Egwene kehrte schließlich doch wieder zum Tisch und zu ihrem Tee zurück. Sie glaubte, Elayne habe möglicherweise recht gehabt und sie sei wirklich zu weit gegangen, aber zu einer Entschuldigung konnte sie sich nicht durchringen. So saßen sie schweigend da.
Als Ailhuin zurückkehrte, hatte sie einen Mann dabei, einen hageren Burschen in mittlerem Alter, der aussah, als sei er aus uraltem Holz herausgeschnitzt worden. Juilin Sandar schnallte an der Tür seine Klogs ab und hängte seinen spitzen Strohhut an einen Haken. An seinem Gürtel hing ein Schwertbrecher, ähnlich dem Hurins, aber mit kurzen Schlitzen neben dem langen. Den Gürtel hatte er über seinen braunen Mantel geschnallt. Er trug einen Stock, der genauso lang war wie er selbst, kaum dicker als sein Daumen, und der aus dem gleichen hellen Holz mit den vielen Abschnitten geschnitten war, wie es die Ochsentreiber zum Antreiben ihrer Gespanne benützten. Sein kurzgeschnittenes Haar lag glatt am Kopf an, und seine flinken, dunklen Augen schienen jede Einzelheit im Raum mit einem Blick wahrzunehmen. Und jeden der Anwesenden. Egwene hätte wetten können, daß er Nynaeve zweimal genauer gemustert hatte, und zumindest für sie war die Tatsache, daß Nynaeve keinerlei Reaktion zeigte, recht aufschlußreich. Ganz offensichtlich hatte Nynaeve alles mitbekommen.
Ailhuin wies ihn zu einem Platz am Tisch. Er stülpte seine Manschetten an den Jackenärmeln hoch, verbeugte sich vor jeder von ihnen und setzte sich hin, den Stock an die Schulter gelehnt. Er sagte nichts, bis die grauhaarige Frau eine frische Kanne Tee bereitet und alle erst einmal an ihren Tassen genippt hatten.
»Mutter Guenna hat mir von Eurem Problem berichtet«, sagte er ruhig, als er seine Tasse abstellte. »Ich helfe Euch, wenn ich kann, aber es kann sein, daß mich die Hochlords bald auf einen eigenen Fall ansetzen.«
Die große Frau schnaubte. »Juilin, seit wann fängst du an, wie ein Ladenbesitzer zu feilschen, der versucht, Leinen zum Preis von Seide zu verkaufen? Behaupte bitte nicht, du wüßtest, wann dich die Hochlords auf einen Fall ansetzen, bevor sie es selbst wissen.«
»Das behaupte ich auch nicht«, erklärte ihr Sandar lächelnd, »aber ich weiß, wann ich Männer nachts auf den Dächern gesehen habe. Nur so aus dem Augenwinkel — sie sind in der Lage, sich so gut zu verbergen wie ein Röhrenfisch im Tang —, aber ich habe die Bewegung beobachtet. Keiner hat bisher einen Diebstahl gemeldet, aber es sind Diebe innerhalb der Mauern unterwegs, darauf könnt Ihr wetten! Denkt an mich, wenn ich in nicht einmal einer Woche in den Stein gerufen werde, weil eine Diebesbande in die Häuser von Kaufleuten oder sogar in die Herrenhäuser der Lords einbricht. Die Verteidiger bewachen vielleicht die Straßen, aber wenn es Diebe zu verfolgen gilt, rufen sie einen Diebfänger, und das heißt, zu allererst rufen sie mich. Ich versuche nicht, meinen Preis hinaufzutreiben, aber was ich auch für diese hübschen Frauen tun kann: Es muß bald geschehen.«
»Ich glaube, er sagt die Wahrheit«, meinte Ailhuin zögernd. »Er wird Euch zwar erzählen, der Mond sei grün und das Wasser weiß, wenn er glaubt, es brächte ihm einen Kuß ein, aber er lügt nicht so oft wie andere Männer, wenn es um anderes geht. Er ist vielleicht der ehrlichste Mann, der je im Mauleviertel geboren wurde.« Elayne hielt sich eine Hand vor den Mund, und Egwene kämpfte mit dem Lachen. Nynaeve saß unbewegt und offensichtlich ungeduldig da.
Sandar schnitt der grauhaarigen Frau eine Grimasse und entschloß sich dann wohl, das Gesagte zu ignorieren. Er lächelte Nynaeve an. »Ich gebe zu, daß ich in bezug auf diese Diebinnen neugierig bin. Ich habe schon mit Diebinnen zu tun gehabt und auch mit Diebesbanden, aber ich habe noch nie von einer weiblichen Diebesbande gehört. Und ich schulde Mutter Guenna den einen oder anderen Gefallen.« Seine Blicke schienen Nynaeve erneut abzuschätzen.
»Was verlangt Ihr dafür?« fragte sie scharf.
»Wenn ich gestohlene Güter wiederfinden soll«, antwortete er knapp, »verlange ich den zehnten Teil des Werts der Güter, die ich wieder beschaffe. Wenn ich Menschen aufspüren soll, verlange ich eine Silbermark pro Person. Mutter Guenna sagt, die gestohlenen Sachen wären wenig wert, außer für Euch, gute Frau, also schlage ich vor, daß Ihr mir diese zum Auftrag macht.« Er lächelte wieder. Seine Zähne waren blendend weiß. »Ich würde Euch überhaupt kein Geld abnehmen, aber das würde die Bruderschaft nicht gern sehen. So nehme ich halt so wenig es nur geht. Eine Kupfermünze oder zwei, mehr nicht.«
»Ich kenne einen Diebfänger«, sagte Elayne zu ihm. »Aus Schienar. Ein äußerst respektvoller Mensch. Er trägt sowohl Schwert, wie auch Schwertbrecher. Warum tut Ihr das nicht?«
Sandar blickte einen Moment lang verwirrt drein, und dann schien er sich über die eigene Verwirrung zu ärgern.
Er hatte entweder ihre Andeutung nicht verstanden, oder sich entschlossen, sie nicht zu beachten. »Ihr kommt nicht aus Tear. Ich habe von Schienar gehört, gute Frau — Geschichten von Trollocs und daß jeder Mann dort ein Krieger sei.« Seinem Lächeln nach betrachtete er so etwas als Märchen.
»Wahre Geschichten«, sagte Egwene. »Oder jedenfalls wahr genug. Ich war schon in Schienar.«
Er blinzelte kurz und fuhr fort: »Ich bin kein Lord und kein reicher Kaufmann, aber eben auch kein Soldat. Die Verteidiger machen Ausländern nicht viel Schwierigkeiten, wenn sie Schwerter tragen, außer natürlich, sie wollen sich sehr lange hier aufhalten. Aber mich würde man in eine der Zellen unter dem Stein stecken. Es gibt da Gesetze, gute Frau.« Wie unbewußt streichelte er mit der Hand seinen Stock. »Ich kann ganz gut auch ohne Schwert auskommen.« Er widmete sein Lächeln wieder Nynaeve allein. »Und jetzt beschreibt mir doch bitte diese Sachen... «
Er brach ab, als sie ihre Börse an die Tischkante stellte und dreizehn Silbermark abzählte. Egwene war der Meinung, sie habe die leichtesten Münzen ausgewählt. Die meisten kamen aus Tear, nur eine aus Andor. Die Amyrlin hatte ihnen eine Menge Gold mitgegeben, aber selbst das würde nicht auf ewig reichen. Nynaeve blickte noch einmal nachdenklich in ihre Börse, bevor sie den Riemen wieder verschnürte und sie in ihre Gürteltasche zurücksteckte. »Es sind dreizehn Frauen, die Ihr finden sollt, Meister Sandar, und Ihr bekommt noch einmal genausoviel Silber, wenn Ihr sie wirklich gefunden habt. Spürt sie auf, und wir holen uns unser Eigentum selbst wieder.«
»Das besorge ich selber und für weniger als das hier«, protestierte er. »Und Extrabelohnungen sind nicht nötig. Ich verlange, was ich eben verlange. Ihr müßt keine Angst haben, daß ich bestechlich sei.«
»Das ist nicht zu befürchten«, stimmte Ailhuin ihm zu. »Ich sagte doch, er ist ehrlich. Ihr dürft ihm nur nicht glauben, wenn er behauptet, er liebe Euch.« Sandar funkelte sie an.
»Ich bezahle dafür, Meister Sandar«, sagte Nynaeve entschlossen, »und deshalb bestimme ich, was ich kaufen will. Werdet Ihr diese Frauen aufspüren und nichts weiter?« Sie wartete, bis er nickte, wenn auch widerwillig, bevor sie fortfuhr: »Sie halten sich vielleicht beieinander auf, vielleicht aber auch nicht. Die erste ist aus Tarabon. Sie ist ein wenig größer als ich, hat dunkle Augen und helles, honigfarbenes Haar, das sie, wie es in Tarabon Mode ist, zu vielen kleinen Zöpfen geflochten trägt. Die Männer würden sie wohl hübsch finden, aber sie betrachtet so etwas nicht als Kompliment. Sie hat einen gemeinen Schmollmund. Die zweite kommt aus Kandor. Sie hat langes, schwarzes Haar mit einer weißen Strähne über dem linken Ohr und... «
Sie nannte keine Namen, und Sandar fragte nicht danach. Namen konnte man so leicht ändern. Nun, da es um Geschäftliches ging, war sein Lächeln verschwunden. Dreizehn Frauen beschrieb sie, und er hörte aufmerksam zu. Als sie fertig war, war Egwene sicher, daß er die Beschreibungen von vorne bis hinten genau wiedergeben könne.
»Mutter Guenna hat Euch das vielleicht schon gesagt«, beendete Nynaeve ihren Vortrag, »aber ich wiederhole es noch mal: Diese Frauen sind gefährlicher, als Ihr glaubt! Soviel ich weiß, sind schon mehr als ein Dutzend Menschen durch ihre Hand gestorben, und ich wäre nicht überrascht, wenn das nur einen Tropfen Blut an ihren Händen darstellte.« Sandar und Ailhuin rissen die Augen auf. »Wenn sie merken, daß Ihr sie sucht, werdet Ihr sterben. Wenn sie Euch fangen, werden sie Euch zwingen, ihnen zu sagen, wo wir sind, und Mutter Guenna wird wahrscheinlich zusammen mit uns sterben.« Die grauhaarige Frau blickte ungläubig drein. »Glaubt es nur!« Nynaeves warnender Blick heischte Zustimmung. »Glaubt es, oder ich nehme das Silber wieder an mich und suche mir einen anderen Diebfänger mit mehr Hirn!«
»Als ich jung war«, sagte Sandar mit ernster Stimme, »hat mir eine Taschendiebin ein Messer in die Rippen gerannt, weil ich glaubte, ein hübsches junges Mädchen wäre damit nicht so schnell zur Hand wie ein Mann. Den Fehler begehe ich nie mehr. Ich werde mich verhalten, als seien all diese Frauen Aes Sedai und Schwarze Ajah.« Egwene hätte sich beinahe verschluckt. Er grinste verlegen, als er die Münzen aufsammelte und in seine Börse leerte, die er dann hinter die Schärpe steckte, die er als Gürtel trug. »Ich wollte Euch nicht erschrecken, gute Frau. Es sind keine Aes Sedai in Tear. Es kann ein paar Tage dauern, wenn sie nicht gerade alle zusammen sind. Dreizehn Frauen auf einmal sind leicht zu finden; getrennt wird es schwieriger. Aber ich werde sie so oder so finden. Und ich werde sie auch nicht vergraulen, bevor Ihr nicht wißt, wo sie sich aufhalten.«
Als er den Strohhut aufgesetzt und die Klogs angeschnallt hatte und aus der Hintertür verschwunden war, sagte Elayne: »Ich hoffe, er überschätzt sich nicht. Ailhuin, ich hörte, was er sagte, aber... Er hat doch begriffen, daß sie gefährlich sind, oder?«
»Er hat sich noch nie zum Narren gemacht, außer für ein hübsches Augenpaar und ein paar schlanke Fesseln«, sagte die grauhaarige Frau. »Das ist ja wohl die Schwäche jeden Mannes. Er ist der beste Diebfänger in ganz Tear. Seid unbesorgt. Er wird Eure Schattenfreunde finden.«
»Es wird noch vor Tagesanbruch wieder regnen.« Nynaeve schauderte trotz der Wärme im Raum. »Ich fühle, wie sich ein Sturm zusammenbraut.« Ailhuin schüttelte nur den Kopf und machte sich daran, Teller mit Fischsuppe auszuteilen.
Nachdem sie gegessen und alles weggeräumt hatten, setzten sich Nynaeve und Ailhuin an den Tisch und unterhielten sich über Kräuter und Heilmittel. Elayne arbeitete an einer Stickerei am Schulterteil ihres Umhangs, mit der sie auf dem Schiff begonnen hatte. Sie stickte winzige blaue und weiße Blumen darauf. Danach las sie in den Essays des Willim von Manaches. Ailhuin hatte das in einem kleinen Bücherregal stehen gehabt. Egwene versuchte auch, zu lesen, doch weder die Essays, noch die Reisen des Jaim Fernstreicher, noch die heiteren Erzählungen von Aleria Elffin konnten ihre Aufmerksamkeit mehr als ein paar Seiten lang fesseln. Sie befühlte den steinernen Ter'Angreal durch den Stoff ihres Kleides hindurch. Wo sind sie? Was wollen sie im Herz? Niemand außer dem Drachen, niemand außer Rand kann Callandor berühren. Was wollen sie also? Was? Was?
Als sich die Nacht immer tiefer über Tear senkte, führte Ailhuin jede in ein eigenes Zimmer im zweiten Stock. Doch nachdem sie sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, trafen sich die drei im Schein einer einzigen Lampe in Egwenes Zimmer. Egwene hatte sich bereits bis auf das Hemd ausgezogen. Die Schnur mit den beiden Ringen hing um ihren Hals. Der gestreifte Steinring war viel schwerer als der aus Gold. Sie taten nun, was sie jeden Abend seit ihrer Abreise aus Tar Valon getan hatten, außer in einer einzigen Nacht bei den Aiel.
»Weckt mich in einer Stunde auf«, sagte sie ihnen.
Elayne runzelte die Stirn. »Diesmal nach so kurzer Zeit?«
»Bist du nervös?« fragte Nynaeve. »Vielleicht benützt du ihn zu oft.«
»Wir wären immer noch in Tar Valon beim Töpfe Schrubben und hofften, eine Schwarze Schwester zu finden, bevor uns ein Grauer Mann findet, wenn ich ihn nicht benützen würde«, sagte Egwene in scharfem Ton. Licht, Elayne hat recht. Ich benehme wie ein ungezogenes Kind. Sie atmete tief durch. »Vielleicht bin ich wirklich übernervös. Das liegt möglicherweise daran, daß wir uns jetzt so nahe beim Herz des Steins befinden. So nahe bei Callandor. Und auch der Falle so nahe, was immer das sein mag.«
»Sei vorsichtig«, sagte Elayne und Nynaeve sagte etwas leiser: »Sei sehr vorsichtig, Egwene. Bitte!« Sie zog in kurzen Rucken an ihrem Zopf.
Egwene legte sich auf das niedrige Bett. Sie nahmen auf Hockern zu beiden Seiten des Betts Platz. Donner rollte über den Himmel. Der Schlaf kam nur langsam.
Wieder befand sie sich zwischen den sanften Hügeln, und wie zuerst immer sah sie die Blumen und die Schmetterlinge unter der Frühlingssonne. Eine sanfte Brise wehte, und die Vögel sangen. Diesmal trug sie grüne Seide. Auf die Brust waren goldene Vögel gestickt. Dazu hatte sie grüne Samtpantoffeln an. Der Ter'Angreal schien leicht genug, um aus ihrem Kleid herauszuschweben. Nur das Gewicht des Rings mit der Großen Schlange hielt ihn fest.
Sie hatte es anfangs ausprobieren müssen, aber mittlerweile hatte sie einige Gesetzmäßigkeiten von Tel'aran'rhiod kennengelernt. Sogar diese Welt der Träume, diese Unsichtbare Welt, hatte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, wenn auch vielleicht eigenartige. Sie war sicher, noch nicht einmal den zehnten Teil davon zu kennen. Wenigstens kannte sie einen Weg, um dahin zu kommen, wohin sie wollte. Sie schloß die Augen und entleerte ihren Geist, so wie sie es getan hätte, um nach Saidar zu greifen. Es war nicht ganz so leicht, denn die Rosenknospe versuchte ständig, sich zu materialisieren, und sie spürte deutlich die Wahre Quelle, sehnte sich nach deren Berührung, doch diesmal mußte sie die Leere mit etwas anderem füllen. Sie stellte sich das Herz des Steins vor, so, wie sie es in all den Träumen gesehen hatte, malte es sich in allen Einzelheiten aus, vollkommen inmitten des Nichts. Die riesigen, matt glänzenden Sandsteinsäulen. Die vom Alter gezeichneten Steinplatten des Fußbodens. Die Kuppel hoch droben. Das Kristallschwert, unberührbar, das sich langsam mitten in der Luft mit dem Knauf nach unten um sich selbst drehte. Als es so wirklich schien, daß sie sicher war, es berühren zu können, öffnete sie die Augen, und sie war dort im Herzen des Steins. Oder zumindest im Herzen des Steins, wie es in Tel'aran'rhiod existierte.
Die Säulen waren da und auch Callandor. Und um das glitzernde Schwert herum, so trüb und durchscheinend wie Schatten, saßen dreizehn Frauen mit übergeschlagenen Beinen und betrachteten Callandor beim Rotieren. Die Frau mit dem honigfarbenen Haar — Liandrin — drehte den Kopf und sah Egwene mit diesen großen, dunklen Augen direkt ins Gesicht. Ihr Schmollmund lächelte.
Keuchend schoß Egwene so schnell in ihrem Bett hoch, daß sie beinahe hinausgefallen wäre.
»Was ist los?« wollte Elayne wissen. »Was ist passiert? Du siehst verängstigt aus.«
»Du hast gerade erst die Augen zugemacht«, sagte Nynaeve leise. »Das ist das erste Mal seit dem Beginn, daß du zurückkommst und wir dich nicht wecken müssen. Es ist etwas geschehen, nicht wahr?« Sie rupfte wieder an ihrem Zopf. »Geht es dir gut?«
Wie bin ich zurückgekommen? fragte sich Egwene. Licht, ich weiß nicht einmal, wie ich das angestellt habe. Es war ihr klar, daß sie nur vor sich herschob, was sie doch sagen mußte. Sie löste die Schnur an ihrem Hals und nahm den Ring mit der Großen Schlange und den größeren, verdrehten Ter'Angreal auf die Hand. »Sie warten auf uns«, sagte sie schließlich. Es war nicht nötig, zu erwähnen, wen sie meinte. »Und ich glaube, sie wissen, daß wir in Tear sind.«
Draußen brach der Sturm über die Stadt herein. Der Regen trommelte auf das Deck über seinem Kopf. Mat blickte auf das Spielbrett auf dem Tisch zwischen ihm und Thom. Aber er konnte sich nicht recht auf das Spiel konzentrieren, obwohl er eine andoranische Silbermark gesetzt hatte. Donner rollte, und hinter den kleinen Kajütenfenstern zuckte ein Blitz auf. Vier Lampen beleuchteten die Kapitänskajüte der Segler. Das verdammte Schiff mag ja so schlank wie ein Vogel sein, aber es braucht immer noch verdammt zu lange! Das Schiff ruckte ein wenig und dann noch einmal. Die Vorwärtsbewegung schien sich zu verändern. Er sollte uns besser nicht auf eine verfluchte Schlammbank setzen! Wenn er nicht so schnell wie möglich mit dem Butterfaß weitersegelt, werde ich ihm das Gold in den Hals stopfen! Er gähnte. Seit sie Caemlyn verlassen hatten, hatte er nicht gut geschlafen, weil er zuviel gegrübelt und sich Sorgen gemacht hatte. Gähnend rückte er einen weißen Stein auf einen Kreuzungspunkt zweier Linien. Drei weitere Züge, und er würde fast ein Fünftel von Thoms schwarzen Steinen auf einmal schlagen können.
»Du könntest ein guter Spieler sein, Junge«, sagte der Gaukler mit der Pfeife im Mund, während er seinen nächsten Zug machte, »wenn du mit dem Kopf dabei wärst.« Sein Tabak roch nach Blättern und Nüssen.
Mat nahm einen weiteren Stein vom Stapel neben seinem Ellenbogen, zwinkerte dann aber und ließ ihn liegen. Mit den gleichen drei Zügen würde Thom ein Drittel seiner Steine umstellen und blockieren. Er hatte das nicht kommen sehen, und er fand keinen Ausweg. »Verlierst du jemals ein Spiel? Hast du jemals ein Spiel verloren?«
Thom nahm die Pfeife aus dem Mund und strich sich über den Schnurrbart. »Ziemlich lange schon nicht mehr. Morgase hat mich damals ungefähr jedes zweite Mal geschlagen. Man sagt ja, gute Offiziere und gute Spieler des Großen Spiels seien auch gut bei solchen Brettspielen. Das trifft alles auf sie zu, und ich wette, sie könnte auch ein Heer in der Schlacht führen.«
»Möchtest du nicht lieber noch ein wenig würfeln? Das hier dauert immer so lange.«
»Ich suche lieber hier meine Gelegenheit zu gewinnen. Beim Würfeln würde ich vielleicht einmal bei neun oder zehn Würfen gewinnen«, sagte der weißhaarige Mann trocken.
Mat sprang hastig auf, als die Tür aufschlug und Kapitän Derne hereinkam. Der Mann mit dem kantigen Gesicht riß sich den Umhang von den Schultern und schüttelte erst einmal das Wasser heraus. Er fluchte leise in sich hinein. »Das Licht soll meine Knochen versengen, aber ich weiß nicht, wieso ich Euch jemals die Segler chartern ließ. Immer wollt Ihr noch schneller vorankommen, ob in der dunkelsten Nacht oder bei schwerstem Regen. Schneller. Immer noch schneller! Wir hätten schon hundertmal auf eine blutige Schlammbank laufen können!«
»Ihr wolltet das Gold haben«, sagte Mat grob. »Ihr habt behauptet, dieser alte Holzhaufen sei schnell, Derne. Wann erreichen wir Tear?«
Der Kapitän lächelte verkrampft. »Wir machen gerade eben am Kai von Tear fest. Und ich will ein verdammter Bauer sein, wenn ich mich jemals wieder zu so etwas überreden lasse! Also, wo ist der Rest von meinem Gold?«
Mat eilte zu einem der kleinen Fenster und spähte hinaus. Im grellen Licht der Blitze konnte er eine nasse Hafenmauer erkennen und sonst nichts. Er zog den zweiten Beutel mit Gold aus der Tasche und warf ihn Derne zu. Wer hat je von einem Flußschiffer gehört, der nicht würfeln wollte? »Wird auch Zeit«, grollte er. Licht, gib, daß es nicht zu spät ist.
Er hatte seine gesamte Ersatzkleidung mitsamt den Decken in die Ledertasche gestopft, und die hängte er sich um. Auf die andere Seite kam die Rolle mit Feuerwerkskörpern, an der er einfach eine Schnur befestigt hatte. Sein Umhang kam über alles drüber, auch wenn er vorn ein Stückchen offenstand. Besser, er wurde naß, als die Feuerwerkskörper. Er würde wieder trocknen, ohne Schaden zu erleiden, doch ein Versuch mit einem Eimer hatte bewiesen, daß die Feuerwerkskörper Nässe nicht überstanden. Ich schätze, Rands Pa hat recht gehabt. Mat hatte immer geglaubt, der Gemeinderat habe das Feuerwerk nicht im Regen hochgehen lassen, weil es an einem klaren Abend viel besser sichtbar sein würde.
»Bist du nicht langsam soweit, die Dinger zu verkaufen?« Thom legte sich den Gauklerumhang um. Er bedeckte seine Instrumente in ihren Lederbehältern, aber das Bündel mit Kleidung und Decken hängte er obendrauf über seinen Rücken.
»Erst, wenn ich herausbekommen habe, wie sie funktionieren, Thom. Außerdem, denk mal, was für ein Spaß das wird, wenn ich sie alle loslasse.«
Der Gaukler schauderte. »Solange du nicht alle auf einmal abschießt, Junge. Solange du sie nicht beim Abendessen in den Kamin wirfst. Das traue ich dir zu, so, wie du dich seither benommen hast. Du hattest Glück, daß uns der Kapitän vor zwei Tagen nicht vom Schiff geworfen hat.«
»Das hätte er nicht«, lachte Mat. »Nicht, solange er noch einen Beutel Gold zu bekommen hatte. Ja, Derne?«
Derne ließ den Beutel in seiner Hand hüpfen. »Ich habe zuvor nicht danach gefragt, aber jetzt habt Ihr mir das Gold gegeben und nehmt es auch nicht mehr zurück. Worum geht es hier eigentlich? Warum diese verfluchte Eile?«
»Eine Wette, Derne.« Gähnend nahm Mat seinen Bauernspieß in die Hand und war landfertig. »Eine Wette.«
»Eine Wette?« Derne sah den schweren Beutel an. Der andere, genauso schwere, war in seiner Geldtruhe verstaut. »Da muß aber ein verdammtes Königreich auf dem Spiel stehen!«
»Mehr als das«, sagte Mat.
Der Regen prasselte so stark auf das Deck nieder, daß Mat nicht einmal die Laufplanke sehen konnte, außer, wenn gerade ein neuer Blitz über die Stadt hinwegzuckte.
Das Trommeln und Rauschen des Wolkenbruchs ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Aber wenigstens konnte er Lichter in Fenstern ein Stück die Straße hinunter erkennen. Dort würde es sicherlich Schenken geben. Der Kapitän war nicht mehr mit an Deck gekommen, um sie zu verabschieden, und auch niemand von der Besatzung war draußen im Regen geblieben. Mat und Thom marschierten allein zum Kai hinüber.
Mat fluchte, als seine Stiefel in den Schlamm der Straße einsanken, aber das half nun nichts. Also ging er mühsam weiter, so schnell er konnte. Das Ende seines Stocks blieb bei jedem Schritt im Matsch stecken. Die Luft roch trotz des Regens nach Fisch und Fäule. »Wir suchen uns eine Schenke«, sagte er laut, daß man ihn hören konnte, »und dann mache ich mich auf die Suche.«
»Bei diesem Wetter?« schrie Thom zurück. Regen rann ihm über das Gesicht, aber es war ihm wichtiger, daß seine Instrumentenbehälter trocken blieben, als sein Gesicht.
»Comar hat Caemlyn vielleicht schon vor uns verlassen. Wenn er ein gutes Pferd hatte und nicht solche lahmen Krähen wie wir, kann er sich einen ganzen Tag vor uns in Aringill eingeschifft haben. Ich weiß nicht, wieviel von diesem Vorsprung wir durch diesen Idioten Derne aufgeholt haben.«
»Es war eine schnelle Fahrt«, räumte Thom ein. »Die Segler hat ihrem Namen alle Ehre gemacht.«
»Wie auch immer, Thom, Regen oder nicht: Ich muß ihn finden, bevor er Egwene und Nynaeve und Elayne findet.«
»Ein paar Stunden mehr machen auch keinen Unterschied, Junge. In einer Stadt von der Größe Tears gibt es Hunderte von Schenken. Außerhalb der Mauer stehen vielleicht noch mal hundert mehr, und manche davon werden klein sein und kaum mehr als ein Dutzend Zimmer vermieten. So klein jedenfalls, daß wir an ihnen vorbeilaufen und gar nicht merken würden, daß sie da sind.« Der Gaukler zog die Kapuze an seinem Umhang noch ein wenig weiter nach vorn und knurrte in sich hinein: »Es wird Wochen dauern, um alle abzusuchen. Aber Comar wird genauso Wochen brauchen. Wir können die Nacht in Sicherheit vor dem Regen verbringen. Du kannst jede übriggebliebene Münze darauf verwetten, daß Comar nicht hier draußen ist.«
Mat schüttelte den Kopf. Eine winzige Schenke mit einem Dutzend Zimmer. Bevor er Emondsfeld verlassen hatte, war die Schenke ›Zur Weinquelle‹ das größte Gebäude gewesen, das er jemals gesehen hatte. Er zweifelte daran, daß Bran al'Vere mehr als ein Dutzend Zimmer zu vermieten hatte. Egwene hatte mit ihren Eltern und ihren Schwestern in den vorderen Zimmern im zweiten Stock gewohnt. Seng mich, manchmal glaube ich, keiner von uns hätte Emondsfeld verlassen sollen. Aber Rand hatte wohl nicht anders gekonnt, und Egwene wäre möglicherweise gestorben, wenn sie nicht nach Tar Valon gekommen wäre. Und jetzt stirbt sie vielleicht, weil sie dorthin ging. Er glaubte nicht, sich noch einmal an das Bauernleben gewöhnen zu können. Kühe und Schafe konnten ganz gewiß nicht Zocken. Aber Perrin hatte noch eine Möglichkeit, nach Hause zu gehen. Geh heim, Perrin, dachte er unwillkürlich. Geh heim, solange du noch kannst. Er schüttelte sich. Narr! Warum sollte er? Er dachte an ein Bett, schob den Gedanken aber beiseite. Noch nicht.
Blitze zuckten über den Himmel, gleich drei gezackte Lichtspuren auf einmal, und sie warfen ihr grelles Licht auf ein schmales Haus, bei dem in den Fenstern Kräuterbündel zu hängen schienen. Daneben befand sich ein Laden, dicht verrammelt natürlich, aber es war anscheinend ein Töpfergeschäft, dem Schild mit den Schüsseln und Tellern nach zu schließen. Gähnend zog er die Schultern des Regens wegen noch mehr ein und bemühte sich, die Stiefel etwas schneller aus dem Matsch der Straße zu ziehen.
»Ich glaube, diesen Stadtteil können wir vergessen, Thom«, schrie er. »Dieser ganze Matsch und der Gestank nach Fisch. Kannst du dir vorstellen, daß Nynaeve und Egwene — oder Elayne — hier wohnen wollen? Frauen wollen Ordnung und Sauberkeit, Thom, und gut soll es riechen.«
»Vielleicht, Junge«, murmelte Thom und dann hustete er. »Du wärst überrascht, womit sich Frauen abfinden können. Aber vielleicht hast du recht.«
Mat hielt seinen Umhang schützend über die Rolle mit den Feuerwerkskörpern und machte noch längere Schritte. »Komm weiter, Thom. Ich will Comar oder die Mädchen heute abend noch finden — entweder den einen oder die anderen.«
Thom hinkte hinter ihm her und hustete von Zeit zu Zeit.
Sie schritten durch das breite, nun, im Regen, unbewachte Stadttor, und Mat war froh, endlich wieder Pflaster unter den Füßen zu haben. Und nicht mehr als fünfzig Schritt weiter oben stand eine Schenke. Aus den Fenstern des Schankraums drang Lichtschein auf die Straße. Musik erklang von drinnen. Selbst Thom legte die letzten fünfzig Schritte trotz Regens schnell zurück, ob er nun hinkte oder nicht.
Der ›Weiße Halbmond‹ hatte einen Wirt, dessen Figur den Mantel unterhalb der Gürtellinie genauso ausfüllte wie oberhalb, im Gegensatz zu den meisten Männern, die auf den niedrigen Stühlen an den Tischen saßen. Mat hatte das Gefühl, die Pumphosen des Mannes, die an den Knöcheln über seinen Halbschuhen zugebunden waren, hätten gereicht, daß in jedem Hosenbein ein normaler Mann voll und ganz Platz gefunden hätte. Die Dienerinnen trugen dunkle Kleider mit hohem Kragen und kurze, weiße Schürzen darüber. Zwischen den beiden gemauerten Kaminen saß ein Mann und spielte am Hackbrett. Thom beäugte den Mann kritisch und schüttelte den Kopf.
Der säulenartige Wirt, Cavan Lopar hieß er, war mehr als froh, ihnen Zimmer vermieten zu dürfen. Er runzelte wohl die Stirn, als er ihre schmutzigen Stiefel sah, aber Silber aus Mats Geldbeutel — das Gold wurde darin nun immer weniger — und ein Blick auf Thoms flickenbedeckten Umhang ließen die Stirnfalten schnell verschwinden. Als Thom sagte, er werde gegen eine kleine Gebühr ein paar Abende lang auftreten, wackelte Lopars Mehrfachkinn vor Freude. Von einem großen Mann mit einer weißen Strähne im Bart wußte er nichts und auch nichts von den drei Frauen, die ihm Mat beschrieb. Mat ließ alles bis auf seinen Umhang und den Bauernspieß in seinem Zimmer. Er hatte kaum hingesehen, ob überhaupt ein Bett darin stand. Schlaf war wohl verlockend, aber er weigerte sich, dem Bedürfnis nachzugeben. Dann schlang er ein gut gewürztes Fischhaschee herunter und hastete wieder in den Regen hinaus. Er war überrascht, daß Thom mitkam.
»Ich dachte, du wolltest im Trockenen bleiben, Thom.«
Der Gaukler tätschelte den Flötenkasten, den er noch unter dem Umhang trug. Der Rest seiner Sachen befand sich auch oben im Zimmer. »Die Menschen sprechen gern mit einem Gaukler, Junge. Ich erfahre vielleicht Dinge, die du nicht zu hören bekommst. Ich will genauso wenig wie du, daß diesen Mädchen etwas geschieht.«
Hundert Schritt weiter die überflutete Straße entlang und auf der anderen Seite befand sich eine weitere Schenke, noch mal zweihundert Schritt weiter wieder eine, und danach kamen noch mehr. Mat klapperte eine nach der anderen ab. Sie traten kurz ein, Thom breitete seinen Umhang aus und erzählte eine Geschichte, und dann ließ er sich von irgend jemand zu einem Becher Wein einladen, während Mat nach einem großen Mann mit weißer Strähne im kurzgeschnittenen Bart und nach drei Frauen fragte. Er gewann beim Würfeln ein paar Münzen, erfuhr aber nichts, genausowenig wie Thom. Er war froh darüber, daß der Gaukler in jeder Schenke nur ein paarmal an seinem Wein nippte. Auf dem Schiff hatte Thom praktisch nichts getrunken, aber Mat war nicht sicher, ob er in Tear nicht doch wieder zum Säufer werden würde. Als sie schließlich zwei Dutzend Schankräume durchgemacht hatten, waren Mats Lider bleischwer. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber immer noch fielen stetig große Tropfen vom Himmel, und der Wind hatte mit dem Nachlassen des Regens aufgefrischt. Der Himmel färbte sich dunkelgrau in der Ankündigung der nahenden Morgendämmerung.
»Junge«, knurrte Thom, »wenn wir jetzt nicht zum ›Weißen Halbmond‹ zurückkehren, dann schlafe ich hier im Regen ein.« Er unterbrach sich und hustete. »Hast du gemerkt, daß du an drei Schenken vorbeimarschiert bist? Licht, ich bin so müde, daß ich nicht mehr denken kann. Hast du irgendein System bei deiner Suche, von dem du mir nichts erzählt hast?«
Mat starrte mit müden Augen die Straße hoch auf einen hochgewachsenen Mann, der um die Ecke eilte. Licht, bin ich müde. Und Rand befindet sich fünfhundert Wegstunden von hier und spielt weiterhin den verfluchten Drachen. »Was? Drei Schenken?« Sie standen fast genau vor dem Eingang einer weiteren. ›Der Goldene Becher‹ stand auf dem Schild, das im Wind knarrte. Es sah wohl nicht wie ein Würfelbecher aus, aber er entschloß sich zu einem neuen Versuch. »Noch eine, Thom. Wenn wir sie hier nicht finden, gehen wir zurück und ins Bett.« Das Wort ›Bett‹ klang nun schöner als ein Würfelspiel mit einem Einsatz von hundert Goldmark. Trotzdem zwang er sich hineinzugehen.
Nach zwei Schritten in den Schankraum hinein sah Mat ihn. Der große Mann trug einen grünen Mantel mit blauen Längsstreifen an den Puffärmeln. Es war ganz sicher Comar mit seinem kurzgeschnittenen Bart mit der weißen Strähne über dem Kinn und so. Er saß auf einem dieser Stühle mit seltsam niedriger Lehne an einem Tisch auf der anderen Seite des Raums, schüttelte einen ledernen Würfelbecher und lächelte den ihm gegenübersitzenden Mann an. Dieser Bursche trug einen langen Mantel und Pumphosen, und er lächelte nicht. Er blickte auf die Münzen auf dem Tisch herab, als wünsche er sie in seinen Geldbeutel zurück. Ein weiterer Würfelbecher stand neben Comar.
Comar entleerte den Würfelbecher und lachte schon, bevor die Würfel liegen blieben. »Wer ist der nächste?« rief er laut und zog den Einsatz zu sich herüber. Es stapelte sich bereits ein beachtlicher Haufen von Silbermünzen vor ihm. Er schob die Würfel in den Becher und rasselte mit ihnen. »Sicher möchte jemand anders sein Glück versuchen?« Es schien, daß keiner wollte, doch er schüttelte weiter und lachte.
Der Wirt war leicht herauszufinden, auch wenn die Wirte in Tear keine Schürzen zu tragen schienen. Seine Jacke war von der gleichen dunkelblauen Farbe wie die jedes Wirts, mit dem Mat gesprochen hatte. Ein molliger Mann, wenn auch höchstens vom halben Umfang Lopars und mit der Hälfte von dessen Kinnwülsten. Er saß für sich an einem Tisch, polierte mit zornigen Bewegungen einen Zinnkrug und schaute wütend zu Comar hinüber — allerdings nur, wenn der nicht herschaute. Auch einige andere Männer blickten den bärtigen Mann aufgebracht von der Seite her an. Aber nicht, wenn er herschaute.
Mat unterdrückte seinen ersten Impuls, zu Comar hinüberzurennen, ihm mit dem Bauernspieß eins über den Kopf zu braten und zu fragen, wo Egwene und die anderen seien. Hier stimmte etwas nicht. Comar war der erste Mann heute nacht, der ein Schwert trug, aber so, wie ihn die Männer ansahen, fürchteten sie nicht nur den Schwertkämpfer. Selbst die Dienerin, die Comar einen neuen Becher Wein brachte und als Dank für ihre Bemühungen in den Hintern gekniffen wurde, hatte nur ein hysterisches Lachen für ihn übrig.
Betrachte es doch mal von allen Seiten, dachte Mat erschöpft. Die Hälfte aller Schwierigkeiten, in die ich komme, rührt daher, daß ich das nicht tue. Ich muß nachdenken. Vor Erschöpfung schien es ihm so, als sei sein Kopf mit Wolle angefüllt. Er gab Thom ein Zeichen, und sie schlenderten hinüber zum Tisch des Wirts, der sie mißtrauisch musterte, als sie sich hinsetzten.
»Wer ist der Mann mit der Strähne im Bart?« fragte Mat.
»Ihr seid nicht aus der Stadt, oder?« sagte der Wirt. »Er ist auch ein Fremder. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen, aber ich weiß, was er ist. Ein Fremder, der hierhergezogen ist und sein Glück beim Handel gemacht hat. Ein Kaufmann, der so reich ist, daß er sogar sein Schwert tragen darf. Aber das ist noch kein Grund dafür, daß er uns so behandelt.«
»Wenn Ihr ihn noch niemals gesehen habt«, fragte Mat, »woher wißt Ihr dann, daß er ein Kaufmann ist?«
Der Wirt betrachtete ihn, als sei er ein Dummkopf. »Sein Mantel, Mann, und sein Schwert! Wenn er von draußen kommt, kann er kein Lord oder Soldat sein, also muß er wohl ein reicher Kaufmann sein.« Er schüttelte den Kopf über soviel Dummheit der Ausländer. »Sie kommen in unsere Häuser und schauen uns von oben herab an. Sie befummeln vor unseren Augen die Mädchen, aber sie haben kein Recht dazu. Wenn ich ins Mauleviertel gehe, dann spiele ich nicht mit einem Fischer um dessen magere Kröten. Wenn ich nach Tavar gehe, spiele ich nicht mit den Bauern, die gekommen sind, ihre Ernte zu verkaufen.« Er polierte noch gewaltsamer drauflos. »Was für ein Glück der Mann hat. So muß er wahrscheinlich an sein Vermögen gekommen sein.«
»Er gewinnt, nicht wahr?« Gähnend fragte sich Mat, wie er wohl mit einem Mann spielen würde, der auch Glück hatte.
»Manchmal verliert er«, knurrte der Wirt, »wenn der Einsatz nur ein paar Silberpfennige beträgt. Manchmal. Aber wenn es um eine Silbermark geht... Ich habe ihn heute beim Kronenspiel nicht weniger als ein Dutzend Mal mit drei Kronen und zwei Rosen gewinnen sehen. Und beim Gipfelspiel noch um die Hälfte häufiger mit drei Sechsern und zwei Fünfern. Beim Dreierspiel wirft er immer nur Sechser und beim Kompaß mit jedem Wurf drei Sechser und einen Fünfer. Wenn er schon solches Glück hat, dann hat er meinen Segen, aber er soll es gefälligst an anderen Kaufleuten auslassen, wie es sich gehört. Wie kann ein Mann solches Glück haben?«
»Gezinkte Würfel«, sagte Thom und hustete wieder. »Wenn er sichergehen will, daß er gewinnt, benützt er Würfel, die immer auf dieselbe Seite fallen. Er ist schlau genug, nicht gerade die höchsten Würfe zu benützen, denn die Leute werden mißtrauisch, wenn man immerzu einen König würfelt« — dabei zog er eine Augenbraue in Richtung Mat hoch —, »aber halt ein Ergebnis, das kaum zu schlagen ist. Er kann es aber nicht dazwischen abändern, damit sie einmal auf eine andere Seite fallen.«
»Von so was habe ich schon gehört«, sagte der Wirt bedächtig. »Ich hörte, die Illianer verwenden das.« Dann schüttelte er den Kopf. »Aber beide Männer benützen die gleichen Würfel und den gleichen Becher. Es ist unmöglich.«
»Bringt mir zwei Würfelbecher«, sagte Thom, »und zwei Sätze Würfel. Kronen oder Augen, das spielt keine Rolle, solange es die gleichen sind.«
Der Wirt runzelte die Stirn, aber er ging, wobei er vorsichtigerweise den Zinnbecher mitnahm, und kam mit zwei Lederbechern zurück. Thom ließ die aus Knochen gefertigten Würfel vor Mat auf den Tisch rollen. Ob mit Augen oder Symbolen — jeder Satz Würfel, den Mat je gesehen hatte, war entweder aus Knochen oder Holz gefertigt. Diese hatten Augen. Er nahm sie in die Hand und sah Thom finster an. »Sollte ich daran etwas entdecken?«
Thom kippte sich die Würfel aus dem anderen Becher auf die Handfläche, und dann bewegte er sich so schnell, daß das Auge kaum folgen konnte. Er ließ sie wieder hineinfallen und drehte den Becher um, so daß er umgestülpt auf dem Tisch stand, bevor die Würfel herausfallen konnten. Er behielt seine Hand oben auf dem Becher. »Mache ein Zeichen auf jeden, Junge. Etwas Kleines, aber du mußt es als dein Zeichen erkennen.«
Mat tauschte fragende Blicke mit dem Wirt. Dann blickten beide den Becher an, der umgestülpt unter Thoms Hand stand. Er wußte, daß Thom irgendeinen Trick vorhatte. Die Gaukler vollbrachten immer unmögliche Sachen, wie Feuer zu schlucken oder Seidentücher aus der Luft zu pflücken. Aber er wußte nicht, wie Thom etwas anstellen sollte, wenn sie ihn so genau beobachteten. Also nahm er sein Messer aus der Scheide und machte einen kleinen Kratzer auf jeden Würfel, und zwar genau über die sechs Augen.
»In Ordnung«, sagte er und legte sie auf den Tisch zurück. »Zeig mir deinen Trick.«
Thom griff sich die Würfel, und dann legte er sie etwa einen Fuß entfernt wieder hin. »Schau nach deinen Markierungen, Junge.«
Mat runzelte die Stirn. Thoms Hand befand sich noch immer auf dem umgestülpten Lederbecher. Der Gaukler hatte sie nicht bewegt und auch nicht Mats Würfel auch nur in die Nähe gebracht. Er nahm also die Würfel in die Hand... und zwinkerte überrascht. Es war kein Kratzer darauf zu sehen. Der Wirt schnappte nach Luft.
Thom drehte seine freie Hand um und zeigte ihnen, daß er darin fünf Würfel hielt. »Deine Markierungen befinden sich auf diesen hier. Und genau das macht Comar. Es ist kinderleicht, obwohl ich nicht glaube, daß er die nötige Fingerfertigkeit besitzt.«
»Ich glaube nicht, daß ich mich mit dir auf ein Würfelspiel einlasse«, sagte Mat bedächtig. Der Wirt starrte die Würfel an, aber es schien nicht so, als habe er den Trick begriffen. »Ruft die Wache oder wie Ihr das hier nennt«, sagte Mat zu ihm. »Laßt ihn festnehmen.« In einer Gefängniszelle kann er niemanden umbringen. Aber — wenn sie schon tot sind? Er versuchte, den eigenen Gedanken zu verdrängen, aber der blieb hartnäckig. Dann sorge ich dafür, daß auch er stirbt und Gaebril, gleich, was ich dazu tun muß. Aber das stimmt doch alles nicht, seng mich! Sie können nicht tot sein!
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich? Ich und einen Kaufmann bei den Verteidigern anzeigen? Sie würden seine Würfel noch nicht einmal anschauen. Er würde nur ein Wort sagen, und ich läge in Ketten und würde auf den Kanalbaggern in den Fingern des Drachen arbeiten. Er könnte mich auch unverzüglich mit seinem Schwert niederstrecken, und die Verteidiger würden noch sagen, ich hätte es verdient gehabt. Vielleicht geht er ja bald.«
Mat verzog resignierend das Gesicht. »Wenn ich seinen Betrug aufdecke, reicht das dann? Ruft Ihr dann die Wache oder die Verteidiger oder wen auch immer?«
»Ihr versteht das nicht. Ihr seid ein Fremder. Selbst wenn er auch von weit her kommt, ist er doch ein reicher und bedeutender Mann.«
»Warte hier«, sagte Mat zu Thom. »Ich werde ihn nicht an Egwene und die anderen heranlassen, gleich, was ich tun muß.« Er gähnte und schob seinen Stuhl nach hinten.
»Warte, Junge«, rief Thom ihm leise aber eindringlich nach. Der Gaukler stand ebenfalls auf. »Seng dich, du weißt nicht, worauf du dich da einläßt!«
Mat bedeutete ihm, zu bleiben, und ging zu Comar hinüber. Niemand anders war inzwischen der Aufforderung des Bärtigen gefolgt, und der musterte nun Mat interessiert, als er seinen Bauernspieß an den Tisch stellte und sich hinsetzte.
Comar betrachtete Mats Mantel und grinste heimtückisch. »Wollt Ihr ein paar Kupfermünzen setzen, Bauer? Ich verschwende meine Zeit nicht mit... « Er unterbrach sich, als Mat eine andoranische Goldkrone auf den Tisch legte und ihn angähnte, ohne sich die Mühe zu machen, eine Hand vor den Mund zu halten. »Ihr seid schweigsam, Bauer. Aber Eure Manieren könntet Ihr verbessern. Nun ja, Gold hat seine eigene Stimme und braucht keine Manieren.« Er schüttelte den Lederbecher in seiner Hand und ließ die Würfel herausrollen. Er schmunzelte schon, bevor sie stillagen und drei Kronen sowie zwei Rosen zeigten. »Das schlagt Ihr nie, Bauer. Vielleicht habt Ihr in den Lumpen, die Ihr tragt, noch mehr Gold verborgen, das Er verlieren wollt? Was habt Ihr getan? Euren Herrn beraubt?«
Er faßte nach den Würfeln, doch Mat kam ihm zuvor. Comar schaute wütend drein, doch überließ er Mat den Becher. Wenn das gleiche Ergebnis herauskam, würden beide weiterwürfeln, bis einer schließlich gewann. Mat lächelte, als er den Becher schüttelte. Er wollte Comar keine Chance geben, sie auszutauschen. Wenn sie dreioder viermal dasselbe würfelten, genau dasselbe Ergebnis natürlich, würden auch diese Verteidiger herschauen. Der ganze Schankraum würde es sehen und sein Wort bezeugen.
Er ließ die Würfel auf die Tischfläche rollen. Sie sprangen irgendwie eigenartig auf. Er fühlte, wie sich etwas... änderte. Es war, als sei sein Glück verstärkt zurückgekehrt. Der Raum schien sich um ihn herum zu verzerren und wie mit Fäden an den Würfeln zu ziehen. Aus irgendeinem Grund wollte er zur Tür hinsehen, behielt aber die Würfel statt dessen im Blick. Sie lagen still. Fünf Kronen. Comar fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Ihr habt verloren«, sagte Mat leise. Wenn er in diesem Maße Glück hatte, war es vielleicht an der Zeit, es noch etwas zu strapazieren. Eine Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm, er solle gefälligst nachdenken, aber er war zu müde, um darauf zu hören. »Ich denke, Eure Glückssträhne ist vorüber, Comar. Falls Ihr diesen Mädchen etwas zuleide getan habt, ist es endgültig um Euch geschehen.«
»Ich habe sie noch nicht einmal...«, begann Comar, der noch immer die Würfel anstarrte. Dann riß es ihm den Kopf hoch. Sein Gesicht war totenblaß. »Woher kennt Ihr meinen Namen?«
Er hatte sie noch nicht gefunden. Glück, süßes Glück, steh mir weiter bei. »Geht zurück nach Caemlyn, Comar. Sagt Gaebril, daß Ihr sie nicht finden konntet. Sagt ihm, was Ihr wollt, aber verlaßt Tear noch heute nacht. Wenn ich Euch jemals wiedersehe, töte ich Euch.«
»Wer seid Ihr?« fragte der große Mann unsicher. »Wer...?« Im nächsten Moment hielt er sein Schwert in der Hand und sprang auf.
Mat stieß den Tisch gegen ihn. Der Tisch stürzte um, aber er hatte den Bauernspieß in den Händen. Er hatte jedoch vergessen, wie groß Comar war. Der Bärtige stieß den Tisch zurück. Mat stürzte mitsamt seinem Stuhl um; konnte aber gerade noch seinen Stock festhalten. Comar wuchtete den Tisch aus dem Weg und stach zu. Mat trat mit beiden Füßen nach dem Unterleib des Mannes, um dessen Ansturm aufzuhalten, und schwang ungeschickt den Stock. Doch es reichte, um das Schwert abzulenken. Aber dabei wurde ihm der Stock aus den steifen Fingern geschlagen. Statt dessen packte er Comars Handgelenk. Die Klinge des Mannes befand sich nur eine Handbreit vor seinem Gesicht. Ächzend rollte er sich nach hinten ab und stieß mit seinen Beinen so fest zu, wie er nur konnte. Comar riß die Augen auf, als er über Mat hinwegsegelte und mit dem Gesicht nach oben auf einen Tisch krachte. Mat faßte schnell nach seinem Stock, aber als er ihn wieder in Händen hatte, rührte sich Comar immer noch nicht.
Der große Mann lag mit gespreizten Beinen auf dem Tisch. Der Rest seines Körpers hing schlaff herunter, und der Kopf lag auf dem Boden. Die Männer, die an diesem Tisch gesessen hatten, standen ein sicheres Stück entfernt, rangen die Hände und warfen sich nervöse Blicke zu. Ein leises, besorgtes Gemurmel hing im Schankraum anstatt des Geschreis, das Mat erwartete.
Comars Schwert lag innerhalb seiner Reichweite. Doch er rührte sich nicht. Er starrte Mat an, als der das Schwert wegtrat und neben ihm auf ein Knie herabsank. Licht! Ich glaube, sein Rückgrat ist gebrochen! »Ich sagte Euch doch, Ihr solltet gehen, Comar. Eure Glückssträhne ist vorbei!«
»Narr«, hauchte der große Mann. »Glaubt Ihr... daß ich der einzige bin... der sie jagt? Sie leben... nicht... bis... « Seine Augen blickten Mat glasig an, und er sagte nichts mehr. Er würde auch nie wieder etwas sagen.
Mat erwiderte den Blick, als wolle er weitere Worte aus dem Toten herauszwingen. Wer noch, seng dich? Wer? Wo sind sie? Mein Glück. Seng mich, was ist mit meinem Glück geschehen? Ihm wurde bewußt, daß der Wirt ihn verzweifelt am Arm zog.
»Ihr müßt weg. Ihr müßt. Bevor die Verteidiger kommen. Ich werde ihnen die Würfel zeigen. Ich werde ihnen sagen, es sei ein Fremder gewesen, aber ein großer Mann mit rotem Haar und grauen Augen. Keinem wird etwas passieren. Keinem wirklichen Menschen. Nur ein Mann, von dem ich letzte Nacht geträumt habe. Keine echte Person. Niemand wird mir widersprechen. Er hat jeden mit seinen Würfeln ausgenommen. Aber Ihr müßt weg! Schnell!«
Alle anderen im Raum sahen betont weg. Mat ließ sich von dem Toten wegziehen und aus der Schenke schieben. Thom wartete schon draußen im Regen. Er packte Mat am Arm und hinkte mit ihm im Schlepptau hastig die Straße hinunter. Mats Kapuze hing auf seinem Rücken. Der Regen durchnäßte ihm die Haare und ergoß sich über sein Gesicht, rann an seinem Hals hinab, aber er bemerkte es nicht. Der Gaukler blickte sich immer wieder um, ob sie schon verfolgt würden.
»Schläfst du, Junge? Dort hinten hast du nicht so ausgesehen, als ob du schläfst. Komm schon, Junge. Die Verteidiger werden jeden Fremden auf zwei Straßen im Umkreis verhaften, gleich, welche Beschreibung ihnen der Wirt gibt.«
»Es ist das Glück«, murmelte Mat. »Ich habe es herausgefunden. Die Würfel. Mein Glück ist dann am größten, wenn die Dinge... dem Zufall überlassen sind. Wie beim Würfeln. Nicht so gut beim Kartenspiel. Beim Brettspiel wirkt es nicht. Zuviel von einem Muster. Es muß Zufall sein. Selbst, Comar zu finden. Ich habe nicht mehr jede Schenke abgesucht. Ich bin nur zufällig in diese hineingegangen. Thom, wenn ich Egwene und die anderen rechtzeitig finden will, darf ich nicht mehr systematisch suchen.«
»Wovon sprichst du eigentlich? Der Mann ist tot. Falls er sie bereits getötet hat... Na ja, dann hast du sie gerächt. Wenn nicht, hast du sie gerettet. Wirst du jetzt endlich, verdammt noch mal, schneller laufen? Es wird nicht lange dauern, bis die Verteidiger kommen, und sie sind nicht so rücksichtsvoll wie die Königliche Garde.«
Mat riß sich los und ging, etwas unsicher auf den Beinen, weiter. Den Bauernspieß schleifte er hinter sich her. »Ihm ist entschlüpft, daß er sie noch nicht gefunden hatte. Aber er sagte, er sei nicht der einzige. Thom, ich glaube ihm. Ich habe ihm in die Augen gesehen, und er sagte die Wahrheit. Ich muß sie trotzdem finden, Thom. Und nun weiß ich nicht einmal, wer hinter ihnen her ist. Ich muß sie finden.«
Thom unterdrückte mit der Hand ein eindrucksvolles Gähnen und zog Mat die Kapuze zum Schutz vor dem Regen über den Kopf. »Nicht mehr heute nacht, Junge. Ich brauche Schlaf und du auch.«
Naß. Mein Haar trieft. Mein Gesicht auch. Sein Kopf schien zu schwimmen. Ihm wurde langsam klar, daß es der Mangel an Schlaf war. Und daran, daß er darüber nachdenken mußte, um es überhaupt zu bemerken, erkannte er, wie müde er tatsächlich war. »In Ordnung, Thom. Aber bei Tagesanbruch suche ich sofort weiter.« Thom nickte und hustete, und sie gingen durch den Regen zum ›Weißen Halbmond‹ zurück.
Es war nicht lang bis zur Morgendämmerung, aber Mat hievte sich mühsam aus dem Bett und machte sich mit Thom daran, jede Schenke innerhalb der Mauern Tears abzusuchen. Er ging dorthin, wo es ihm gerade in den Sinn kam, hielt dabei überhaupt nicht nach Schenken Ausschau und warf eine Münze hoch, um zu entscheiden, ob er eine Schenke betreten solle oder nicht. Drei Tage und Nächte lang hielt er durch, und es regnete drei Tage und Nächte lang ohne Unterlaß. Manchmal donnerte es auch, manchmal blieb es ruhig, aber es goß immerzu in Strömen.
Thoms Husten wurde schlimmer. Er mußte mit dem Flötespielen und Geschichtenerzählen aufhören, und die Harfe schleppte er bei solchem Wetter gar nicht erst ins Freie. Aber er bestand darauf mitzukommen, und die Menschen unterhielten sich immer noch gern mit einem Gaukler. Mats Glück beim Würfeln schien sich noch verstärkt zu haben, seit er ziellos herumzulaufen begonnen hatte, aber er hielt sich nicht lange genug in irgendeiner Schenke oder Taverne auf, um mehr als ein paar Münzen zu gewinnen. Keiner von beiden erfuhr etwas Brauchbares. Gerüchte über einen Krieg mit Illian. Gerüchte über eine Invasion in Mayene. Gerüchte über einen Angriff aus Andor, über eine Handelsblockade des Meervolks, über das Heer Artur Falkenflügels und seine Rückkehr aus dem Reich der Toten. Gerüchte über die bevorstehende Ankunft des Drachen. Die Männer, mit denen Mat spielte, reagierten auf ein Gerücht genauso bedrückt wie auf das andere. Sie schienen ihm immer nach dem schlimmsten dieser Gerüchte zu suchen, aber allen so halbwegs Glauben zu schenken. Doch er fand keine noch so kleine Spur von Egwene und den anderen. Kein einziger Wirt hatte Frauen gesehen, die seiner Beschreibung entsprachen.
Alpträume schlichen sich in seinen Schlaf ein. Zweifellos rührte das von seinen bedrückenden Sorgen her. Egwene und Nynaeve und Elayne, dazu ein Bursche mit kurzgeschnittenem weißen Haar, der einen Mantel mit gestreiften Puffärmeln wie Comar trug, der lachte und ein Netz um sie herum webte. Nur, manchmal webte er dieses Netz um Moiraine und manchmal hielt er statt dessen ein Kristallschwert in der Hand, ein Schwert, das wie die Sonne strahlte, sobald er es berührte. Manchmal war es auch Rand, der dieses Schwert hielt. Aus irgendeinem Grund träumte er häufig von Rand.
Mat war sicher, es rühre alles davon her, daß er nicht genug Schlaf bekam und nicht genug zu essen, außer, er dachte gerade einmal daran. Doch er gab nicht auf. Er habe einen hohen Einsatz zu gewinnen, sagte er sich, und er hatte die Absicht zu gewinnen, und wenn er sich dabei umbringen mußte.