30 Die Würfel rollen

Nachdem Nynaeve und die anderen gegangen waren, verbrachte Mat den größten Teil des Tages in seinem Zimmer, von einem kurzen Ausflug abgesehen. Er plante. Und aß. Er aß fast alles, was ihm die Dienerinnen brachten, und er bat um mehr. Sie waren nur zu froh, seinem Wunsch nachzukommen. Er wollte Brot, Käse und Obst haben, und als er alles hatte, verstaute er die im Winter verschrumpelten Äpfel und Birnen, Käsestücke und Brotlaibe im Kleiderschrank. Die leeren Tabletts ließ er wieder abholen.

Um die Mittagszeit mußte er den Besuch einer Aes Sedai über sich ergehen lassen. Wenn er sich richtig erinnerte, hieß sie Anaiya. Sie nahm seinen Kopf in die Hände, und es überlief ihn kalt dabei. Es war die Eine Macht, das war ihm klar, und nicht einfach die Berührung einer Aes Sedai. Trotz ihrer glatten Wangen und der typischen Würde einer Aes Sedai war sie eine ganz einfache Frau.

»Es scheint Euch schon viel besser zu gehen«, sagte sie ihm lächelnd. Ihr Lächeln erinnerte ihn an seine Mutter. »Noch hungriger, als ich erwartete, wie man mir sagte, aber um so besser. Ich wurde darüber aufgeklärt, daß Ihr Euch bemüht, die Vorratskammern leerzuessen. Glaubt mir, wenn ich Euch versichere: Wir werden dafür sorgen, daß Ihr alle Lebensmittel bekommt, die Ihr benötigt. Ihr müßt keine Angst haben, daß Ihr auch nur eine Mahlzeit verpaßt, bevor Ihr völlig gesund seid.«

Er grinste sie auf die Art an, die er immer bei seiner Mutter benützt hatte, wenn er wollte, daß sie ihm unbedingt glaubte. »Ich weiß das zu schätzen. Und ich fühle mich auch viel besser. Ich denke, heute nachmittag sehe ich mich ein wenig in der Stadt um. Falls Ihr nichts dagegen habt, natürlich. Vielleicht besuche ich am Abend noch eine Schenke. Es gibt nichts Besseres als die Gespräche im Schankraum, um jemanden aufzumuntern.«

Er glaubte, ihre Lippen zucken zu sehen. Beinahe hätte sie noch breiter gelächelt. »Niemand wird versuchen, Euch aufzuhalten, Mat. Aber versucht nicht, die Stadt zu verlassen. Das wird die Wachen aufregen und Euch nichts weiter einbringen, als von ihnen hierher zurückgebracht zu werden.«

»Das würde ich doch nicht machen, Aes Sedai. Die Amyrlin meinte, ich würde nach wenigen Tagen verhungern, wenn ich die Stadt verließe.«

Sie nickte, als glaube sie ihm kein Wort. »Natürlich.« Als sie sich von ihm abwandte, fiel ihr Blick auf den Bauernspieß, den er vom Übungsgelände mitgebracht und in eine Zimmerecke gestellt hatte. »Ihr müßt Euch nicht vor uns schützen, Mat. Ihr seid hier so sicher, wie es nur geht. Bestimmt sicherer als außerhalb.«

»Ach, das weiß ich doch, Aes Sedai. Das weiß ich.« Nachdem sie gegangen war, sah er die Tür finster an und fragte sich, ob er wirklich überzeugend auf sie gewirkt habe.

Es war schon eher Abend als Nachmittag, da verließ er sein Zimmer zum, wie er hoffte, allerletzten Mal. Der Himmel färbte sich purpurn, und die Wolken im Westen strahlten in allen möglichen Rottönen. Als er seinen Umhang angelegt hatte und die große Ledertasche umhängte, die er bei seinem früheren ›Ausflug‹ gefunden hatte — vollgestopft mit dem Brot, Käse und Obst, die er sich erschwindelt hatte —, sah er in den Spiegel, und da wurde ihm klar, daß er seine Absicht so nicht verbergen konnte. Er schnappte sich eine Decke vom Bett, rollte seine Kleider hinein und hängte sich das Ganze auch noch über die Schulter. Der Bauernspieß erfüllte auch als Wanderstock seinen Zweck. Er ließ nichts zurück. Seine kleineren Besitztümer steckten in den Manteltaschen, und in der Gürteltasche steckte das Allerwichtigste: das Dokument der Amyrlin. Elaynes Brief. Und seine Würfelbecher.

Er sah einige Aes Sedai, als er aus der Burg hinausmarschierte, und ein paar davon bemerkten ihn ebenfalls, doch sie hoben höchstens erstaunt eine Augenbraue, sprachen ihn aber nicht an. Eine davon war Anaiya. Sie lächelte ihn amüsiert an und schüttelte leicht mißbilligend den Kopf. Er antwortete mit einem Achselzucken und dem schuldbewußtesten Grinsen, das er fertigbrachte. Sie ging schweigend weiter und schüttelte dabei noch mal den Kopf. Die Wachen am Eingang der Burg blickten ihm lediglich nach.

Erst als er den großen Vorplatz überquert hatte und durch die Straßen der Stadt schlenderte, kam in ihm ein Gefühl der Erleichterung auf. Und des Triumphs. Wenn du nicht verbergen kannst, was du vorhast, dann übertreibe so, daß dich die anderen für einen Narren halten. Dann stehen sie lediglich herum und warten darauf, daß du auf die Schnauze fällst. Diese Aes Sedai warten bestimmt darauf, daß ich von den Wachen zurückgebracht werde. Wenn ich am Morgen noch nicht zurück bin, werden sie zu suchen beginnen. Zuerst aber nicht so schrecklich eifrig, weil sie glauben, ich sei irgendwo in der Stadt untergetaucht. Wenn es ihnen schließlich klar wird, was ich getan habe, bin ich schon weit genug flußabwärts. Dieses Kaninchen wird einen großen Vorsprung vor den Jagdhunden gewinnen.

Sein Herz war so leicht wie seit Jahren nicht mehr. Jedenfalls schien es ihm so. Er begann, vor sich hin zu summen: ›Wir sind wieder auf der Walz‹, und richtete seine Schritte auf den Hafen, von wo aus Schiffe nach Tear hinuntersegeln würden. Sie liefen natürlich all die vielen Dörfer und Städte dazwischen ebenfalls an. Er würde sicher nicht bis Tear fahren. Aringill, wo er sich für den Rest seiner Reise an Land begeben würde, lag ungefähr auf halbem Weg flußabwärts.

Ich überbringe deinen verdammten Brief. Die hat vielleicht Nerven! Erst glaubt sie, ich werde ihn ganz selbstverständlich hinbringen. Dann wieder nicht. Also, ich bringe das verdammte Ding nach Caemlyn, und wenn es mich umbringt.

Die Dämmerung breitete sich über Tar Valon aus. Der Abendsonnenschein reichte aber gerade noch aus, um die phantastischen Gebäude und die seltsam geformten Türme bewundern zu können. Die Türme waren mehr als hundert Schritt hoch oben durch Brücken miteinander verbunden. Menschen füllten die Straßen. Sie trugen so viele verschiedene Moderichtungen, daß Mat glaubte, es müsse so ziemlich jede Nation hier vertreten sein. An den großen Alleen arbeiteten die Laternenanzünder paarweise. Sie stellten ihre Leitern an die hohen Laternenpfähle und einer kletterte hinauf, um den Docht zu erneuern und anzuzünden. Doch in dem Teil Tar Valons, in den er ging, kam das einzige Licht aus den Fenstern der Häuser.

Die großen Gebäude und Türme Tar Valons waren noch von Ogiern erbaut worden, aber die neueren Viertel stammten von Menschenhand. ›Neuer‹ hieß in manchen Fällen ›erst‹ zweitausend Jahre alt. Drunten in der Nähe des Südhafens hatten die menschlichen Baumeister versucht, die kunstvollen Ogierbauwerke zu kopieren. Schenken, in denen sich die Matrosen herumtrieben, erinnerten schon eher an Paläste. In den Nischen standen kleine Statuen, und auf den Dächern wölbten sich niedrige Kuppeln. Zierleisten und kunstvolle Friese schmückten die Wände der Läden von Kerzengießern und der Häuser von Kaufleuten. Auch hier spannten sich Brücken über die Straßen, doch die waren nur gepflastert und nicht mit den mächtigen Steinplatten ausgelegt, und viele der Brücken waren lediglich aus Holz gebaut und verbanden die zweiten Stockwerke der Häuser miteinander oder höchstens einmal die vierten.

Die unbeleuchteten Straßen waren mindestens genauso belebt wie die übrigen in Tar Valon. Händler von den Schiffen und andere, die ihre mitgebrachten Waren kauften, Menschen, die den Erinin als Reiseweg benutzten, und Menschen, die von ihm lebten — alle füllten sie die Tavernen und die Schankräume der Wirtshäuser. In ihrer Gesellschaft befanden sich auch solche, die hinter ihrem Geld her waren, entweder mit legalen Methoden oder etwas zwielichtigeren. Laute Musik von Zithern und Flöten, Harfen und Hackbrettern erklang durch die Straßen. In der ersten Schenke, die Mat betrat, waren an drei Tischen Spiele im Gang. Männer hockten im Kreis in der Nähe der Wände und schrien und lachten, gewannen und verloren.

Er wollte nur vielleicht eine Stunde mit Spielen verbringen und sich dann ein Schiff suchen, gerade lange genug, um seinem kleinen Vermögen ein paar Münzen hinzuzufügen, aber dann gewann er. Er hatte schon immer häufiger gewonnen als verloren, solange er sich zurückerinnern konnte. Es hatte bei seinen Spielen mit Hurin und in Schienar Glückssträhnen gegeben, wo er sechs- oder achtmal hintereinander gewonnen hatte. Heute abend jedoch gewann er mit jedem Wurf. Mit jedem!

Einige der Männer, mit denen er spielte, blickten ihn so böse an, daß er froh war, nicht seine eigenen Würfel benützt zu haben. Deshalb entschloß er sich auch, weiterzugehen. Überrascht stellte er fest, daß er nun beinahe dreißig Silbermark in der Börse hatte, aber er hatte zum Glück keinem einzelnen Mann soviel abgewonnen. Trotzdem waren sie froh, als er wieder ging.

Nur ein dunkelhäutiger Seemann mit einem Lockenkopf — einer aus dem Meervolk, hatte man ihm gesagt, auch wenn sich Mat fragte, was einer der Atha'an Miere so weit vom Meer weg wollte — folgte ihm durch die düsteren Straßen und wollte unbedingt eine Gelegenheit, seinen Verlust wieder einzuspielen. An sich wollte er jetzt zum Hafen, denn dreißig Silbermark waren mehr als genug, aber der Seemann bequatschte ihn weiter, und er hatte auch nur eine halbe Stunde gebraucht, also gab er nach und betrat an der Seite des Mannes die nächste Taverne, an der sie vorbeikamen.

Er gewann wieder, und das Spielfieber ergriff ihn. Er gewann mit jedem Wurf. So ging er von einer Taverne zur nächsten, blieb aber niemals lange genug, um die Leute durch die Höhe seiner Gewinne zu verärgern. Und immer weiter gewann er mit jedem Wurf. Bei einem Geldwechsler tauschte er das Silber gegen Gold ein. Er spielte mit Kronen, Fünfern und beim Jungferntod. Er spielte mit fünf Würfeln, mit vier, mit drei und sogar nur mit zweien. Er spielte Spiele, die er noch gar nicht gekannt hatte, bevor er sich dort hinhockte oder einen Platz am Tisch einnahm. Und er gewann. Irgendwann in der Nacht torkelte der dunkle Seemann, der seinen Namen mit Raab angegeben hatte, müde, aber mit voller Geldbörse in die Dunkelheit hinaus. Er hatte auf Mat gewettet und kräftig gewonnen. Mat besuchte wieder einen Geldwechsler, vielleicht auch zwei. Das Spielfieber ließ ihm alles genauso verschwommen erscheinen wie seine Vergangenheit. Weiter ging's zum nächsten Spiel und zum nächsten Gewinn.

Er wußte nicht, wie viele Stunden schon vergangen waren, als er sich schließlich in einer Taverne wiederfand, die mit Tabaksrauch gefüllt war. Er glaubte, den Namen als ›Das Tremalkiner Tau‹ identifiziert zu haben. Er blickte auf fünf Würfel herab, von denen jeder eine tief eingravierte Krone zeigte. Die meisten Gäste hier schienen nur Interesse daran zu haben, soviel wie möglich zu trinken, aber in der entfernten Ecke klapperten ebenfalls Würfel und erschollen die Schreie der Spieler. All die Geräusche jedoch wurden von einer Frau übertönt, die — von einer Zither begleitet — eine fröhliche Tanzmelodie sang.

»Ich tanz mit einem Mädel mit dunklem Aug, ich bin auch blauen Augen gern nah, die Farbe der Augen ist mir ganz gleich, doch deine sind die schönsten, die ich je sah! Ich küß gern ein Mädchen mit schwarzem Haar, eine Blonde macht das Herz mir auch warm, egal welche Farbe die Haare haben, am liebsten halt ich doch dich im Arm.«

Die Sängerin hatte das Lied angekündigt unter dem Titel: ›Was er mir sagte‹, doch Mat kannte es als ›Tanzt du mit mir?‹ mit einem anderen Text. Aber er konnte jetzt nur an die Würfel denken.

»Wieder ein König«, knurrte einer der Männer, die neben Mat hockten. Es war nun das fünfte Mal hintereinander, daß Mat einen König gewürfelt hatte.

Er hatte den Einsatz von einer Goldmark gewonnen. Diesmal kümmerte es ihn nicht einmal, daß seine andorische Mark mehr wog als die aus Illian, die sein Gegner dagegengesetzt hatte. Er schob die Würfel in den Lederbecher, schüttelte ihn stark und ließ die Würfel erneut über den Fußboden rollen. Fünf Kronen. Licht, das kann doch nicht wahr sein! Keiner hat je sechsmal nacheinander einen König geworfen. Keiner!

»Des Dunklen Königs eigenes Glück«, grollte ein anderer Mann. Das war ein breit gebauter Bursche. Das dunkle Haar hatte er im Nacken mit einem schwarzen Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Schultern waren breit, auf dem Gesicht hatte er Narben, und die Nase war wohl mehr als einmal gebrochen worden.

Mat war sich seiner eigenen Bewegungen kaum bewußt, da hatte er diesen Mann schon am Kragen gepackt, auf die Beine gezerrt und gegen die Wand geknallt. »Sag das nicht noch einmal!« fauchte er ihn an. »Sag so was nie wieder!« Der Mann blinzelte völlig verblüfft. Er war einen Kopf größer als Mat.

»Ist doch nur 'ne Redensart«, sagte jemand hinter ihm. »Licht, das sagt man doch bloß so.«

Mat ließ den narbengesichtigen Mann los und trat zurück. »Ich... ich... ich mag es nicht, wenn jemand so was über mich sagt. Ich bin doch kein Schattenfreund!« Seng mich, nicht das Glück des Dunklen Königs. Das nicht! O Licht, was hat denn dieser verfluchte Dolch bloß aus mir gemacht?

»Keiner hat das behauptet«, knurrte der Mann mit der krummen Nase. Er schien langsam seine Überraschung zu überwinden und zu überlegen, ob er wütend werden sollte oder nicht.

Mat schnappte sich seine Bündel, die er hinter sich auf den Boden gelegt hatte, und ging aus der Taverne hinaus. Er ließ die Münzen liegen. Er hatte keine Angst vor dem Mann. Im Gegenteil, er hatte sowohl Mann wie auch Münzen einfach vergessen. Alles, was er wollte, waren frische Luft und Zeit zum Nachdenken.

Auf der Straße lehnte er sich an eine Wand unweit der Tür der Taverne und atmete die kühle Luft tief ein. Jetzt waren die dunklen Straßen des Südhafenviertels beinahe leer. Aus den Schenken und Tavernen drangen noch immer Musik und Gelächter, aber nur wenige Menschen schritten durch die Nacht. Er hielt den Bauernspieß senkrecht in beiden Händen vor sich, senkte den Kopf auf die Fäuste und versuchte, das Rätsel von allen Seiten her zu sehen.

Er wußte, daß er sich auf sein Glück verlassen konnte. Er hatte schon immer Glück gehabt. Aber irgendwie konnte er sich nicht daran erinnern, zu Hause in Emondsfeld bereits soviel Glück gehabt zu haben, wie seit seiner Abreise. Sicher, er war sehr oft unentdeckt davongekommen, aber andererseits hatte man ihn auch bei so manchem Streich erwischt, den er für todsicher gehalten hatte. Seine Mutter schien immer geahnt zu haben, was er vorhatte, und Nynaeve durchschaute alle Entschuldigungen, die er sich ausdachte. Aber die Glückssträhne hatte nicht damals begonnen, als sie von den Zwei Flüssen wegritten. Nein, es hatte begonnen, als er den Dolch in Shadar Logoth fand. Er erinnerte sich, wie er daheim einmal gewürfelt hatte. Sein Gegner war ein knochiger Mann mit scharfem Blick gewesen, der für einen Tabakhändler aus Baerlon arbeitete. Und er erinnerte sich noch besser, wie ihn sein Vater damals verprügelt hatte, als er erfuhr, daß Mat dem Mann eine Silbermark und vier Pfennig schuldete.

»Aber ich habe den verfluchten Dolch doch endlich los«, murmelte er. »Diese verdammten Aes Sedai haben gesagt, ich sei ihn endgültig los.« Er fragte sich, wieviel er wohl an diesem Abend gewonnen habe.

Als er mit den Händen in seine Manteltaschen faßte, fand er sie angefüllt mit einzelnen Münzen, Kronen und Mark, mit Silber und Gold, das glitzerte und im Lichtschein der nahen Fenster schimmerte. Es schien, daß er jetzt zwei Geldbörsen besaß, und beide waren prall voll. Er band sie auf und fand weitere Goldmünzen. Und noch mehr hatte er in seine Gürteltasche gestopft zwischen und über und neben seine Würfelbecher. Elaynes Brief und das Dokument der Amyrlin waren zerknittert. E r erinnerte sich dunkel daran, einigen Dienerinnen Silbermünzen hingeworfen zu haben, weil sie so nett lächelten oder hübsche Augen oder schöne Beine gehabt hatten und weil Silberpfennige einfach nicht wert waren, daß er sie behielt.

Das Behalten nicht wert? Na ja, vielleicht. Licht, ich bin reich! Ich bin verflucht reich! Vielleicht liegt es an den Aes Sedai und was sie mit mir gemacht haben? Irgendwas bei der Heilbehandlung? Möglicherweise nur ein Zufall. Das könnte sein. Besser das, als die andere Möglichkeit. Das müssen diese verdammten Aes Sedai fertiggebracht haben.

Ein großer Mann kam aus der Taverne heraus. Die Tür schloß sich, bevor er in dem von innen herausdringenden Licht das Gesicht erkennen konnte. Mat drückte sich an die Wand, stopfte die Börsen zurück in seinen Mantel und packte seinen Bauernspieß fester. Wo auch immer sein Glück heute abend herrühren mochte — er wollte nicht riskieren, all sein Gold wieder an einen Räuber zu verlieren.

Der Mann wandte sich ihm zu, starrte ihn mit vorgeschobenem Kopf an und fuhr ein wenig zusammen. »K-kalte Nacht«, stotterte er angetrunken. Er torkelte näher und Mat sah, daß er vor allem fett war. »Ich muß... ich muß... « Der fette Mann ging stolpernd an ihm vorbei die Straße hinauf und führte dabei unzusammenhängende Selbstgespräche.

»Narr!« brummte Mat, aber nicht einmal er war sicher, ob er damit den fetten Mann oder sich selbst meinte. »Zeit, ein Schiff zu finden, das mich hier wegbringt.« Er blinzelte in den schwarzen Himmel und versuchte, zu schätzen, wie lange es noch bis zur Morgendämmerung brauchen würde. Zwei, vielleicht auch drei Stunden, dachte er. »Höchste Zeit.« Sein Magen knurrte. Er konnte sich dunkel daran erinnern, in einer der Schenken gegessen zu haben, aber was, das wußte er nicht mehr. Da hatte ihn noch das Spielfieber in den Klauen gehabt. Er schob eine Hand in die Ledertasche, fand aber nur ein paar Krumen. »Wirklich höchste Zeit. Sonst kommt eine von ihnen an, nimmt mich in die Finger und schiebt mich in ihre Tasche.« Er schubste sich von der Wand weg und ging los in Richtung Hafen, wo er sicher ein Schiff finden konnte.

Zuerst glaubte er, die schwachen Geräusche hinter ihm rührten vom Echo seiner eigenen Stiefelschritte auf den Pflastersteinen her. Dann wurde ihm klar, daß ihm jemand folgte. Und sich bemühte, leise aufzutreten. Na ja, jetzt ist es bestimmt ein Straßenräuber.

Er hob den Bauernspieß und überlegte kurz, ob er sich umdrehen und sich ihm stellen solle. Aber es war dunkel, und auf dem Pflaster rutschte man leicht aus. Außerdem hatte er keine Ahnung, ob es nur einer war oder mehrere. Nur, weil du dich gegen Gawyn und Galad so gut geschlagen hast, bist du noch kein verdammter Held aus irgendeiner Geschichte.

Er ging eine noch engere und gewundene Seitenstraße hinunter. Er bemühte sich, auf Zehenspitzen zu laufen und auch noch schnell dazu. Hier waren alle Fenster dunkel und die meisten mit Läden verschlossen. Er näherte sich schon dem Ende der Straße, da sah er zwei Männer, die an der nächsten Ecke in eine Seitenstraße hineinspähten. Und hinter sich hörte er langsame Schritte, das leichte Schaben von Stiefelsohlen auf dem Kopfsteinpflaster.

Augenblicklich drückte er sich in eine dunkle Ecke, wo ein Gebäude etwas hervorstand. Das schien im Moment das Beste zu sein. Er packte den Bauernspieß und wartete ab.

Ein Mann erschien von der Seite her, von der auch er gekommen war. Geduckt schlich er langsam, Schritt für Schritt, einher. Dann kam noch ein Mann. Beide hielten Messer in der Hand und bewegten sich lauernd.

Mats Muskeln spannten sich. Wenn sie nur noch ein paar Schritte näher kämen, ohne ihn im tieferen Schatten hinter der Hausecke zu entdecken, könnte er sie überraschen. Er wünschte, sein Magen würde sich endlich beruhigen. Diese Messer waren wohl viel kürzer als die Übungsschwerter, aber sie waren aus Stahl und nicht aus Holz.

Einer der Männer blickte angestrengt zum unteren Ende der engen Straße hin und richtete sich plötzlich auf.

Er rief: »Ist er bei Euch auch nicht vorbeigekommen?«

»Ich habe nichts als Schatten gesehen«, kam die Antwort mit einem starken Akzent. »Ich steige aus. Heute nacht treiben sich seltsame Dinge herum.«

Keine vier Schritte von Mat entfernt sahen sich die beiden Männer an, steckten ihre Messer weg und schlenderten zurück, woher sie gekommen waren.

Er atmete langgezogen und erleichtert aus. Glück. Seng mich, aber es hilft nicht nur beim Würfeln. Er konnte die Männer am Ende der Straße auch nicht mehr erkennen, aber er wußte, daß sie sich noch irgendwo in der nächsten Straße befinden mußten. Und natürlich auch die beiden anderen hinter ihm.

Eines der Gebäude, dasjenige, hinter dessen Ecke er sich gedrückt hatte, war hier nur ein Stockwerk hoch und das Dach zeigte nur eine geringe Neigung. Und wo sich die beiden Gebäude berührten, war ein senkrechter Fries aus riesigen Weinreben in den Stein gehauen.

Er schob seinen Bauernspieß hoch bis an die Dachkante und gab ihm einen starken Schubs. Klappernd landete er auf den Dachziegeln. Er sah sich nicht um, ob ihn irgend jemand gehört habe, sondern kletterte an dem Fries hoch. Die großen Blätter boten selbst seinen Stiefeln guten Halt. Nach wenigen Sekunden hatte er seinen Stock wieder in der Hand und schlich über das Dach. Er vertraute auf sein Glück, nicht irgendwo den Halt zu verlieren.

Noch dreimal kletterte er, und jedesmal kam er ein Stockwerk höher. Das leicht geneigte ziegelgedeckte Dach erstreckte sich ein Stück weit auf der gleichen Höhe und hier oben wehte ein leichter Wind, der ihm durch seine Kühle die Nackenhaare sträuben ließ. Beinahe hätte er geglaubt, wieder verfolgt zu werden. Laß das, du Narr! Sie sind längst drei Straßen weiter und schauen sich nach jemand anders mit einer fetten Geldbörse um. Hoffentlich haben sie kein Glück!

Nun rutschte er doch etwas auf den Dachziegeln aus, und so entschied er, daß es wohl besser sei, daran zu denken, wie er wieder auf die Straße hinunter kam. Vorsichtig schlich er an die Dachkante und blickte nach unten. Die leere Straße befand sich gut vierzig Fuß oder tiefer unter ihm. Aus drei Tavernen und einer Speisegaststätte drangen Licht und Musik auf die Straße. Aber ein Stück zu seiner Rechten spannte sich eine Steinbrücke vom obersten Stock seines Gebäudes hinüber zu einem Gebäude auf der anderen Seite.

Die Brücke wirkte furchtbar schmal. Sie erstreckte sich durch völlige Dunkelheit, und es drohte ein langer Absturz auf die harten Pflastersteine. So warf er seinen Stock hinauf und zwang sich dazu, ihm zu folgen, ohne noch lange nachzudenken. Seine Stiefel schlugen auf der Brücke auf, und dann rollte er sich auch schon ab wie einst als Junge, wenn er von einem Baum gefallen war. Er prallte beinahe gegen das hüfthohe Geländer.

»Schlechte Angewohnheiten zahlen sich auf die Dauer doch aus«, sagte er sich beim Aufstehen. Dann hob er seinen Stock auf.

Das Fenster am anderen Ende der Brücke war dicht mit einem Laden verschlossen und dunkel. Er glaubte nicht, daß derjenige, der da drinnen wohnte, gern mitten in der Nacht einen Fremden begrüßen würde. Er konnte viele Verzierungen an der Hauswand erkennen, aber falls es in Reichweite von der Brücke aus irgendwelche Vorsprünge gab, an denen man sich festhalten konnte, wurden sie von der Nacht verborgen. Also, Fremder oder nicht, ich muß hinein! Er wandte sich vom Geländer ab und entdeckte mit einem Mal einen Mann, der sich mit ihm zusammen auf der Brücke befand. Einen Mann mit einem Dolch in der Hand.

Mat faßte nach der Hand, als das Messer auch schon auf seinen Hals zufuhr. Er packte gerade noch das Handgelenk des Burschen mit seinen Fingern, und dann stolperte er über den Bauernspieß und fiel nach hinten gegen das Geländer. Sein Rücken ragte über das Geländer hinweg, und der Mann wurde mitgezogen und lag plötzlich auf ihm. Er konnte sich gerade so eben dort oben halten. Die gefletschten Zähne des Angreifers erreichten beinahe sein Gesicht. Er war sich des tiefen Absturzes nach hinten genauso bewußt wie der im schwachen Mondschein schimmernden Klinge, die sich auf seinen Hals zubewegte. Sein Griff um das Handgelenk des Mannes begann abzurutschen, und seine andere Hand, die den Bauernspieß hielt, war zwischen ihren Körpern eingeklemmt. Nur Sekunden waren vergangen, seit er den Mann entdeckt hatte, und in wenigen Sekunden würde er mit einem Messer in der Kehle sterben.

»Es ist Zeit, die Würfel rollen zu lassen«, ächzte er. Er glaubte, einen Moment lang Verwirrung auf dem Gesicht des anderen zu entdecken, aber dieser Moment reichte ihm. Mit einem gewaltigen Aufbäumen seiner Beine schleuderte Mat sie beide von der Brücke.

Einen endlosen Augenblick lang schien er gewichtslos. Die Luft pfiff an seinen Ohren vorbei und zerzauste sein Haar. Er glaubte, den anderen Mann schreien zu hören, oder es zumindest zu versuchen. Der Aufschlag trieb ihm die Luft aus der Lunge und ließ schwarzsilberne Flecken vor seinen Augen tanzen.

Als er wieder atmen und sehen konnte, wurde ihm klar, daß er oben auf dem Mann lag, der ihn angegriffen hatte. Sein Sturz war vom Körper des anderen gedämpft worden. »Glück gehabt«, flüsterte er. Langsam stand er auf und verfluchte den schmerzenden Fleck, den sein Bauernspieß in der Rippengegend hinterlassen hatte.

Er erwartete, daß der andere Mann tot sei. Nicht viele würden einen Sturz aus dreißig Fuß Höhe auf Pflastersteine überleben, wenn sie noch dazu das Gewicht eines weiteren Mannes tragen mußten. Was er jedoch nicht erwartet hatte, war die Tatsache, daß der Dolch des Burschen nun bis zum Knauf in dessen eigenem Herz steckte. Ein so gewöhnlich und unauffällig wirkender Mann, und der hatte versucht, ihn zu töten. Mat glaubte nicht, daß er ihn in einem vollen Raum überhaupt bemerkt hätte.

»Du hast eben Pech gehabt, mein Junge«, sagte er leicht bebend zu der Leiche. Plötzlich bestürmten ihn alle Erinnerungen an das, was passiert war. Die Straßenräuber in der gewundenen Gasse, das Geklettere über die Dächer, dieser mörderische Bursche, der Sturz... Er blickte hoch zu der Brücke, und das Zittern überfiel ihn. Ich muß verrückt gewesen sein. Ein kleines Abenteuer ist ja schön und gut, aber selbst Rogosh Adlerauge würde so was nicht freiwillig unternehmen. Ihm wurde bewußt, daß er über einen toten Mann gebeugt dastand, der einen Dolch in der Brust stecken hatte. Es mußte nur jemand vorbeikommen und nach den Stadtwachen mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust rufen. Das Dokument der Amyrlin mochte ihn ja in die Lage versetzen, sie wieder loszuwerden, aber möglicherweise erfuhr sie zu schnell davon. Dann würde er vielleicht wieder in der Weißen Burg landen, ohne das Dokument, und man erlaubte ihm künftig nicht einmal mehr, das Burggelände zu verlassen.

Er wußte, daß er sich sofort auf den Weg zum Hafen machen und mit dem erstbesten Schiff lossegeln mußte, und wenn es ein verrotteter Kahn voll toter Fische war, doch seine Knie zitterten noch derart, daß er kaum gehen konnte. Er wollte sich wenigstens eine Minute lang irgendwo hinsetzen. Nur eine Minute, damit seine Knie sich beruhigten, und dann war er unterwegs zum Hafen.

Die Tavernen waren näher, aber er ging doch zu dem Speiselokal hinüber. Der Schankraum in einem Gasthaus war ein gemütlicher Ort, an dem sich ein Mann ausruhen konnte, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wer sich vielleicht von hinten anschlich. Aus den Fenstern fiel genug Licht, daß er das Schild lesen konnte. Eine Frau mit Zöpfen, die, wie er glaubte, einen Olivenzweig in der Hand hielt, und dazu die Worte: ›Die Frau aus Tanchico‹.


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