39 Fäden im Muster

Jolien faßte unsicher nach der Stelle, wo sich Dailins Wunde befunden hatte. Als sie nur glatte Haut berührte, schnappte sie nach Luft. Sie hatte wohl ihren eigenen Augen nicht trauen wollen.

Nynaeve richtete sich auf und trocknete sich die Hände an ihrem Umhang ab. Egwene mußte zugeben, daß gute Wolle besser als Handtuch dienen konnte als Seide oder Samt. »Ich sagte: Wascht sie und zieht ihr etwas an!« fauchte Nynaeve.

»Ja, Weise Frau«, sagte Jolien schnell, und sie, Chiad und Bain folgten eilends dem Befehl.

Aviendha lachte kurz auf. Es klang ein wenig hysterisch — am Rande des Weinens. »Ich habe gehört, daß man einer Weisen Frau aus der Gezackter-Gipfel-Septime nachsagt, sie bringe so etwas fertig, und auch einer aus der VierLöcher-Septime, aber ich glaubte immer, das sei nur Angeberei.« Sie atmete tief durch und fand ihre Beherrschung wieder. »Aes Sedai, ich stehe tief in Eurer Schuld. Mein Wasser gehört Euch, und der Schatten meiner Septimenfestung wird Euch willkommen heißen. Dailin ist meine Zweitschwester.« Sie bemerkte Nynaeves befremdeten Blick und fügte hinzu: »Sie ist die Tochter der Schwester meiner Mutter. Nahe Blutsverwandtschaft, Aes Sedai. Ich stehe in Eurer Blutschuld.«

»Wenn ich Blut übrig habe, um es zu vergießen«, sagte Nynaeve trocken, »dann werde ich selbst dafür sorgen. Wenn Ihr etwas für mich tun wollt, dann sagt mir, ob ich in Jurene ein Schiff finde. In dem nächsten Dorf südlich von hier.«

»Das Dorf, in dem die Soldaten die Flagge mit dem Weißen Löwen gehißt haben?« fragte Aviendha. »Ein Schiff war da, als ich gestern die Gegend erkundete. In den alten Geschichten wird von Schiffen erzählt, doch es war ein eigenartiges Gefühl, eines wirklich zu sehen.«

»Das Licht gebe, daß es noch da ist.« Nynaeve begann, ihre Tüten mit zerstoßenen Kräutern wegzupacken. »Ich habe für das Mädchen getan, was ich konnte, Aviendha, und nun müssen wir weiter. Was sie jetzt braucht, ist Essen und Schlaf. Und bemüht Euch, daß niemand mehr ein Schwert in sie steckt.«

»Was geschehen soll, geschieht, Aes Sedai«, antwortete die Aiel-Frau.

»Aviendha«, fragte Egwene, »bei den Gefühlen, die Ihr dem Fluß gegenüber empfindet, wie überquert Ihr ihn da? Ich bin sicher, daß es zwischen diesem Ort hier und der Wüste mindestens einen Fluß gibt, der beinahe so groß ist wie der Erinin.«

»Der Alguenya«, sagte Elayne. »Oder habt Ihr ihn umgangen?«

»Ihr habt viele Flüsse, aber an manchen gibt es, was Ihr Brücke nennt, und die überquerten wir bei Bedarf. Andere konnten wir durchwaten. Und wo nichts anderes möglich war, nun, Jolien hat sich daran erinnert, daß Holz schwimmt.« Sie klatschte mit der Hand auf den Stamm einer hohen Birke. »Die sind groß, aber sie schwimmen genauso wie ein einzelner Ast. Wir fanden tote Baumstämme und machten damit ein... Schiff... ein kleines Schiff, indem wir zwei oder drei davon zusammenbanden, um den großen Fluß zu überqueren.« Das sagte sie, als sei es ganz selbstverständlich.

Egwene sah sie staunend an. Wenn sie vor etwas solche Angst hätte, wie die Aiel vor dem Fluß, ob sie dann den gleichen Mut aufgebracht hätte? Sie glaubte nicht. Wie steht es mit den Schwarzen Ajah, fragte eine kleine Stimme in ihr. Hast du nun keine Angst mehr vor ihnen? Das ist etwas anderes, antwortete sie. Dazu gehört kein Mut. Entweder jage ich sie, oder ich sitze da wie ein Kaninchen, das auf den Habicht wartet. Sie wiederholte in ihrem Innern die alte Redensart: ›Es ist besser, der Hammer zu sein als der Nagel.‹

»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte Nynaeve.

»Einen Moment noch«, warf Elayne ein. »Aviendha, warum seid Ihr von soweit hergekommen und habt solche Strapazen auf Euch genommen?«

Aviendha schüttelte verächtlich den Kopf. »Wir sind gar nicht weit gekommen. Wir waren unter den letzten, die sich aufmachten. Die Weisen Frauen haben mich in die Enge getrieben wie die Wildhunde ein verirrtes Kalb. Sie sagten, ich hätte andere Pflichten zu erfüllen.« Plötzlich grinste sie und deutete auf die anderen Aiel. »Die hier blieben zurück, um mich in meiner Seelennot zu trösten, sagten sie, aber ich glaube nicht, daß mich die Weisen Frauen hätten gehen lassen, wenn sie nicht dagewesen wären, um mich zu begleiten.«

»Wir suchen den, von dem die Prophezeiungen sprachen«, sagte Bain. Sie hielt den Oberkörper der schlafenden Dailin aufrecht, damit ihr Chiad ein braunes Leinenhemd überziehen konnte. »Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.«

»Er wird uns aus dem Dreifachen Land führen«, fügte Chiad hinzu. »Die Prophezeiung besagt, daß er von einer Far Dareis Mai geboren wurde.«

Elayne blickte überrascht drein. »Ich dachte, Ihr hättet gesagt, die Töchter des Speers dürften keine Kinder haben. Jedenfalls hat man mir das so beigebracht.« Bain und Chiad tauschten wieder so einen Blick, als sei Elayne der Wahrheit nahe gekommen und habe sie dennoch wieder verfehlt.

»Wenn eine Tochter ein Kind bekommt«, erklärte Aviendha geduldig, »gibt sie das Kind den Weisen Frauen ihrer Septime, und die geben das Kind insgeheim einer anderen Frau, so daß niemand weiß, wessen Kind es ist.« Auch bei ihr klang es, als erkläre sie jemandem, daß ein Stein hart sei. »Jede Frau möchte ein solches Kind aufziehen, in der Hoffnung, daß Er es ist, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.«

»Oder vielleicht gibt sie den Speer auf und heiratet den Mann«, sagte Chiad, worauf Bain hinzufügte: »Es gibt manchmal Gründe, warum man den Speer aufgeben muß.« Aviendha blickte sie kurz und ausdruckslos an und fuhr fort, als hätten sie nichts gesagt: »Aber die Weisen Frauen behaupten jetzt, er könne hier, jenseits der Drachenmauer gefunden werden. ›Blut von unserem Blut, gemischt mit dem Alten Blut, und aufgezogen von einem uralten Blut, das nicht unser ist.‹ Ich verstehe das nicht, doch die Weisen Frauen haben keinen Zweifel an ihrer Behauptung zugelassen.« Sie legte eine Pause ein und suchte offensichtlich nach den richtigen Worten. »Ihr habt viele Fragen gestellt, Aes Sedai. Ich möchte Euch auch eine stellen. Ihr müßt verstehen, daß wir nach Omen und Anzeichen für Sein Kommen Ausschau halten. Warum befinden sich drei Aes Sedai in einem Land, in dem die einzige Hand, die keinen Dolch hält, einfach zu schwach ist, um den Griff zu packen; in dem die Menschen verhungern. Wohin wollt Ihr?«

»Tear«, sagte Nynaeve ungeduldig, »es sei denn, wir stehen hier herum, bis das Herz des Steins zu Staub vermodert.« Elayne begann damit, die Riemen ihres Bündels und ihrer Umhängetasche nachzuziehen, und einen Augenblick später schloß sich Egwene an.

Die Aiel-Frauen blickten sich an. Jolien erstarrte in ihrem Versuch, Dailins graubraunen Mantel zuzuknöpfen. »Tear?« fragte Aviendha mit beherrschter, aber doch leicht zitternder Stimme. »Drei Aes Sedai durchwandern ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land auf dem Weg nach Tear. Das ist eigenartig. Warum geht Ihr nach Tear, Aes Sedai?«

Egwene sah Nynaeve an. Licht, vor einem Augenblick noch haben sie gelacht, und jetzt sind sie so nervös wie zuvor.

»Wir jagen einige böse Frauen«, sagte Nynaeve vorsichtig. »Schattenfreunde.«

»Schattenläufer.« Jolien verzog den Mund dabei, als habe sie in einen verfaulten Apfel gebissen.

»Schattenläufer in Tear«, sagte Bain, und wie um ihren Satz zu beenden, fügte Chiad hinzu: »Und drei Aes Sedai wollen ins Herz des Steins.«

»Ich habe nicht gesagt, daß wir zum Herzen des Steins wollten«, sagte Nynaeve in scharfem Ton. »Ich habe lediglich gesagt, ich will nicht hier herumstehen, bis es zu Staub zerfällt. Egwene, Elayne, seid ihr fertig?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern stolzierte aus dem Dickicht hinaus. Sie stieß ihren Wanderstock kräftig auf den Boden und ging mit langen Schritten nach Süden.

Egwene und Elayne verabschiedeten sich schnell und folgten ihr dann. Die vier Aiel-Frauen standen da und beobachteten sie.

Als sie und Elayne sich ein Stück von den Bäumen entfernt hatten, sagte Egwene: »Mir ist fast das Herz stehengeblieben, als du deinen richtigen Namen genannt hast. Hattest du keine Angst, daß sie versuchen, dich zu töten oder gefangenzunehmen? Der Aiel-Krieg ist noch nicht so lange her, und wenn sie auch behauptet haben, keiner Frau etwas zuleide zu tun, die den Speer nicht trägt, so wirkten sie aber auf mich, als wären sie nur zu schnell bereit, ihre Speere zu benutzen.«

Elayne schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe gerade erfahren, wieviel ich über die Aiel nicht weiß, aber man hat mir gesagt, die Aiel hielten den Aiel-Krieg überhaupt nicht für einen solchen. Nach ihrem Verhalten mir gegenüber neige ich dazu, diese Meinung zu teilen. Was man mir beigebracht hat, war wohl nicht ganz falsch. Oder vielleicht haben sie mich so behandelt, weil sie glaubten, ich sei eine Aes Sedai.«

»Ich weiß ja, daß sie komisch sind, Elayne, aber niemand kann drei Jahre voller Schlachten etwas anderes nennen als eben einen Krieg! Es ist mir gleich, wie oft sie untereinander kämpfen, aber ein Krieg ist ein Krieg.«

»Nicht für sie. Tausende von Aiel überquerten das Rückgrat der Welt, aber sie betrachteten sich als Verfolger eines Verbrechers oder als Henker, nachdem König Laman von Cairhien das Verbrechen begangen hatte, Avendoraldera zu fällen. Für die Aiel war es kein Krieg, sondern eine Hinrichtung.«

Avendoraldera war Verins Vorträgen nach ein Sproß des Lebensbaumes selbst gewesen, der vierhundert Jahre zuvor als völlig unerwartetes Friedensangebot der Aiel nach Cairhien gebracht worden war. Mit dem Baum hatten die Bürger Cairhiens das Recht erhalten, die Wüste zu durchqueren. Das war bis dahin nur Händlern, Gauklern und den Tuatha'an erlaubt gewesen. Viel vom Reichtum Cairhiens beruhte seither auf dem Handel mit Elfenbein, Parfum, Gewürzen und vor allem Seide aus den Ländern jenseits der Wüste. Nicht einmal Verin hatte eine Ahnung, woher die Aiel einen Sproß von Avendesora hatten. Zum einen stand in den alten Büchern ganz eindeutig, daß der Baum des Lebens keine Samen abwarf, und zum anderen wußte niemand, wo er sich überhaupt befand. Lediglich ein paar Legenden, die aber offensichtlich falsch waren, brachten ihn mit den Aiel in Zusammenhang. Was sollte die Tatsache damit zu tun haben, daß die Aiel die Menschen von Cairhien als Wasserbrüder bezeichneten und darauf bestanden, daß die Wagenzüge der Kaufleute aus Cairhien die Flagge mit dem dreifingrigen Blatt von Avendesora mit sich führen mußten?

Egwene mußte zerknirscht zugeben, daß sie sich nun vorstellen könne, warum die Aiel einen Krieg angefangen hatten, auch wenn sie ihn nicht für einen solchen hielten, wenn König Laman ihr Geschenk hatte fällen lassen, um sich daraus einen Thron anfertigen zu lassen, der auf der ganzen Welt einmalig war. ›Lamans Sünde‹ hatte man das später genannt. Verin zufolge hatte das nicht nur Cairhiens Handel durch die Wüste abrupt beendet, nein, alle Cairhienianer, die sich seither in die Wüste gewagt hatten, waren spurlos verschwunden. Verin behauptete, man sage, sie würden in den Ländern jenseits der Wüste als ›Tiere‹ verkauft, aber nicht einmal ihr war klar, wie ein Mann oder eine Frau überhaupt verkauft werden konnten.

»Egwene«, sagte Elayne, »du weißt doch, wer Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt sein muß, oder?«

Sie blickte Nynaeves Rücken an, der sich immer noch ein gutes Stück vor ihnen befand, und schüttelte den Kopf. Will sie ein Wettrennen nach Jurene veranstalten? Dann wäre sie fast stehengeblieben. »Du meinst doch nicht etwa...?«

Elayne nickte. »Ich glaube schon. Ich weiß nicht viel von den Prophezeiungen des Drachen, aber ein paar Sachen habe ich darüber gehört. Eines, woran ich mich gut erinnere, lautet: ›Am Hang des Drachenberges wird er geboren aus einer Frau, die mit keinem Manne vermählt ist.‹ Egwene, Rand sieht wie ein Aiel aus. Na ja, er sieht auch den Bildern von Tigraine ähnlich, die ich gesehen habe, aber sie verschwand, bevor er geboren wurde. Ich glaube auch kaum, daß sie seine Mutter gewesen sein kann. Ich glaube, Rands Mutter war eine Tochter des Speers.«

Egwene grübelte angestrengt, während sie neben Elayne herlief. Alles, was sie über Rands Geburt wußte, ging ihr durch den Kopf. Er war von Tam al'Thor allein aufgezogen worden, nachdem Kari al'Thor gestorben war. Wenn das stimmte, was Moiraine behauptete, konnten sie nicht seine wirklichen Eltern gewesen sein. Nynaeve hatte ein paarmal den Eindruck erweckt, sie kenne irgendein Geheimnis um Rands Geburt. Aber ich wette, ich könnte das nicht mal mit einer Gabel aus ihr herausstochern.

Sie holten Nynaeve ein. Egwene starrte düster vor sich hin, Nynaeve hatte den Blick starr geradeaus gerichtet, wohl auf Jurene und dieses Schiff hin, und Elayne betrachtete die beiden anderen wie ein paar schmollender Kinder, die sich um das größere Stück Kuchen gebalgt hatten.

Nach einer Weile nervösen Schweigens sagte Elayne schließlich: »Das hast du aber gut im Griff gehabt, Nynaeve. Die Heilung und auch alles andere. Ich glaube nicht, daß sie irgendeinen Zweifel daran hegten, daß du wirklich eine Aes Sedai bist. Oder in bezug auf uns alle.

Du hast die richtige Haltung gezeigt.«

»Ja, das hast du gut gemacht«, bestätigte auch Egwene nach einer Weile des Überlegens. »Das war das erste Mal, daß ich wirklich genau bei einer Heilung mit Hilfe der Macht zugesehen habe. Dagegen ist das Blitzeschleudern so leicht wie Kuchenbacken.«

Ein überraschtes Lächeln erschien auf Nynaeves Gesicht. »Danke schön«, murmelte sie. Dann langte sie herüber und zupfte ein wenig an Egwenes Haar, wie sie es oft getan hatte, als Egwene noch ein kleines Mädchen gewesen war.

Ich bin leider kein kleines Mädchen mehr. Der Augenblick ging vorüber, so schnell er gekommen war, und sie gingen schweigend weiter. Elayne seufzte laut.

Sie legten eine weitere Meile zurück oder etwas mehr, obwohl sie vom Ufer abbiegen mußten, um eine Reihe von Baumgruppen mit dichtem Unterholz zu umgehen. Nynaeve bestand darauf, sie von den Bäumen fernzuhalten. Egwene dachte, es sei närrisch zu glauben, daß sich noch mehr Aiel darin verbargen, aber sie machten trotzdem keinen großen Umweg, denn diese Dickichte waren alle recht klein.

Elayne beobachtete diese Baumgruppen als einzige von ihnen genau, und sie war auch diejenige, die plötzlich schrie: »Paßt auf!«

Egwene riß den Kopf herum. Männer traten zwischen den Bäumen heraus. Um ihre Köpfe herum wirbelten Steinschleudern. Sie griff nach Saidar, doch etwas traf ihren Kopf, und die Dunkelheit verschlang alles.

Egwene spürte, wie sie schwankte und wie sich unter ihr etwas bewegte. In ihrem Kopf war allerdings nur Raum für Schmerzen. Sie versuchte, eine Hand an ihre Schläfe zu heben, doch etwas schnitt ihr in die Handgelenke und sie konnte sich nicht rühren. »... besser als den ganzen Tag hier herumliegen und auf die Dunkelheit warten«, sagte die grobe Stimme eines Mannes. »Wer weiß, ob nicht ein anderes Schiff nahe am Ufer vorbeikommt? Und ich traue diesem Schiff dort auch nicht. Es hat ein Leck.«

»Du solltest mal besser darauf hoffen, daß Adden dir glaubt, du hättest die Ringe bemerkt, bevor du dich zum Angriff entschlossen hast«, sagte ein anderer Mann. »Er will fette Beute haben und keine Frauen, schätze ich.« Der erste Mann knurrte etwas Unanständiges, was Adden mit seinem alten Kahn tun könne und genauso mit seiner Fracht.

Sie öffnete die Augen. Silber gesprenkelte Flecken tanzten vor ihnen. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Der Boden schwankte ein Stück unter ihrem Kopf. Sie war quer über den Rücken eines Pferdes gebunden. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit Seilen gefesselt, die unter dem Bauch des Pferdes durchliefen. Ihr Haar hing hinunter.

Noch herrschte Tageslicht. Sie verdrehte den Hals, um sich umsehen zu können. So viele berittene Männer in grober Kleidung umgaben sie, daß sie nicht sehen konnte, ob Nynaeve und Elayne ebenfalls gefangen waren. Ein paar der Männer trugen Teile von Rüstungen — ein zerbeulter Helm hier, ein eingedellter Brustpanzer oder ein mit Metallscheiben benähtes Lederwams da —, aber die meisten trugen lediglich Mäntel, die wohl einen Monat oder mehr nicht gewaschen worden waren. Vielleicht auch noch nie. Dem Geruch nach zu schließen hatten sich die Männer gleichfalls seit Monaten nicht mehr gewaschen. Sie trugen sämtlich Schwerter auf dem Rücken oder am Gürtel.

Zorn und Furcht überfielen sie, vor allem aber heiße Wut. Ich will keine Gefangene mehr sein! Ich lasse mich nicht fesseln! Niemals! Sie griff nach Saidar, und vor Schmerz wäre ihr fast der Kopf zersprungen. Sie konnte gerade noch ein Stöhnen unterdrücken.

Das Pferd blieb einen Moment stehen. Rufe und das Quietschen rostiger Scharniere ertönten. Dann schritt es ein Stück weiter, und die Männer stiegen von ihren Pferden. Als sie weggingen, konnte sie endlich ein wenig von ihrer Umgebung sehen. Eine aus Baumstämmen gefertigte Palisade umgab sie, die offensichtlich auf einer großen, runden, aus Erde aufgeschütteten Anhöhe stand. Ein hölzerner Wehrgang zog sich innen herum, gerade hoch genug angebracht, daß die mit Bögen ausgerüsteten Wachen über die roh behauenen Stämme hinwegspähen konnten. Eine niedrige, fensterlose Blockhütte schien man direkt in den Erdboden unter der Palisade hineingebaut zu haben. Außer ein paar primitiven Schuppen war kein weiteres Gebäude zu sehen. Von den Männern und Pferden abgesehen, die gerade hereingekommen waren, war der Rest der offenen Fläche übersät mit Feuerstellen, angeleinten Pferden und weiteren ungewaschenen Männern. Es mußten mindestens hundert sein. Ziegen und Schweine und Hühner in Käfigen meckerten, grunzten und gackerten. Dazu kamen das Gelächter und die Rufe der Männer. Alles zusammen ergab einen ohrenbetäubenden Lärm, der ihr noch mehr Kopfschmerzen bereitete.

Ihr Blick fand Nynaeve und Elayne, die genau wie sie mit dem Kopf nach unten auf ungesattelte Pferde gebunden waren. Keine schien sich zu rühren. Das Ende von Nynaeves Zopf schleifte im Schmutz, als sich ihr Pferd bewegte. Eine vage Hoffnung verflog damit, daß eine von ihnen sich in Freiheit befinden und den anderen zur Flucht verhelfen könnte. Licht, ich ertrage es nicht, wieder eine Gefangene zu sein. Nicht schon wieder. Vorsichtig versuchte sie, erneut nach Saidar zu greifen. Diesmal war der Schmerz nicht ganz so schlimm — höchstens so, als habe jemand einen Stein auf ihren Kopf fallen lassen —, aber die Leere zersprang trotzdem, bevor sie auch nur an eine Rose denken konnte.

»Eine von ihnen ist wach!« schrie die verängstigte Stimme eines Mannes.

Egwene bemühte sich, schlaff dazuhängen und harmlos zu wirken. Wie beim Licht kann ich bedrohlich wirken, wenn ich wie ein Sack Mehl zusammengeschnürt dahänge! Seng mich, ich muß Zeit gewinnen. Ich muß! »Ich tue Euch nichts«, sagte sie zu dem Burschen, der mit verschwitztem Gesicht auf sie zurannte. Oder zumindest versuchte sie, ihm das mitzuteilen. Sie war sich nicht im klaren darüber, wieviel davon sie herausgebracht hatte, als schon wieder etwas auf ihren Kopf krachte. Ihr wurde schlecht, und eine Welle der Dunkelheit überrollte sie.

Beim nächsten Mal war das Erwachen leichter. Ihr Kopf schmerzte noch, aber nicht so stark wie zuvor. Nur ihre Gedanken wirbelten noch hilflos durcheinander. Wenigstens ist mein Magen nicht... Licht, besser, ich denke nicht an so was! Sie hatte den Geschmack sauren Weines und dazu etwas Bitteres im Mund. Dünne Streifen von Laternenschein fielen durch waagrechte Spalten in einer roh zusammengezimmerten Holzwand, aber sie lag drinnen auf dem Rücken in der Dunkelheit. Auf dem Erdboden, wie sie zu spüren glaubte. Die Tür schien auch nicht gerade gut eingepaßt, sah aber leider stabil aus.

Sie schob sich etwas hoch, so daß sie auf Händen und Knien ruhte, und dann war sie überrascht darüber, daß man sie überhaupt nicht gefesselt hatte. Die anderen Wände außer der aus ungeschältem Holz waren aus rohem Stein gebaut. Das durch die Ritzen fallende Licht reichte aus, um Nynaeve und Elayne zu erkennen, die hilflos im Schmutz lagen. Auf dem Gesicht der Tochter-Erbin klebte Blut. Sie rührten sich nicht. Nur ihre Oberkörper hoben und senkten sich leicht beim Atmen. Egwene zögerte. Sollte sie die beiden sofort wecken oder lieber erst nachsehen, was sich auf der anderen Seite der Wand befand? Nur ein kurzer Blick, sagte sie sich. Ich kann genausogut erstmal sehen, was uns da bewacht, bevor ich sie aufwecke.

Sie redete sich ein, es sei nicht deswegen, weil sie fürchtete, gar nicht in der Lage zu sein, sie aufzuwecken. Als sie ein Auge an eine der Ritzen in der Nähe der Tür preßte, dachte sie an das Blut auf Elaynes Gesicht und bemühte sich, sich genau daran zu erinnern, was Nynaeve im Falle Dailins getan hatte.

Der angrenzende Raum war groß — er mußte die ganze übrige Fläche des Blockhauses einnehmen, das sie gesehen hatte — und fensterlos. Goldene und silberne Lampen hingen an Wandhaken und an den Balken der hohen Decke und erleuchteten den Raum strahlend hell. Es gab keinen Kamin. Auf dem blanken Erdboden mischten sich Tische und Stühle aus Bauernhäusern mit vergoldeten und mit Elfenbein eingelegten Schatztruhen. Ein mit Pfauenmuster geschmückter Webteppich lag neben einem riesigen Himmelbett, das reichlich mit schmutzigen Decken und Kissen gepolstert war. Die Bettpfosten waren mit feinen, vergoldeten Schnitzereien bedeckt.

Ein Dutzend Männer saß oder stand im Raum herum, doch aller Augen waren auf einen hochgewachsenen, blonden Mann gerichtet, der sicher mit gewaschenem Gesicht gut ausgesehen hätte. Er stand mit einer Hand am Griff seines Schwertes über einem Tisch mit geschwungenen Beinen und vergoldeten eingelegten Runen. Ein Finger der anderen Hand schob etwas, das sie nicht sehen konnte, in kleinen Kreisbewegungen auf der Tischfläche umher.

Die Haustür öffnete sich. Die Nacht zeigte sich in der Öffnung, und dann trat ein schlaksiger Mann ein, dem das linke Ohr fehlte. »Er ist noch nicht gekommen«, sagte er grob. An seiner linken Hand fehlten auch zwei Finger. »Ich habe nicht gern mit denen zu tun.«

Der große Blonde achtete nicht auf ihn und schob immer noch irgend etwas auf dem Tisch hin und her. »Drei Aes Sedai«, murmelte er und dann lachte er auf. »Es gibt einen guten Preis für Aes Sedai, falls Ihr den Mut habt, mit dem richtigen Käufer zu verhandeln. Man muß halt riskieren, daß einem der Bauch durch das Maul gezogen wird, falls man versucht, ihm die Katze im Sack zu verkaufen. Nicht so risikolos, wie den Besatzungsmitgliedern auf einem Handelsschiff die Kehlen durchzuschneiden, eh, Coke? Nicht ganz so einfach, oder was meinst du?«

Nervosität machte sich unter den Männern breit, und der angesprochene, ein stämmiger Bursche mit unstetem Blick, beugte sich ängstlich vor. »Sie sind doch wohl Aes Sedai, Adden?« Sie erkannte diese Stimme. Es war der Mann, der diese unfeinen Andeutungen gemacht hatte. »Sie müssen, Adden. Die Ringe beweisen es, sage ich dir!« Adden nahm etwas in die Hand, das auf dem Tisch gelegen hatte — einen kleinen Reif, der im Laternenschein golden glitzerte.

Egwene schnappte nach Luft und befühlte ihre Hand.

Sie haben meinen Ring weggenommen!

»Es gefällt mir nicht«, sagte der schlaksige Mann, dem das Ohr fehlte. »Aes Sedai. Jede einzelne von ihnen könnte uns alle töten. Glück stich mich! Du bist wirklich ein Narr mit Pferdehirn, Coke, und ich sollte dir besser die Kehle durchschneiden. Was ist, wenn eine davon aufwacht, bevor er kommen?«

»Sie wachen noch stundenlang nicht auf.« Das war ein fetter Mann mit heiserer Stimme und einem schiefen Lachen, das seine Zahnlücken gut zur Geltung brachte. »Meine Oma hat mir das mit dem Zeug beigebracht, das wir ihnen eingeflößt haben. Sie schlafen bis Sonnenaufgang, und er wird lange vorher kommen.«

Egwene prüfte den Geschmack nach saurem Wein und das Bittere in ihrem Mund mit der Zunge. Was es auch war, deine Oma hat dich angelogen. Sie hätte dich lieber in der Wiege erdrosseln sollen! Bevor dieser ›er‹ kam, dieser Mann, der glaubte, Aes Sedai kaufen zu können — wie ein verdammter Seanchan! —, würde sie Nynaeve und Elayne auf die Beine bringen. Sie kroch zu Nynaeve hinüber.

Soweit sie sagen konnte, schien Nynaeve tief zu schlafen. Also begann sie erst einmal damit, sie leicht zu schütteln. Zu ihrer Überraschung öffnete Nynaeve wie auf Kommando die Augen.

»Wa...?«

Sie legte gerade noch rechtzeitig ihre Hand über Nynaeves Mund, um zu verhindern, daß sie laut sprach. »Wir sind Gefangene hier«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Auf der anderen Seite dieser Wand befindet sich ein Dutzend Männer, und weitere sind draußen. Sehr viele weitere. Sie haben uns etwas eingegeben, damit wir schlafen, aber das war ziemlich erfolglos. Erinnerst du dich wieder?«

Nynaeve schob Egwenes Hand beiseite. »Alles klar.«

Ihr Stimme klang leise und verbissen. Sie verzog das Gesicht und den Mund und lachte dann fast lautlos auf. »Schlafkraut. Diese Narren gaben uns Schlafkraut in Wein. So, wie es schmeckt, war der Wein schon beinahe Essig. Schnell, erinnerst du dich an das, was ich dir beigebracht habe? Was löst Schlafkraut aus?«

»Es vertreibt Kopfschmerz, damit man schlafen kann«, sagte Egwene genauso leise. Und beinahe genauso grimmig, bis ihr klar wurde, was sie ausgesprochen hatte. »Es macht einen ein wenig schläfrig, aber das ist auch alles.« Der fette Mann hatte bei seiner Oma nicht gut aufgepaßt. »Alles, was sie taten, war, uns dabei zu helfen, unsere Kopfschmerzen zu bekämpfen.«

»Genau«, bekräftigte Nynaeve. »Und sobald wir Elayne wach haben, werden wir uns so bei ihnen bedanken, daß sie es nicht mehr vergessen.« Sie stand auf und kauerte neben der goldhaarigen Frau nieder.

»Ich glaube, daß mehr als hundert Mann da draußen waren, als sie uns hereinbrachten«, flüsterte Egwene Nynaeves Rücken zu. »Ich bin sicher, du hast nichts dagegen, wenn ich diesmal die Macht wieder als Waffe verwende. Und irgend jemand will uns offensichtlich kaufen. Ich habe vor, diesem Burschen eine Lehre zu erteilen, die ihn dazu bringt, bis zum Ende seiner Tage im Licht zu wandeln!« Nynaeve beugte sich nach wie vor über Elayne, aber keine von beiden rührte sich. »Was ist los?«

»Sie ist schwer verletzt, Egwene. Ich glaube, sie hat einen Schädelbruch. Sie atmet kaum noch. Egwene, sie wird ebenso sicher sterben wie Dailin.«

»Kannst du nichts tun?« Egwene versuchte, sich an all die verschiedenen Machtströme zu erinnern, die Nynaeve verwoben hatte, um die Aiel-Frau zu retten, aber mehr als jeden dritten Fluß konnte sie sich nicht ins Gedächtnis zurückrufen. »Du mußt!«

»Sie haben mir meine Kräuter abgenommen«, jammerte Nynaeve mit zitternder Stimme. »Ich kann nicht! Nicht ohne die Kräuter!« Egwene stellte erschrocken fest, daß Nynaeve beinahe die Tränen kamen. »Seng sie alle, ich kann nicht ohne...!« Plötzlich packte sie Elayne bei den Schultern, als wolle sie die bewußtlose Frau anheben und schütteln. »Seng dich, Mädchen«, keuchte sie, »ich habe dich nicht so weit gebracht, um dich sterben zu sehen! Ich hätte dich in der Küche bei den Töpfen lassen sollen! Ich hätte dich in einen Sack stecken und Mat mitgeben sollen, damit er dich zu deiner Mutter schleppt! Ich lasse dich nicht einfach so sterben! Hörst du mich? Ich erlaube es nicht!« Mit einem Mal umgab das Glühen Saidars Nynaeve, und Elayne riß gleichzeitig Augen und Mund auf.

Egwene legte Elayne blitzartig eine Hand über den Mund, um jeden Laut zu dämpfen. Als sie Elayne berührte, ergriff eine Seitenströmung des Machtflusses von Nynaeve auch sie wie einen Strohhalm am Rande eines Mahlstroms. Kälte biß in ihre Knochen, und traf dort auf eine Hitzewelle, die sich nach außen hin ausbreitete, als wolle sie ihr Fleisch verkohlen. Die Welt verschwand im überwältigenden Gefühl des Dahingleitens, Fallens, Fliegens, Herumwirbelns.

Als es schließlich zu Ende war, atmete sie schwer und blickte auf Elayne hinunter, die sie über ihre auf deren Mund gepreßte Hand hinweg ansah. Egwenes Kopfschmerzen waren spurlos verschwunden. Selbst das Kielwasser des von Nynaeve ausgehenden Machtstromes hatte dazu ausgereicht. Das Stimmengemurmel von der anderen Seite der Wand her war nicht lauter als zuvor.

Falls Elayne irgendein Geräusch gemacht hatte, dann hatten Adden und die anderen nichts davon gehört.

Nynaeve kniete mit gesenktem Kopf zitternd neben ihr. »Licht«, stöhnte sie. »Das so anzustellen... war, als ob ich... mir die eigene Haut abziehe. O Licht!« Sie sah Elayne an. »Wie geht es dir, Mädchen?« Egwene zog ihre Hand weg.

»Müde«, murmelte Elayne. »Und hungrig. Wo sind wir? Da waren Männer mit Schleudern... «

Schnell erzählte ihr Egwene, was geschehen war. Lange, bevor sie fertig war, verfinsterte sich Elaynes Miene.

»Und nun«, fügte Nynaeve mit Stahl in der Stimme hinzu, »werden wir diesen Halunken zeigen, was man sich einhandelt, wenn man sich in unser Leben einmischt.« Wieder glühte Saidar um sie herum.

Elayne stand unsicher auf, aber auch sie war von dem Glühen umgeben. Egwene griff beinahe jubelnd nach der Wahren Quelle.

Als sie wieder durch die Ritzen spähten, um erst mal genau zu beobachten, mit wem sie es zu tun hatten, standen drei Myrddraal im Raum.

Ihre stumpfschwarze Kleidung hing unnatürlich bewegungslos an ihnen. So standen sie vor dem Tisch, und jedermann außer Adden hatte sich so weit wie möglich vor ihnen zurückgezogen. Sie standen mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt und mit gesenktem Blick da. Auf der anderen Seite des Tisches stellte sich Adden diesem augenlosen Blick, aber der Schweiß zog Furchen durch den Schmutz auf seinem Gesicht.

Der eine Blasse hob einen Ring vom Tisch auf. Egwene sah nun, daß es ein viel schwererer Goldring war als die mit der Großen Schlange. Mit gegen die Ritze in der Wand gepreßtem Gesicht schnappte Nynaeve nach Luft und griff sich oben unter ihr Kleid.

»Drei Aes Sedai«, zischte der Halbmensch, und seine Heiterkeit klang, als ob etwas Abgestorbenes zu Staub zerfiele, »und eine davon trug diesen.« Schwer schlug der Ring auf der Tischfläche auf, als der Myrddraal ihn zurückwarf.

»Das sind diejenigen, die wir suchen.« Die Stimme des anderen Blassen knarrte beinahe. »Ihr werdet reich belohnt werden, Mensch.«

»Wir müssen sie überrumpeln«, sagte Nynaeve leise. »Was für ein Schloß haben wir denn hier?«

Egwene konnte gerade noch das Schloß draußen an der Tür sehen. Es war aus Eisen und hing an einer Kette, die selbst einen Bullen zurückgehalten hätte. »Haltet euch bereit«, sagte sie.

Sie ließ einen haarfeinen Strang der Macht aus dem Element Erde entstehen, wobei sie hoffte, die Halbmenschen könnten eine so geringe Menge der Macht nicht fühlen, und verwob ihn in die Eisenkette — in jedes kleine Teilchen des kalten Metalls.

Einer der Myrddraal hob den Kopf. Ein anderer beugte sich über den Tisch auf Adden zu. »Es juckt mich, Mensch. Seid Ihr sicher, daß sie schlafen?« Adden schluckte schwer und nickte dann.

Der dritte Myrddraal wandte sich der Tür zu, hinter der Egwene und die anderen kauerten.

Die Kette fiel zu Boden, der Myrddraal, der die Tür angestarrt hatte, knurrte, und gleichzeitig öffnete sich die Tür zum Hof, und ein schwarz verschleierter Tod kam aus der Nacht über den Raum.

Schreie erklangen, als die Männer nach ihren Schwertern griffen, um sich gegen die zustechenden Aiel- Speere zu wehren. Die Myrddraal zogen Klingen, noch schwärzer als ihre Kleidung, und auch sie kämpften um ihr Leben. Egwene hatte einmal zugesehen, wie sechs Katzen kämpften, jede gegen alle anderen. Dies hier sah dem ähnlich, nur hundertmal schlimmer. Und doch herrschte nach nur wenigen Sekunden Schweigen. Oder beinahe jedenfalls.

Jeder Mensch, der keinen schwarzen Schleier trug, lag tot, von einem Speer durchbohrt, auf dem Boden. Adden war von einem Speer an die Wand genagelt worden. Auch zwei Aiel lagen regungslos da, mitten in dem Durcheinander von umgestürzten Möbelstücken und Leichen. Die drei Myrddraal standen Rücken an Rücken in der Mitte des Raums, die schwarzen Schwerter in Händen. Einer hielt sich die Seite, als sei er verwundet worden, aber ansonsten ließ er sich nichts anmerken. Ein anderer hatte eine lange Rißwunde im blassen Gesicht. Sie blutete nicht. Um sie herum kreisten die fünf noch am Leben befindlichen Aiel in geduckter Haltung. Von draußen erklangen Schreie und metallisches Klappern, das ihnen sagte, daß dort weitere Aiel in der Nacht kämpften. Doch der Raum war von einem viel leiseren Geräusch erfüllt.

Beim Umkreisen der Blassen trommelten die Aiel mit ihren Speeren gegen ihre kleinen Lederschilde. Bom-bom-BOM-bom... bom-bom-BOM-bom... bom-bom-BOM-bom. Die Myrddraal drehten sich mit ihnen, und in ihren augenlosen Gesichtern stand Unsicherheit, Nervosität, weil der Blick, der sonst alle Menschen vor Angst lähmte, die Aiel gar nicht zu berühren schien.

»Tanz mit mir, Schattenmann«, rief der eine Aiel plötzlich herausfordernd. Es klang nach einem jungen Mann.

»Tanz mit mir, Augenloser.« Das war eine Frau. »Tanz mit mir.« »Tanz mit mir.«

»Ich glaube«, sagte Nynaeve und richtete sich auf, »jetzt ist es Zeit für uns.« Sie stieß die Tür auf, und die drei in das Glühen Saidars gehüllten Frauen traten in den Raum.

Es schien, als hörten in diesem Augenblick die Aiel für die Myrddraal genauso zu existieren auf wie die Myrddraal für die Aiel. Die Aiel starrten Egwene und die anderen über ihre Schleier hinweg an, als trauten sie ihren Augen nicht. Sie hörte, wie eine der Frauen laut nach Luft schnappte. Der augenlose Blick der Myrddraal hatte sich geändert. Egwene konnte beinahe das Wissen um ihren bevorstehenden Tod im Blick der Halbmenschen fühlen. Die Halbmenschen wußten sofort, mit wem sie es zu tun hatten, wenn sie Frauen gegenüberstanden, die die Macht lenkten. Sie war auch sicher, bei ihnen wahrzunehmen, daß sie ihren — Egwenes und der anderen — Tod herbeisehnten, falls sie das mit ihrem Opfer erreichen könnten. Noch stärker schien allerdings der Wunsch, ihr die Seele aus dem Leib zu reißen und zu einem Spielzeug des Schattens zu machen, ein Wunsch...

Sie war gerade erst in den Raum getreten, und doch schien es, als hätte sie diesem Blick stundenlang gegenübergestanden. »Ich habe genug davon«, grollte sie und ließ einen Feuerstrom los.

Flammen schlugen aus allen drei Myrddraal, züngelten in alle Richtungen, und sie schrien wie zersplitterte Knochen in einer Knochenmühle. Doch sie hatte vergessen, daß sie nicht allein war, daß Elayne und Nynaeve bei ihr waren. In dem Moment, als die Flammen die Halbmenschen verschlangen, schien die Luft sich um sie herum zu verdichten und preßte sie zu einem Feuerball zusammen. Feuer und Schwärze wurden immer dichter und schrumpften. Ihre Schreie ließen Egwene bis ins Mark erzittern. Dann schoß etwas aus Nynaeves Händen — ein dünner, weißer Lichtstrahl, gegen den die Mittagssonne blaß erschien, und verband ihre Hände mit den Myrddraal. Und sie hörten auf, zu existieren, als habe es sie nie gegeben. Nynaeve fuhr selbst überrascht zusammen, und das Glühen um sie verflog.

»Was... was war das?« fragte Elayne.

Nynaeve schüttelte den Kopf. Sie wirkte genauso erschlagen wie Elayne. »Ich weiß nicht. Ich... ich war so zornig und hatte gleichzeitig solche Angst, was sie tun wollten... Ich weiß nicht, was es war.«

Baalsfeuer, dachte Egwene. Sie wußte nicht, woher dieses Wissen kam, aber sie war ganz sicher. Zögernd brachte sie sich dazu, Saidar fahrenzulassen, damit es sie losließ. Sie wußte nicht, welches von beiden schwieriger war. Und ich habe nichts von dem gesehen, was sie da eigentlich tat!

Die Aiel lösten nun ihre Schleier. Ein wenig überhastet, hatte Egwene das Gefühl, als wollten sie ihr und den beiden anderen beweisen, daß sie nicht mehr weiterkämpfen würden. Drei der Aiel waren männlich, einer davon ein älterer Mann mit mehr als nur ein wenig Grau in den dunkelroten Haaren. Sie waren groß, diese Aiel-Männer, und ob jung oder alt, hatten sie dieses gelassene Selbstvertrauen im Blick und bewegten sich mit einer gefährlichen Gewandtheit, die Egwene an die Behüter erinnerte. Der Tod ritt auf ihren Schultern, und sie wußten, daß er da war, und sie fürchteten sich nicht. Eine der Frauen war Aviendha. Die Schreie von draußen ebbten langsam ab.

Nynaeve ging auf die gefallenen Aiel zu.

»Es ist nicht nötig, Aes Sedai«, sagte der ältere Mann. »Der Stahl der Schattenmänner hat sie getroffen.«

Trotzdem beugte sich Nynaeve über sie und zog ihre Schleier weg, um ihre Augenlider zu öffnen und an ihrem Hals nach einem Pulsschlag zu fühlen. Als sie sich von der zweiten aufrichtete, war ihr Gesicht totenblaß. Es war Dailin. »Seng dich! Seng dich!« Es war nicht klar, ob sie damit Dailin meinte oder den Mann mit dem grauen Haar oder Aviendha oder alle Aiel. »Ich habe sie nicht geheilt, um sie so daliegen zu sehen!«

»Der Tod kommt zu uns allen«, begann Aviendha, aber als sich Nynaeve wütend ihr zuwandte, verstummte sie. Die Aiel tauschten untereinander unsichere Blicke, als könnte Nynaeve mit ihnen möglicherweise dasselbe tun wie mit den Myrddraal. Da lag keine Angst in ihren Blicken, nur das Wissen um diese Möglichkeit.

»Der Stahl der Schattenmänner tötet immer«, sagte Aviendha. »Er verwundet nicht nur.« Der ältere Mann sah sie mit gelinder Überraschung im Blick an. Egwene wurde klar, daß für diesen Mann, genau wie bei Lan, ein Beben der Augenlider das gleiche bedeutete wie offenes Staunen bei einem anderen. Aviendha sagte: »Sie wissen so wenig über einige Ding, Rhuarc.«

»Es tut mir leid«, sagte Elayne mit klarer Stimme, »daß wir Euren... Tanz unterbrochen haben. Vielleicht hätten wir nicht eingreifen sollen.«

Egwene sah sie verblüfft an, und dann wurde ihr klar, was sie damit erreichen wollte. Sie sollen sich ein wenig entspannen und Nynaeve Gelegenheit zum Abkühlen geben. »Ihr habt die Lage ganz gut im Griff gehabt«, sagte sie. »Vielleicht haben wir Euch beleidigt, weil wir unsere Nasen in Eure Angelegenheiten steckten?«

Der ergraute Mann — Rhuarc — lachte leise mit tiefer Stimme. »Aes Sedai, ich für meinen Teil bin froh darüber, was... nun, was es auch gewesen sein mag, das Ihr tatet.« Einen Augenblick lang schlich sich Unsicherheit in seinen Blick, doch dann war seine gute Laune wieder da. Sein Lächeln war angenehm. Er hatte ein starkes, kantiges Gesicht und sah recht gut aus, wenn auch ein wenig alt. »Wir hätten sie töten können, aber drei Schattenmänner... Sie hätten bestimmt noch zwei oder drei von uns erwischt, vielleicht auch uns alle, und ich weiß nicht, ob wir alle drei auch wirklich hätten besiegen können. Für die Jungen ist der Tod ein Feind, an dem sie ihre Kräfte messen wollen. Für uns, die wir schon ein wenig älter sind, ist er ein alter Freund, eine vertraute Geliebte, aber wir sind nicht darauf erpicht, sie so schnell wiederzusehen.«

Nynaeve schien sich zu entspannen, als er redete, als sauge die Tatsache, einen Aiel kennenzulernen, der sich nicht nach dem Tod zu sehnen schien, ihr die Anspannung aus den Knochen. »Ich sollte Euch danken«, sagte sie, »und das tue ich auch hiermit. Ich gebe aber zu, daß ich überrascht war, Euch zu sehen. Aviendha, habt Ihr erwartet, uns hier anzutreffen? Wieso?«

»Ich bin Euch gefolgt.« Die Aiel-Frau sagte das ohne Schamgefühl. »Um zu sehen, was Ihr unternehmen würdet. Ich sah, wie die Männer Euch gefangennahmen, aber ich war zu weit entfernt, um einzugreifen. Ich war sicher, daß Ihr mich seht, wenn ich Euch zu nahe komme, und deshalb blieb ich gut hundert Schritt zurück. Als ich dann sah, daß Ihr hilflos wart, war es schon zu spät, um allein einzugreifen.«

»Ich bin sicher, Ihr habt Euer Möglichstes getan«, sagte Egwene mit schwacher Stimme. Sie befand sich nur hundert Schritt hinter uns? Licht, und die Räuber haben sie nicht bemerkt.

Aviendha nahm ihre Worte als Aufforderung, mehr zu erzählen. »Ich wußte, wo sich Coram aufhalten mußte, und er wiederum kannte den Aufenthaltsort von Dhael und Luaine, und sie wieder... « Sie schwieg und blickte den älteren Mann stirnrunzelnd an. »Ich habe allerdings nicht erwartet, einen Clanhäuptling unter den Ankömmlingen vorzufinden, und schon gar nicht meinen eigenen. Wer führt die Taardad Aiel, Rhuarc, wenn du hier bist?«

Rhuarc zuckte die Achseln, als sei das nicht so wichtig. »Die Häuptlinge der einzelnen Septimen werden sich abwechseln und sich darüber beraten, ob sie wirklich nach Rhuidean gehen wollen, wenn ich sterbe. Ich wäre nicht gekommen, aber Amys, Bair, Melaine und Seana haben mir aufgelauert wie die Wildkatzen einem Ziegenbock. Ihre Träume hatten ihnen gesagt, daß ich gehen müsse. Sie wollten von mir wissen, ob ich wirklich als fetter, alter Mann im Bett sterben wolle.«

Aviendha lachte, als käme ihr das wie ein guter Witz vor. »Ich habe gehört, daß sich ein Mann, der zwischen seiner Frau und einer Weisen Frau im Kreuzfeuer steht, lieber ein Dutzend alter Feinde herbeisehnt, gegen die er kämpfen kann. Ein Mann zwischen seiner Ehefrau und drei Weisen Frauen auf einmal, und dann ist die Ehefrau ja selbst eine Weise, na, der wird vermutlich lieber sogar noch gegen den Sichtblender selbst kämpfen wollen.«

»Der Gedanke ist mir auch gekommen.« Er blickte mit gerunzelter Stirn auf etwas am Fußboden hinunter: drei Ringe mit der Großen Schlange, wie Egwene sah, und dazu einen viel schwereren Goldring, der für den Finger eines Mannes geschaffen war. »Ich denke immer noch daran. Alles muß sich ändern, aber wenn ich mich dem entziehen könnte, was sich da ändert, wäre mir auch wohler. Drei Aes Sedai, die nach Tear ziehen.« Die anderen Aiel sahen sich heimlich an, als wollten sie nicht, daß Egwene und ihre Begleiterinnen den Blick bemerkten.

»Ihr habt von Träumen gesprochen«, sagte Egwene. »Wissen Eure Weisen Frauen, was ihre Träume zu bedeuten haben?«

»Einige schon. Wenn Ihr mehr darüber wissen wollt, müßt Ihr mit ihnen sprechen. Vielleicht werden sie es einer Aes Sedai sagen. Männern sagen sie nichts, außer, was wir den Träumen nach zu tun hätten.« Mit einem Mal hörte er sich müde an. »Und gewöhnlich hätten wir genau das am liebsten vermieden.«

Er bückte sich und hob den Männerring auf. Darauf flog ein Kranich über einer Lanze und eine Krone. Egwene erkannte den Ring jetzt. Sie hatte ihn oft zuvor an einem Lederband an Nynaeves Hals hängen sehen. Nynaeve trat auf die anderen Ringe, um ihn dem Mann aus der Hand zu reißen. Ihr Gesicht war rot angelaufen in einem Gemisch von Ärger und zu vielen weiteren Gefühlen, die Egwene nicht ermessen konnte. Rhuarc machte keine Anstalten, ihn zurückzunehmen, sondern sprach im gleichen müden Tonfall weiter:

»Und eine davon trägt einen Ring, von dem ich schon als Junge gehört habe. Den Ring der Könige von Malkier. In der Zeit meines Vaters ritten sie mit den Schienarern gegen die Aiel in den Kampf. Sie waren gute Speertänzer. Aber Malkier fiel der Fäule zum Opfer. Man sagt, daß nur das Kind überlebte, das einst König werden sollte, und daß er den Tod umwirbt, der sein Land in Besitz nahm, so wie andere Männer eine schöne Frau umwerben. Wahrlich, das ist eine seltsame Sache, Aes Sedai. Von all den eigenartigen Dingen, die ich zu sehen erwartete, als Melaine mich aus der eigenen Festung über die Drachenmauer hetzte, war noch keines so eigenartig wie dieses. Ich hatte niemals erwartet, auf einen solchen Weg gehen zu müssen wie den, den Ihr mir gewiesen habt.«

»Ich weise Euch keinen Weg«, sagte Nynaeve in scharfem Tonfall. »Ich will lediglich meine Reise fortsetzen. Diese Männer hatten Pferde. Wir nehmen uns drei davon und brechen wieder auf.«

»In der Nacht, Aes Sedai?« fragte Rhuarc. »Ist Eure Reise so dringlich, daß Ihr es riskiert, nachts durch dieses gefährliche Gebiet zu ziehen?«

Nynaeve kämpfte sichtlich mit sich und sagte dann: »Nein.« Mit gefestigter Stimme fügte sie hinzu: »Aber wir werden bei Sonnenaufgang losreiten.«

Die Aiel trugen die Toten aus der Palisadenumzäunung hinaus, aber weder Egwene noch ihre Gefährtinnen wollten das schmutzige Bett benützen, in dem Adden geschlafen hatte. Sie holten sich ihre Ringe zurück und schliefen in ihre Umhänge und einige Decken der Aiel gehüllt unter freiem Himmel.

Als sich der Himmel im Osten rosa verfärbte, bereiteten die Aiel ein Frühstück aus zähem Trockenfleisch — Egwene zögerte, bis ihr Aviendha erklärte, daß es Ziegenfleisch sei —, Fladenbrot, beinahe genauso schwer zu kauen wie das sehnige Fleisch, und einer Art von blau geädertem Quark, der so hart war, daß Elayne grimmig kommentierte, die Aiel übten wahrscheinlich das Essen, indem sie Steine kauten. Und doch aß die Tochter-Erbin soviel wie Egwene und Nynaeve zusammen. Die Aiel ließen die Pferde laufen, nachdem sie die drei besten für Egwene und die anderen ausgewählt hatten. Aviendha erklärte ihnen, daß sie nur ritten, wenn es unbedingt notwendig sei, und es klang, als liefe sie sich lieber Blasen an die Füße, als auf ein Pferd zu klettern. Es waren alles kräftige Pferde, beinahe so groß wie Schlachtrösser, mit stolz geschwungenem Hals und wilden Augen: ein schwarzer Hengst für Nynaeve, eine braune Stute für Elayne und eine graue für Egwene.

Sie beschloß ihre Stute ›Nebel‹ zu nennen, in der Hoffnung, ein weich klingender Name würde ihr Temperament besänftigen, und tatsächlich schritt Nebel leichtfüßig nach Süden zu, als die Sonne ihren roten Rand über den Horizont schob.

Die Aiel begleiteten sie zu Fuß, alle, die den Kampf überlebt hatten. Drei weitere waren gestorben, neben den beiden, die von den Myrddraal getötet worden waren. Sie waren jetzt zusammen neunzehn. Sie liefen leichtfüßig neben den Pferden her. Zuerst wollte Egwene Nebel verhalten, damit sie besser mithalten könnten, aber die Aiel fanden das äußerst belustigend.

»Ich mache ein Wettrennen mit Euch über zehn Meilen«, sagte Aviendha, »und wir werden ja sehen, wer gewinnt, Euer Pferd oder ich.«

»Ich fordere Euch über zwanzig Meilen heraus!« rief Rhuarc lachend.

Egwene hielt ihre Angebote für ernstzunehmend, und als sie und die anderen ihre Pferde schneller dahintraben ließen, hatten die Aiel keinerlei Probleme, mitzuhalten.

Als die strohgedeckten Dächer von Jurene in Sicht kamen, sagte Rhuarc: »Lebt wohl, Aes Sedai. Möget Ihr immer Wasser und Schatten finden. Vielleicht treffen wir uns wieder, bevor die große Veränderung kommt.« Es klang ziemlich ernst. Als die Aiel nach Süden weiterliefen, hoben Aviendha und Chiad und Bain jede eine Hand zum Abschiedsgruß. Sie schienen nun, da sie nicht mehr neben den Pferden herlaufen mußten, sich keineswegs langsamer zu bewegen, eher sogar noch etwas schneller. Egwene vermutete, sie würden dieses Tempo solange beibehalten, bis sie ihr Ziel erreichten, was es auch sein mochte.

»Was hat er damit gemeint?« fragte sie. »Daß wir uns vielleicht wiedersehen, bevor die große Veränderung kommt?« Elayne schüttelte den Kopf.

»Es spielt keine Rolle, was er meinte«, sagte Nynaeve. »Ich bin froh, daß sie letzten Abend kamen, und ich bin auch froh, daß sie wieder weg sind. Ich hoffe, es ist ein Schiff da.«

Jurene selbst war ein kleiner Ort. Die Häuser waren aus Holz gebaut, und keines wies mehr als ein Stockwerk auf. Doch über allem flatterte die Flagge mit dem Weißen Löwen von Andor an einer langen Stange, und fünfzig Mann von der königlichen Garde hielten den Ort besetzt. Ihre roten Jacken mit den langen, weißen Revers leuchteten unter metallschimmernden Brustpanzern hervor. Man hatte sie an diesen Ort geschickt, sagte ihr Hauptmann, um Flüchtlingen in Richtung Andor eine sichere Zuflucht zu bieten. Aber es wurden täglich weniger. Die meisten flohen in Orte weiter flußabwärts in der Nähe von Aringill. Es sei gut, daß die drei Frauen zu diesem Zeitpunkt angekommen waren, denn er erwarte täglich den Befehl, mit seiner Kompanie nach Andor zurückzukehren. Wahrscheinlich würden die wenigen übriggebliebenen Einwohner Jurenes mit ihnen gehen und hier alles den Räubern und den Soldaten der kriegführenden Adelshäuser von Cairhien überlassen.

Elayne hielt ihr Gesicht unter der Kapuze ihres dicken, wollenen Umhangs verborgen, aber keiner der Soldaten schien das Mädchen mit dem rotgoldenen Haar irgendwie mit der Tochter-Erbin in Verbindung zu bringen. Ein paar fragten sie, ob sie nicht ein wenig bleiben wolle.

Egwene war nicht sicher, ob Elayne sich darüber freute oder schockiert war. Sie selbst erklärte den Männern, die mit ihr anbändeln wollten, daß sie keine Zeit für sie habe. Es war auf gewisse Art schon schmeichelhaft, so unverblümt gefragt zu werden. Sicher hatte sie nicht die Absicht, einen dieser Burschen zu küssen, aber es war nett, zu wissen, daß wenigstens ein paar Männer sie für ebenso hübsch hielten wie Elayne. Nynaeve versetzte einem der Männer eine schallende Ohrfeige. Egwene hätte beinahe gelacht, und Elayne lächelte ganz offen. Egwene glaubte, der Mann habe Nynaeve in den Po gekniffen, und obwohl sie wütend dreinblickte, wirkte ihr Blick keineswegs wirklich zornig, wenn man sie gut genug kannte.

Sie trugen ihre Ringe nicht. Es hatte Nynaeve nicht viel Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, daß der eine Ort, an dem sie ganz bestimmt nicht als Aes Sedai gelten wollten, natürlich Tear sein mußte, besonders wenn sich die Schwarzen Ajah dort aufhielten. Egwene hatte ihren Ring in die Börse zum steinernen Ter'Angreal gesteckt. Sie berührte den Beutel öfters, um sich zu vergewissern, daß sie noch da waren. Nynaeve hatte ihren an die Lederschnur zu dem Ring Lans gehängt und trug nun beide zwischen ihren Brüsten.

Es lag tatsächlich ein Schiff in Jurene an dem einzigen Steinkai vertäut, der sich hier in den Erinin erstreckte. Es war nicht das Schiff, das Aviendha gesehen hatte, wie es schien, aber es war immerhin doch ein Schiff. Egwene war enttäuscht, als sie es genauer ansah. Der Pelikan war doppelt so breit wie der Blaue Kranich und machte mit seinem abgerundeten, wuchtigen Bug seinem Namen absolut keine Ehre. Der Kapitän war übrigens genauso rundlich.

Dieser werte Geselle blinzelte Nynaeve an und kratzte sich hinter dem Ohr, als sie fragte, ob sein Schiff denn auch schnell sei. »Schnell? Ich habe eine volle Ladung von Edelholz aus Schienar und Teppichen aus Kandor. Warum sollte man mit einer solchen Ladung besondere Eile haben? Die Preise steigen doch ständig. Ja, ich denke, es gibt schnellere Schiffe, die nachkommen, aber sie legen hier nicht an. Ich hätte auch nicht hier angelegt, wenn ich nicht Würmer im Fleisch gefunden hätte. Dumme Idee, Fleisch nach Cairhien verkaufen zu wollen. Der Blaue Kranich? Ja, ich habe gesehen, daß Ellisor heute morgen ein Stück flußaufwärts an irgendwas festhing. Ich denke, er wird nicht so bald wieder freikommen. Aber das riskiert man halt mit einem schnellen Schiff.«

Nynaeve zahlte für ihre Passagen und noch mal doppelt soviel für die Pferde. Ihr Gesichtsausdruck war derart finster, daß Egwene und Elayne es erst lange nach dem Ablegen des Pelikan in Jurene wagten, sie wieder anzusprechen.


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