ich danke Euch, kommandierender Lordhauptmann. Danke.« Byar erhob sich und verbeugte sich tief. Doch beim Aufrichten zögerte er plötzlich. »Lordhauptmann, wir wurden tatsächlich verraten.« Haß triefte aus seiner Stimme.

»Von diesem einen Schattenfreund, von dem Ihr erzähltet, Kind Byar?« Er konnte nicht ganz vermeiden, daß seine Stimme ebenfalls an Schärfe gewann. Die Planung eines ganzen Jahres lag zerstört zwischen den Leichen von eintausend der Kinder, und dieser Byar wollte nur über einen Mann sprechen. »Dieser junge Schmied, den Ihr nur zweimal gesehen habt, dieser... Perrin von den Zwei Flüssen?«

»Ja, Lordhauptmann. Ich weiß nicht, wie, aber ich weiß, daß er schuld ist. Ich weiß es ganz gewiß.«

»Ich werde sehen, was man diesbezüglich machen kann, Kind Byar.« Byar öffnete den Mund erneut, aber Niall hob eine dünne Hand, um ihm zuvorzukommen. »Ihr dürft mich nun verlassen.« Der Mann mit dem hageren Gesicht hatte keine andere Wahl, als sich noch einmal zu verbeugen und zu gehen.

Als sich die Tür hinter ihm schloß, ließ sich Niall auf seinem Stuhl nieder und lehnte sich zurück. Was hatte Byars Haß auf diesen Perrin verursacht? Es gab viel zu viele Schattenfreunde, um einen bestimmten davon mit solcher Leidenschaft zu hassen. Zu viele Schattenfreunde, hochgestellt oder von niederem Rang, die sich hinter wendigen Zungen und offenem Lächeln verbargen und dem Dunklen König dienten. Nun ja, ein weiterer Name auf der Liste würde nicht schaden.

Er rutschte auf dem harten Stuhl hin und her, um eine bequemere Haltung für seine alten Knochen zu finden. Nicht zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß ein Kissen vielleicht doch kein zu großer Luxus sei. Und nicht zum erstenmal verdrängte er den Gedanken wieder. Die Welt taumelte dem Chaos entgegen, und er hatte keine Zeit, dem Alter Tribut zu zollen.

Er ließ alle Anzeichen, die auf eine bevorstehende Katastrophe hindeuteten, noch einmal durch den Kopf gehen. Tarabon und Arad Doman befanden sich im Krieg. Cairhien wurde vom Bürgerkrieg zerrissen. Zwischen Tear und Illian, den alten Feinden, entflammte der Konflikt erneut. Vielleicht hatten diese Kriege an sich nichts zu bedeuten — die Menschen führten immerzu Kriege —, aber normalerweise kamen sie nicht in solcher Häufung vor. Und abgesehen von dem falschen Drachen irgendwo auf der Ebene von Almoth wütete ein weiterer in Saldaea und ein dritter in Tear! Drei auf einmal. Das alles müssen falsche Drachen sein. Es mußte so sein!

Ein Dutzend anderer kleiner Vorkommnisse, einige davon möglicherweise nur haltlose Gerüchte, aber alles zusammengenommen... Man hatte Aiel noch nie so weit im Westen gesichtet, aber nun waren welche in Murandy und Kandor aufgetaucht. Nur zwei oder drei am selben Ort, aber einerlei, ob einer oder tausend: die Aiel waren nur einmal seit der Zerstörung der Welt aus ihrer Wüste herausgekommen. Nur während des Aielkriegs hatten sie diese Einöde verlassen. Man erzählte sich von den Atha'an Miere, dem Meervolk, daß sie den Handel vernachlässigten und statt dessen nach Vorzeichen und Omen suchten — sie sagten nicht, worum es dabei genau ging — und mit halbvollen oder gar leeren Schiffen auf Fahrt gingen. Illian hatte zum erstenmal in vierhundert Jahren zur Großen Jagd nach dem Horn aufgerufen und die Jäger ausgesandt, das legendäre Horn von Valere zu suchen, von dem die Prophezeiung behauptete, man könne damit tote Helden aus den Gräbern herbeirufen, um in Tarmon Gai'don, der Letzten Schlacht, gegen den Schatten zu kämpfen. Gerüchten zufolge hatten die Ogier, die so zurückgezogen lebten, daß die meisten Menschen sie für eine Legende hielten, Treffen zwischen den Ältesten ihrer ausgedehnten Stedding abgehalten.

Für Niall am wichtigsten aber war die Tatsache, daß offensichtlich die Aes Sedai zum offenen Angriff übergegangen waren. Man behauptete, sie hätten einige Schwestern nach Saldaea geschickt, um den falschen Drachen Mazrim Taim zu bekämpfen. So selten das bei Männern war: Taim konnte die Eine Macht lenken. Das war an sich schon angsteinflößend und verachtenswürdig, und deshalb glaubte die Mehrheit auch nicht, daß man einen solchen Mann ohne die Hilfe der Aes Sedai besiegen könne. Besser den Aes Sedai gestatten, zu Hilfe zu eilen, als den Wahnsinn zu erleben, wenn er ihm verfiel, und das war bei solchen Männern unvermeidlich. Doch Tar Valon hatte anscheinend weitere Aes Sedai ausgesandt, um den anderen falschen Drachen in Falme zu unterstützen. Nur so ließ sich das alles erklären.

Dieses Muster ließ ihm das Mark in den Knochen erstarren. Das Chaos vervielfältigte sich. Was noch nie geschehen war, wiederholte sich nun ein ums andere Mal. Die ganze Welt schien sich in Aufruhr zu befinden und kurz vor dem Siedepunkt zu stehen. Es war ihm klar: Die Letzte Schlacht war nahe.

Alle seine Pläne waren zunichte gemacht, die Pläne, die seinen Namen unter den Kindern des Lichts hundert Generationen lang berühmt gemacht hätten. Aber im Aufruhr lagen auch immer gewisse Möglichkeiten, und so hatte er nun neue Pläne und neue Ziele. Falls er sich die Kraft und den Willen erhalten konnte, um sie durchzuführen. Licht, laß mich lange genug leben! Ein schüchternes Klopfen an die Tür riß ihn aus seinen düsteren Grübeleien. »Herein!« rief er barsch.

Ein Diener im weiß-goldenen Mantel und einer Hose in den gleichen Farben verbeugte sich beim Eintreten. Mit zu Boden gesenktem Blick kündigte er das Kommen von Jaichim Carridin, dem Gesalbten des Lichts, Inquisitor der Hand des Lichts, an, der auf Geheiß des kommandierenden Lordhauptmanns zugegen sei. Carridin erschien gleich hinter dem Mann und wartete nicht darauf, daß Niall ihn hereinbat. Niall bedeutete dem Diener, zu gehen.

Bevor sich die Tür geschlossen hatte, fiel Carridin mit einem Ausschwingen seines schneeweißen Umhangs auf ein Knie nieder. Hinter der strahlenden Sonnenscheibe auf dem Umhang wurde nun auf seiner Brust der blutrote Hirtenstab der Hand des Lichts sichtbar. Viele nannten die Angehörigen der Hand des Lichts Zweifler, aber selten nur sagten sie ihnen das ins Gesicht. »Wie Ihr mir befahlt, mich in Eure Gegenwart zu begeben, Kommandant aller Lordhauptmänner«, sagte er mit einer volltönenden Stimme, »so bin ich aus Tarabon zurückgekehrt.«

Niall musterte ihn einen Moment lang. Carridin war groß, ein Mann in mittleren Jahren mit einem Schimmer von Grau über dem Haar, wirkte gesund und kraftvoll. In seinen dunklen, tiefliegenden Augen lag wie immer ein wissender Ausdruck. Er schlug unter dem Blick seines kommandierenden Lordhauptmannes die Augen nicht nieder, und das gelang nur wenigen Männern, deren Nerven stark genug oder deren Gewissen rein genug waren. Carridin kniete da und wartete so gelassen, als sei es nichts Ungewöhnliches, kurzfristig den Befehl zu erhalten, sein Kommando zu verlassen und unverzüglich nach Amador zurückzukehren, und das ohne Angabe von Gründen. Aber man behauptete ja, Jaichim Carridin sei unerschütterlicher als ein Stein.

»Erhebt Euch, Kind Carridin.« Während der andere Mann aufstand, fügte Niall hinzu: »Ich habe beunruhigende Kunde aus Falme erhalten.«

Carridin strich die Falten seines Umhangs glatt, und dann antwortete er. Seine Stimme klang gerade noch respektvoll genug, eher als spreche er mit einem Gleichgestellten und nicht mit dem Mann, dem er Treue bis in den Tod geschworen hatte. »Der Lordhauptmann bezieht sich damit wohl auf die Nachrichten, die ihm von Kind Byar überbracht wurden, dem ehemaligen Stellvertreter des Lordhauptmanns Bornhald.«

Nialls linkes Augenlid zitterte, und das war schon immer ein Zeichen aufsteigenden Zorns bei ihm gewesen. Angeblich wußten nur drei Männer, daß Byar sich in Amador befand, und außer Niall sollte niemand wissen, woher er gekommen war. »Stellt Euch nicht zu schlau an, Carridin. Euer Wunsch, immer alles zu wissen, könnte Euch eines Tages in die Hände Eurer eigenen Folterknechte führen.«

Carridin zeigte keine Reaktion — höchstens verzog sich sein Mund bei der Erwähnung etwas. »Mein Kommandant, die Hand sucht überall nach der Wahrheit, um dem Licht zu dienen.«

Um dem Licht zu dienen. Nicht, um den Kindern des Lichts zu dienen. Alle Kinder dienten dem Licht, aber Pedron Niall hatte sich schon oft gefragt, ob sich die Zweifler wirklich als Teil der Kinder des Lichts fühlten. »Und welche Wahrheit könnt Ihr mir über die Ereignisse in Falme berichten?«

»Schattenfreunde, mein Kommandant.«

»Schattenfreunde?« Nialls Lächeln wirkte nicht amüsiert. »Vor ein paar Wochen noch erhielt ich von Euch Berichte, daß Geofram Bornhald dem Dunklen König diene, weil er gegen Euren Befehl Soldaten auf die Toman-Halbinsel brachte.« Seine Stimme klang nun gefährlich sanft. »Wollt Ihr mich nun glauben machen, daß Bornhald als Schattenfreund tausend der Kinder in den Tod führte, um gegen andere Schattenfreunde zu kämpfen?«

»Ob er nun ein Schattenfreund war oder nicht, wird man niemals erfahren«, sagte Carridin gleichgültig, »da er starb, bevor er dazu befragt werden konnte. Die Pläne des Schattens sind verschwommen und erscheinen denen, die im Licht wandeln, oftmals verrückt. Aber ich habe keinen Zweifel daran, daß die Eroberer Falmes Schattenfreunde waren. Schattenfreunde und Aes Sedai, die einen falschen Drachen unterstützten. Ich bin auch sicher, daß Bornhald und seine Männer mit Hilfe der Einen Macht vernichtet wurden, mein Kommandant, genauso wie mit ihrer Hilfe die Heere vernichtet wurden, die Tarabon und Arad Doman gegen die Schattenfreunde in Falme ausgesandt hatten.«

»Und wie steht es mit den Berichten, daß die Eroberer Falmes von jenseits des Aryth-Meeres stammen?«

Carridin schüttelte den Kopf. »Mein Kommandant, die Menschen stecken voll von Gerüchten. Einige behaupten, es sei das Heer gewesen, das Artur Falkenflügel vor tausend Jahren über das Meer schickte. Ihre Nachkommen wollten angeblich nun das alte Land wieder in Besitz nehmen. Ha! Es gibt sogar Leute, die behaupten, Falkenflügel selbst in Falme gesehen zu haben! Und die Hälfte aller legendären Helden außerdem! Der Westen kocht, von Tarabon bis Saldaea, und jeden Tag brodeln hundert neue Gerüchte an die Oberfläche, eines irrsinniger als das andere. Diese sogenannten Seanchan waren nichts anderes als ein weiteres Pack von Schattenfreunden, das sich versammelt hatte, um einem falschen Drachen zum Erfolg zu verhelfen, nur diesmal eben mit offener Unterstützung der Aes Sedai.«

»Welche Beweise habt Ihr dafür?« Niall ließ seine Stimme so wirken, als zweifle er an dem Gesagten. »Habt Ihr Gefangene?«

»Nein, mein Kommandant. Wie Euch Kind Byar zweifellos berichtete, schaffte es Bornhald, sie so in die Flucht zu schlagen, daß sie sich überall hin zerstreuten. Und ganz sicher würde niemand, den wir befragten, zugeben, daß er einen falschen Drachen unterstützt habe. Was Beweise anbetrifft... da gibt es zweierlei. Habe ich Eure Erlaubnis, mein Kommandant?«

Niall machte eine ungeduldige Geste.

»Der erste Teil führt uns nicht weiter. Nur wenige Schiffe haben versucht, das Aryth-Meer zu überqueren, und die meisten davon sind nie zurückgekehrt. Diejenigen, die zurückkamen, kehrten um, bevor ihre Lebensmittel-und Wasservorräte aufgebraucht waren. Selbst das Meervolk überquert das Aryth-Meer nicht, und die segeln eigentlich, wo immer sich die Möglichkeit zum Handel ergibt, selbst zu den Ländern jenseits der Aiel-Wüste. Mein Kommandant, wenn es wirklich Länder jenseits des Ozeans gibt, dann sind sie zu weit weg. Das Meer ist einfach zu groß. Ein ganzes Heer von dort herüberzubringen wäre genauso unmöglich wie das Fliegen.«

»Vielleicht«, sagte Niall bedächtig. »Es ist zumindest aufschlußreich. Und was ist der zweite Teil?«

»Mein Kommandant, viele von denen, die wir befragten, sprachen davon, daß für die Schattenfreunde auch Ungeheuer kämpften, und sie blieben selbst bei schärfster Befragung dabei. Was könnte das sein als eben Trollocs und andere Abkömmlinge des Schattens, die auf irgendeine Weise von der Fäule dorthin gebracht wurden?« Carridin spreizte die Hände, als sei das der endgültige Beweis. »Die meisten Menschen halten Trollocs für Seemannsgarn und Lügen, und die meisten der übrigen glauben, sie seien während der Trolloc-Kriege alle getötet worden. Wie könnten sie sonst einen Trolloc nennen, als eben ›Ungeheuer‹?«

»Ja. Ja, Ihr könntet recht haben, Kind Carridin. Vielleicht.« Er gönnte Carridin die Befriedigung nicht, zu wissen, daß er ihm glaubte. Laß ihn noch ein bißchen daran arbeiten. »Aber wie steht es mit ihm?« Er deutete auf die zusammengerollten Zeichnungen. Wie er Carridin kannte, hatte der Inquisitor Kopien davon in seinen eigenen Gemächern. »Wie gefährlich ist er? Kann er die Eine Macht lenken und beherrschen?«

Der Inquisitor zuckte lediglich die Achseln. »Vielleicht kann er, vielleicht auch nicht. Die Aes Sedai könnten zweifellos den Leuten auch einreden, eine Katze könne die Macht lenken, falls sie das wollten. Was die Frage betrifft, wie gefährlich er ist... Jeder falsche Drache ist gefährlich, bis man ihn niederzwingt, und einer, hinter dem Tar Valon ganz offen steht, ist zehnmal so gefährlich. Aber jetzt ist er weniger gefährlich als in einem halben Jahr, wenn man nichts gegen ihn unternimmt. Die Gefangenen, die ich befragt habe, haben ihn überhaupt nicht gesehen und hatten keine Ahnung, wo er sich jetzt befindet. Seine Streitkräfte sind zersplittert. Ich bezweifle, daß er mehr als zweihundert zusammen an irgendeinem Ort hat. Sowohl die Taraboner wie auch die Domani könnten ihn wegfegen, wenn sie nicht so mit ihrem eigenen Streit beschäftigt wären.«

»Selbst ein falscher Drache«, sagte Niall trocken, »reicht nicht, um sie ihren vierhundert Jahre alten Streit um die Ebene von Almoth vergessen zu machen. Als ob einer von ihnen überhaupt stark genug wäre, sie dann auch zu halten.« Carridins Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, und Niall fragte sich, wie er so ruhig bleiben konnte. Ihr werdet nicht mehr lange so ruhig bleiben,

Zweifler.

»Es ist nicht so wichtig, mein Kommandant. Der Winter zwingt sie alle, in ihren Lagern zu verbleiben, und es gibt nur verstreute Scharmützel oder Überfälle. Wenn das Wetter warm genug ist, um Truppenbewegungen zuzulassen... Bornhald hat nur die halbe Legion auf der Toman-Halbinsel in den Tod geführt. Mit der anderen Hälfte werde ich diesen falschen Drachen zu Tode hetzen. Eine Leiche ist nicht mehr so gefährlich.«

»Und wenn Euch droht, was anscheinend Bornhald zum Verhängnis wurde: Aes Sedai, die die Macht zum Töten benützen?«

»Ihre Hexerei schützt sie nicht vor Pfeilen oder einem Messer in der Dunkelheit. Sie sterben so schnell wie jeder andere.« Carridin lächelte. »Ich verspreche Euch, bis zum Sommer habe ich den Fall gelöst.«

Niall nickte. Der Mann hatte Selbstvertrauen. Sicher wären die gefährlichen Fragen längst gekommen, wenn überhaupt. Ihr hättet daran denken sollen, Carridin, daß ich immer als gerissener Taktiker galt. »Warum«, fragte er ruhig, »habt Ihr eigentlich Eure Streitkräfte nicht nach Falme geführt? Auf der Toman-Halbinsel wimmelte es von Schattenfreunden, und ein ganzes Heer von ihnen hatte Falme besetzt. Warum habt Ihr statt dessen versucht, Bornhald daran zu hindern?«

Carridin blinzelte nervös, seine Stimme jedoch blieb fest. »Zuerst waren es doch nur Gerüchte, mein Kommandant. So wilde Gerüchte, daß keiner sie glauben konnte. Zu der Zeit, als ich die Wahrheit erfuhr, ritt Bornhald bereits in die Schlacht. Dann war er tot, und die Schattenfreunde waren in alle Winde zerstreut. Außerdem war es meine Aufgabe, das Licht auf der Ebene von Almoth zu verbreiten. Ich konnte nicht einfach meine Befehle mißachten und Gerüchten folgen.«

»Eure Befehle?« fragte Niall. Seine Stimme wurde lauter, und er erhob sich. Carridin war einen Kopf größer als er, aber der Inquisitor trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Eure Befehle? Eure Befehle lauteten, die Ebene von Almoth zu besetzen! Ein leerer Eimer, den keiner besitzt außer durch Sprüche und angebliche Ansprüche, und den mußtet Ihr lediglich füllen. Der Staat Almoth wäre wieder ins Leben gerufen worden und von den Kindern des Lichts regiert! Kein Zwang mehr, einem närrischen König Ergebenheit zu heucheln. Amadicia und Almoth als Zange, die Tarabon einquetscht. In fünf Jahren hätten wir dort genauso die Macht an uns gerissen wie hier in Amadicia. Und Ihr habt die Gelegenheit dahingehen lassen!«

Jetzt verging dem anderen das Lachen. »Mein Lordhauptmann und Kommandant«, protestierte Carridin. »Wie konnte ich die Ereignisse voraussehen? Noch ein falscher Drache, und zwischen Tarabon und Arad Doman bricht auch noch offener Krieg aus, nachdem sie sich jahrelang nur wie die Köter angeknurrt haben! Und Aes Sedai, die nach dreitausend Jahren endlich ihre wahre Natur zeigen? Trotzdem ist noch nicht alles verloren. Ich kann diesen falschen Drachen aufstöbern und vernichten, bevor sich seine Anhänger vereinigen. Und sobald sich Tarabon und Arad Doman gegenseitig geschwächt haben, kann man sie ohne weiteres von der Ebene fegen... «

»Nein!« fauchte Niall. »Eure Pläne sind beendet, Carridin. Vielleicht sollte ich Euch jetzt Euren eigenen Folterknechten überstellen. Der Hochinquisitor hätte sicher nichts dagegen. Er sucht zähneknirschend nach jemandem, dem er die Schuld für das geben kann, was geschehen ist. Er würde sonst niemand aus den eigenen Reihen opfern, aber wenn ich Euch nenne, hätte er vermutlich nichts einzuwenden. Ein paar Tage strenger Befragung, und Ihr würdet alles gestehen. Selbst, daß Ihr ein Schattenfreund seid. Innerhalb einer Woche würde Euer Kopf unter der Axt des Henkers rollen!«

Auf Carridins Stirn bildeten sich Schweißtropfen. »Mein Kommandant... « Er schluckte erst einmal. »Aus den Worten meines Kommandanten entnehme ich, daß es einen anderen Weg gibt. Wenn er ihn nur ausspricht, schwöre ich, unverzüglich zu gehorchen.«

Jetzt, dachte Niall. Jetzt fallen die Würfel. Er hatte eine Gänsehaut, als befinde er sich in einer Schlacht und erkenne gerade in diesem Moment, daß jeder Mann auf hundert Schritt Umgebung ein Feind war. Kommandierende Lordhauptmänner wurden nicht vom Henker enthauptet, aber mehr als einer war plötzlich und unerwartet verstorben, wurde kurz betrauert und dann ebenso schnell durch einen Mann mit weniger gefährlichen Einfällen ersetzt.

»Kind Carridin«, sagte er mit fester Stimme, »Ihr werdet sicherstellen, daß dieser falsche Drache nicht stirbt. Und falls irgendwelche Aes Sedai kommen und sich gegen ihn stellen, anstatt ihn zu unterstützen, werdet Ihr Eure ›Messer im Dunklen‹-Taktik anwenden.«

Die Kinnlade des Inquisitors klappte herunter. Doch er erholte sich schnell und sah Niall berechnend an. »Aes Sedai zu töten, ist meine Pflicht sowieso, aber... einem falschen Drachen zu gestatten, sich frei zu bewegen? Das... das wäre... Verrat. Und Blasphemie.«

Niall holte tief Luft. Er spürte, wie ihn im Schatten unsichtbare Messer bedrohten. Aber nun gab es kein Zurück mehr. »Es ist kein Verrat, wenn man tut, was notwendig ist. Und man kann selbst Blasphemie tolerieren, wenn sie einem guten Zweck dient.« Allein diese beiden Sätze könnten reichen, um ihn zu töten. »Wißt Ihr, wie man am besten die Menschen unter sich vereint, Kind Carridin? Den schnellsten Weg? Nein? Laßt einen Löwen — einen tollwütigen Löwen — auf der Straße los. Und wenn die Menschen in Panik sind, wenn ihre Knie weich vor Angst sind, sagt ihnen ganz gelassen, daß Ihr euch darum kümmern werdet. Dann tötet Ihr ihn und befehlt ihnen, den Kadaver dort aufzuhängen, wo ihn jeder sehen kann. Bevor sie Zeit zum Nachdenken haben, gebt ihnen einen weiteren Befehl, und sie werden wieder gehorchen. Und wenn Ihr weiterhin Befehle gebt, werden sie ihnen weiterhin gehorchen, denn Ihr seid derjenige, der sie gerettet hat, und wer wäre besser geeignet, sie zu führen?«

Carridin bewegte unruhig den Kopf. »Wollt Ihr... wollt Ihr alles einnehmen, mein Kommandant? Nicht nur die Ebene von Almoth, sondern auch noch Tarabon und Arad Doman?«

»Was ich will, ist meine Sache. Euch ist es lediglich gegeben, mir zu gehorchen, wie Ihr es geschworen habt. Ich erwarte, noch heute abend zu hören, daß Boten auf schnellen Pferden zur Ebene unterwegs sind. Ich bin sicher, Ihr wißt, wie Ihr die Befehle formulieren müßt, damit niemand ahnt, was er nicht wissen soll. Wenn Ihr jemanden mit Euren Truppen hindern müßt, dann die Taraboner und die Domani. Es wäre nicht gut, wenn sie meinen Löwen töteten. Nein, beim Licht, wir werden sie zum Frieden zwingen.«

»Wie mein Kommandant befiehlt«, sagte Carridin verbindlich. »Ich höre und gehorche.« Zu glatt.

Niall lächelte kalt. »Falls Euer Eid nicht ausreichen sollte, wißt dies: Falls dieser falsche Drache stirbt, bevor ich es anordne, oder falls er von den Hexen aus Tar Valon gefangen wird, wird man Euch eines Morgens mit einem Dolch im Herzen auffinden. Und sollte ich Opfer eines... Unfalles... werden oder auch nur an Altersschwäche sterben, werdet Ihr diesen Monat auch nicht überleben.«

»Mein Kommandant, ich habe geschworen, zu gehorchen... «

»Das habt Ihr«, unterbrach ihn Niall. »Seht zu, daß Ihr euch immer darauf besinnt. Geht jetzt.«

»Wie mein Kommandant befiehlt.« Diesmal klang Carridins Stimme nicht mehr so fest.

Die Tür schloß sich hinter dem Inquisitor. Niall rieb sich die Hände. Ihm war kalt. Die Würfel rollten, und man konnte noch nicht sagen, welche Augen oben liegen würden, wenn sie liegenblieben. Die Letzte Schlacht nahte wirklich. Nicht Tarmon Gai'don aus der Legende, wo der Dunkle König aus seinem Gefängnis freikam und sich ihm der Wiedergeborene Drache gegenüberstellte. Das ganz bestimmt nicht. Die Aes Sedai im Zeitalter der Legenden hatten vielleicht ein Loch in das Gefängnis des Dunklen Königs im Shayol Ghul gebrochen, aber Lews Therin Brudermörder und seine Hundert Gefährten hatten es wieder verschlossen und versiegelt. Der Gegenschlag hatte die männliche Hälfte der Wahren Quelle auf ewig befleckt und sie in den Wahnsinn getrieben. So hatte die Zerstörung ihren Lauf genommen. Doch einer dieser damaligen Aes Sedai war stärker als zehn der Hexen aus Tar Valon von heute. Die Siegel, die sie angefertigt hatten, würden halten.

Pedron Niall war ein Verfechter kalter Logik und er hatte sich ausgedacht, wie Tarmon Gai'don wirklich verlaufen würde. Bestialische Trolloc-Horden würden sich aus der Großen Fäule nach Süden ergießen wie in den Trolloc-Kriegen vor zweitausend Jahren. Angeführt würden sie von den Myrddraal, den Halbmenschen, und vielleicht sogar von ein paar neuen menschlichen Schattenlords aus den Reihen der Schattenfreunde. Die Menschheit, aufgesplittert in sich ewig streitende Staaten, konnte dem nicht widerstehen. Aber er, Pedron Niall, würde die Menschheit unter dem Banner der Kinder des Lichts einen. Es würde neue Legenden geben, die berichteten, wie Pedron Niall Tarmon Gai'don geführt und gewonnen hatte.

»Zuerst«, murmelte er, »lasse ich den tollwütigen Löwen los.«

»Einen tollwütigen Löwen?«

Niall fuhr auf dem Absatz herum, als ein knochiger, kleiner Mann mit einer riesigen Hakennase hinter einem der aufgehängten Banner hervorschlüpfte. Er sah nur einen Augenblick lang den Teil der Täfelung, der sich wieder schloß. Das Banner hing wieder schlaff an der Wand.

»Ich habe dir diesen Geheimgang gezeigt, Ordeith«, fauchte Niall, »damit du zu mir kommen kannst, wenn ich dich rufe, ohne daß die halbe Festung Bescheid weiß, und nicht, damit du meine privaten Gespräche belauschst!«

Ordeith verbeugte sich verbindlich und kam durch den Raum zu ihm herüber. »Lauschen, Großer Lord? Das würde ich niemals tun. Ich bin nur gerade angekommen und konnte nicht verhindern, Eure letzten Worte zu hören. Es war nicht mehr als das.« Sein Lächeln erschien leicht spöttisch, aber dieses Lächeln lag immer auf seinem Gesicht. Niall hatte es nie anders gesehen, selbst wenn der Bursche überhaupt keinen Grund hatte, anzunehmen, daß ihn jemand beobachtete.

Einen Monat zuvor, mitten im Winter, war der schlaksige kleine Bursche in Amadicia aufgetaucht, zerlumpt und halb erfroren, und irgendwie brachte er es fertig, sich den Weg bis zu Pedron Niall selbst an sämtlichen Wachen und Sekretären vorbeizureden. Er schien über die Ereignisse auf der Toman-Halbinsel besser Bescheid zu wissen als Carridin in seinen umfangreichen, wenn auch unklaren Berichten, besser auch als Byar und mehr als in irgendeinem Bericht stand oder einem Gerücht zu hören war, das Niall zu Ohren gekommen war. Sein Name war natürlich falsch. In der Alten Sprache hieß Ordeith ›wurmstichiges Holz‹. Als Niall ihn daraufhin ansprach, sagte er nur: »Wer wir waren, das weiß kein Mensch mehr, und das Leben ist bitter.« Aber schlau war er. Er war es gewesen, der Niall darauf brachte, wie die kommenden Ereignisse vermutlich verlaufen würden.

Ordeith ging zum Tisch und nahm eine der Zeichnungen in die Hand. Als er sie genügend weit aufrollte, um das Gesicht des jungen Mannes sehen zu können, verstärkte sich sein Lächeln zu einer Grimasse.

Niall ärgerte sich darüber, daß der Mann ungebeten gekommen war. »Du findest wohl einen falschen Drachen lustig, Ordeith? Oder ängstigt es dich?«

»Ein falscher Drache?« fragte Ordeith leise. »Ja. Ja, das muß er natürlich sein. Was sonst könnte er sein?« Er lachte schrill auf. Niall ging das Lachen auf die Nerven. Manchmal glaubte Niall, daß Ordeith zumindest halb verrückt sein mußte.

Aber er ist schlau, verrückt oder nicht. »Was meinst du, Ordeith? Du scheinst ihn zu kennen.«

Ordeith fuhr zusammen, als habe er die Anwesenheit des kommandierenden Lordhauptmannes vergessen. »Ihn kennen? O ja, ich kenne ihn. Er heißt Rand al'Thor. Er kommt von den Zwei Flüssen im Hinterland von Andor, und er ist ein so schlimmer Schattenfreund, daß Eure Seele sich krümmte, wüßte sie nur die Hälfte seiner Schandtaten.«

»Die Zwei Flüsse«, sagte Niall nachdenklich. »Jemand hat erst einen anderen Schattenfreund von dort erwähnt, auch einen Jüngling. Seltsam, wenn man bedenkt, daß Schattenfreunde aus einer solchen Gegend kommen sollen. Aber es gibt natürlich überall welche.«

»Einen anderen, Großer Lord?« fragte Ordeith. »Von den Zwei Flüssen? Ist es Matrim Cauthon oder Perrin Aybara? Sie sind genauso alt wie er und stehen ihm an Bösartigkeit nur wenig nach.«

»Mir wurde der Name Perrin genannt«, sagte Niall mit gerunzelter Stirn. »Drei davon, sagst du? Von den Zwei Flüssen kommt doch sonst nur Wolle und Tabak. Ich bezweifle, daß es noch einen anderen Ort gibt, der stärker vom Rest der Welt isoliert ist.«

»In einer Stadt müssen sich Schattenfreunde verbergen und können ihre wahre Natur nicht offen zeigen. Sie müssen mit anderen Umgang pflegen, mit Fremden, die von anderswo kommen und wieder weiterreisen und dabei erzählen, was sie gesehen und erlebt haben. Aber in ruhigen, von der Welt abgeschnittenen Dörfern, wo man kaum jemals einen Fremden sieht... Welcher Ort könnte für eine ganze Gemeinde von Schattenfreunden besser geeignet sein?«

»Wie kommt es, daß du die Namen von drei Schattenfreunden kennst, Ordeith? Drei Schattenfreunden vom Ende der Welt. Du hast viele Geheimnisse, Wurmholz, und du ziehst mehr Überraschungen aus dem Ärmel als ein Gaukler.«

»Wie kann jemand alles erzählen, was er weiß, Großer Lord?« sagte der kleine Mann verbindlich. »Es wäre doch nur Geschwätz, bis einmal etwas Nützliches dabei ist. Ich werde Euch folgendes sagen, Großer Lord: Dieser Rand al'Thor, dieser Drache, ist tief mit den Zwei Flüssen verwurzelt.«

»Falscher Drache!« sagte Niall scharf, und der andere Mann verbeugte sich.

»Natürlich, Großer Lord. Ich habe mich versprochen.«

Plötzlich bemerkte Niall, daß Ordeith die Zeichnung in seinen Händen zerknüllt und zerrissen hatte. Auch wenn das Gesicht des Mannes, abgesehen von dem sardonischen Lächeln, ruhig blieb, zuckten doch seine Hände und verkrampften sich um das Pergament.

»Hör auf damit!« befahl Niall. Er schnappte sich die Rolle aus Ordeiths Händen und glättete sie, so gut es ging. »Ich habe nicht so viele Bilder von diesem Mann, daß ich es mir leisten kann, eines davon zerstören zu lassen.« Ein großer Teil des Bildes war verschmiert, und durch die Brust des jungen Mannes lief ein Riß, aber wie durch ein Wunder war das Gesicht völlig unbeschädigt geblieben.

»Vergebt mir, Großer Lord.« Ordeith verbeugte sich tief. Sein Lächeln blieb unverändert. »Ich hasse Schattenfreunde.«

Niall betrachtete das Gesicht auf der Zeichnung. Rand alThor von den Zwei Flüssen. »Vielleicht muß ich die Zwei Flüsse in meine Pläne einbeziehen. Wenn der Schnee schmilzt. Vielleicht.«

»Wie der Große Lord wünschen«, sagte Ordeith ausdruckslos.

Die Grimasse auf Carridins Gesicht ließ alle zurückschrecken, als er durch die Säle der Festung schritt. Allerdings suchten sowieso kaum Menschen die Nähe von Zweiflern. Diener, die geschäftig umhereilten, drückten sich an die Steinwände, und selbst Männer mit Goldknoten als Rangabzeichen auf den weißen Umhängen benützten plötzlich Seitengänge, wenn sie sein Gesicht sahen. Er öffnete die Tür zu seinen Räumen und warf sie hinter sich zu. Er fühlte nicht wie sonst die Befriedigung darüber, die schönen Teppiche aus Tarabon und Tear zu sehen, mit ihren reichen Gold- und Blautönen, die versilberten Spiegel aus Illian, die Goldblätter, die den langen, wunderbar durch Schnitzereien verzierten Tisch in der Mitte des Raums umsäumten. Ein Meister aus Lugard hatte daran fast ein Jahr lang gearbeitet. Diesmal bemerkte er das alles kaum.

»Scharbon!« Ausnahmsweise einmal erschien sein Leibdiener nicht. Der Mann sollte an sich die Zimmer in Ordnung bringen. »Das Licht versenge dich, Scharbon! Wo bist du?«

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, und er wandte sich dorthin, um Scharbon fluchend zur Schnecke zu machen. Doch die Flüche erstarben ihm auf den Lippen, als ein Myrddraal mit der Geschmeidigkeit einer Schlange einen Schritt auf ihn zu tat. Die Gestalt ähnelte der eines Menschen, und er war auch etwa durchschnittlich groß, doch damit endete alle Ähnlichkeit. Stumpfschwarze Kleider und ein Umhang, der sich kaum mitbewegte, ließen seine larvenbleiche Haut noch blasser erscheinen. Und er hatte keine Augen. Dieser augenlose Blick erfüllte Carridin mit Angst, so wie es Tausenden anderer schon ergangen war.

»Wa... « Carridin hielt inne, um Speichel zu sammeln und sich zu bemühen, seine Stimme wieder normal klingen zu lassen. »Was machst du hier?« Seine Stimme klang immer noch schrill.

Die blutleeren Lippen des Halbmenschen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wo es Schatten gibt, darf ich hingehen.« Seine Stimme klang, als raschle eine Schlange durch abgestorbene Blätter. »Ich überwache alle, die mir dienen.«

»Ich die... «

Es hatte keinen Zweck. Mit Mühe riß Carridin den Blick von dieser glatten Fläche blasser, mehliger Gesichtshaut und wandte ihm den Rücken zu. Ein Schauder lief seinen Rücken hinunter. Ein Myrddraal hinter ihm... Alles sah in dem Spiegel an der Wand vor ihm klar und deutlich aus. Alles, bis auf den Halbmenschen. Der Myrddraal war nur ein verwaschener Fleck. Auch nicht gerade ein beruhigender Anblick, aber immer noch besser, als diesem Blick gegenüberzustehen. Ein wenig Kraft kehrte in Carridins Stimme zurück.

»Ich diene dem... « Er schwieg, als ihm mit einem Mal klar wurde, wo er sich befand: im Herzen der Festung des Lichts. Nur ein Gerücht dessen, was er auszusprechen im Begriff war, hätte genügt, um ihn der Hand des Lichts zu überantworten. Der niedrigste aller Kinder des Lichts würde ihn auf der Stelle niederstrecken, hörte er diese Worte. Er war allein bis auf den Myrddraal und vielleicht Scharbon... Wo ist dieser verfluchte Kerl? Es wäre gut, noch einen Menschen bei sich zu haben, um mit ihm diesen Blick des Halbmenschen zu teilen, auch wenn er den anderen hinterher beseitigen mußte. Trotzdem senkte er seine Stimme. »Ich diene dem Großen Herrn der Dunkelheit, genau wie du. Wir dienen beide.«

»Wenn Ihr es so sehen wollt?« Der Myrddraal lachte, und der Ton ließ Carridin bis aufs Mark erschauern. »Wie auch immer, ich will wissen, wieso Ihr euch hier befindet und nicht auf der Ebene von Almoth.«

»Ich... auf Befehl des kommandierenden Lordhauptmannes.«

Der Myrddraal schnarrte: »Die Worte Eures kommandierenden Lordhauptmannes sind Dung! Euer Befehl lautete, den Menschen namens Rand al'Thor zu finden und zu töten. Das ist wichtiger als alles andere. Alles andere! Warum gehorcht Ihr nicht?«

Carridin holte tief Luft. Der Blick in seinem Rücken traf ihn wie ein Messer, das an seinem Rückgrat entlangschnitt. »Die Lage... hat sich geändert. Es gibt Dinge, die ich nicht mehr so gut wie zuvor in der Hand habe.« Ein hartes Kratzen ließ ihn abrupt herumfahren.

Der Myrddraal fuhr mit einer Hand über die Tischfläche, und von seinen Fingernägeln stiegen dünne Rauchwölkchen auf. »Nichts hat sich geändert, Mensch. Ihr habt Eure Eide dem Licht gegenüber gebrochen und neue Eide geschworen, und denen werdet Ihr Folge leisten!«

Carridin starrte die Furchen an, die sich durch das glänzende Holz der Tischfläche zogen, und er schluckte krampfhaft. »Ich verstehe nicht. Warum ist es plötzlich so wichtig, ihn zu töten? Ich glaubte, der Große Herr der Dunkelheit wolle ihn benützen?«

»Ihr stellt meine Worte in Frage? Ich sollte Euch die Zunge herausreißen. Es ist nicht an Euch, etwas in Frage zu stellen! Oder etwas zu verstehen. Es ist an Euch, zu gehorchen! Ihr werdet Hunde Gehorsam lehren. Versteht Ihr das? Bei Fuß, Hund, und gehorche deinem Herrn!«

Zorn drang durch seine Angst hindurch, und Carridins Hand schlüpfte an seine Hüfte, doch das Schwert hing nicht dort. Es lag im Nebenzimmer, wo er es gelassen hatte, als er zu Pedron Niall gerufen worden war.

Der Myrddraal bewegte sich schneller als eine angreifende Viper. Carridin öffnete den Mund, um zu schreien, als die vorschnellende Hand sich mit einem eisernen Griff um sein Handgelenk schloß. Seine Knochen wurden zerdrückt, und rasender Schmerz durchfuhr seinen Arm. Doch der Schrei verließ seinen Mund nicht, denn die andere Hand des Halbmenschen ergriff sein Kinn und zwang seine Kiefer, sich zu schließen. Seine Fersen hoben sich, und dann verloren seine Zehen den Kontakt mit dem Boden. Grunzend und gurgelnd hing er im Griff des Myrddraals.

»Hör mich an, Mensch. Du wirst diesen Jüngling finden und so schnell wie möglich töten. Glaube nicht, daß du mich ablenken kannst. Es gibt andere deiner Kinder, die mir sagen werden, wenn du dich von deiner Aufgabe abwendest. Aber ich werde dich anspornen. Falls dieser Rand al'Thor nicht in einem Monat tot ist, töte ich einen von deinem Blut: einen Sohn, eine Tochter, eine Schwester, einen Onkel. Du wirst nicht wissen, wen, bis der Erwählte schreiend gestorben ist. Wenn er noch einen Monat am Leben bleibt, töte ich wieder einen. Und dann wieder und wieder. Und wenn keiner von deinem Blut mehr lebt außer dir und er ist immer noch am Leben, dann bringe ich dich zum Shayol Ghul.« Er lächelte. »Es wird Jahre dauern, bis du gestorben bist, Mensch. Verstehen wir uns jetzt?«

Carridin gab einen erstickten Laut von sich — teils Stöhnen, teils Wimmern. Er glaubte, sein Hals müsse gleich brechen.

Mit einem Knurren schleuderte der Myrddraal ihn quer durch den Raum. Carridin krachte gegen die gegenüberliegende Wand und glitt betäubt auf den Läufer davor. Mit dem Gesicht nach unten versuchte er, Luft zu holen.

»Verstehen wir uns, Mensch?«

»Ich... ich höre und gehorche«, brachte Carridin mit zum Teppich gewandtem Gesicht heraus. Er hörte keine Antwort.

Er drehte sich um und stöhnte auf, weil sein Hals so schmerzte. Außer ihm selbst befand sich niemand im Zimmer. Die Legenden berichteten, daß die Halbmenschen auf Schatten wie andere auf Pferden ritten, und wenn sie sich zur Seite wandten, dann verschwanden sie. Keine Wand konnte sie zurückhalten. Carridin hätte am liebsten geweint. Er schob sich mühsam hoch und fluchte über den stechenden Schmerz in seinem Handgelenk.

Die Tür öffnete sich, und Scharbon eilte herein. Er war ein molliger Mann und trug einen Korb auf den Armen. Er blieb stehen und sah Carridin überrascht an. »Herr, geht es Euch gut? Vergebt mir, daß ich nicht eher gekommen bin, aber ich ging aus, um Obst zu kaufen... «

Mit seiner unverletzten Hand schlug Carridin Scharbon den Korb aus den Händen. Verschrumpelte Äpfel rollten über den Teppich. Dann schlug er dem Mann obendrein noch mit dem Handrücken ins Gesicht.

»Vergebt mir, Herr«, flüsterte Scharbon.

»Bring mir Papier und Tinte«, knurrte Carridin. »Beeil dich, du Narr! Ich muß Befehle verschicken.« Aber welche? Wessen Befehle? Während Scharbon hastig dem Befehl nachkam, starrte Carridin die Furchen auf der Tischplatte an und zitterte.


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