34 Ein besonderer Tanz

Furlan plapperte weiter, während er sie zu ihren Zimmern führte. Perrin hörte gar nicht hin. Er war zu sehr damit beschäftigt, nachzugrübeln, ob das schwarzhaarige Mädchen die Bedeutung von gelben Augen kannte. Seng mich, sie hat mich wirklich so angeschaut! Dann hörte er, wie der Wirt etwas sagte von »in Ghealdan den Drachen ausgerufen«, und er spitzte die Ohren, beinahe wie Loial.

Moiraine blieb am Eingang zu ihrem Zimmer wie angewurzelt stehen. »Es gibt noch einen falschen Drachen, Wirt? In Ghealdan?« Die Kapuze an ihrem Umhang verbarg ihr Gesicht noch immer, aber sie schien vollkommen erschüttert. Selbst als er der Antwort des Mannes lauschte, konnte Perrin nicht anders, als sie anzustarren. Er witterte fast so etwas wie Furcht.

»Ach, Lady, fürchtet Euch nicht. Es sind hundert Wegstunden bis Ghealdan und hier wird Euch niemand etwas antun, nicht, wenn Meister Andra zugegen ist und Lord Orban und Lord Gann. Also... «

»Antwortet ihr!« sagte Lan mit harter Stimme. »Gibt es in Ghealdan einen falschen Drachen?«

»Ach. Ach, nein, Meister Andra, nicht direkt. Ich sagte, da sei ein Mann in Ghealdan, der den Drachen dort ausruft, wie wir vor ein paar Tagen hörten. Predigt von seiner Ankunft, könnte man sagen. Er spricht von diesem Burschen drüben in Tarabon, von dem wir gehört haben. Obwohl andere behaupten, er sei in Arad Doman und nicht in Tarabon. Auf jeden Fall weit von hier. Also, an jedem anderen Tag hätte ich erwartet, daß man hier mehr darüber redet als über alles andere, darüber und über die wilde Geschichte von der Rückkehr des Heeres von Artur Falkenflügel... « Lans kalter Blick hätte auch eine Messerklinge sein können, so brachte er Furlan zum Schwitzen und Schlucken. »Ich weiß nur, was ich so höre, Meister Andra. Man sagt, dieser Bursche habe einen Blick, der einen auf dem Fleck festnageln könne, und er redet allen möglichen Quatsch über den Drachen, der komme, um uns zu retten, und daß wir ihm alle folgen müßten, und daß sogar die Tiere für den Drachen kämpften. Ich weiß nicht, ob sie ihn schon festgenommen haben oder nicht. Es ist wahrscheinlich; die Leute in Ghealdan lassen sich solche Sprüche nicht lange gefallen.«

Masema, dachte Perrin staunend. Das ist bestimmt dieser verdammte Masema.

»Ihr habt recht, Wirt«, sagte Lan. »Dieser Bursche wird uns wahrscheinlich hier keine Schwierigkeiten bereiten. Ich habe mal so einen Burschen gekannt, der auch wilde Sprüche klopfte. Erinnert Ihr euch noch an ihn, Lady Alys? Masema?«

Moiraine fuhr zusammen. »Masema. Ja. Natürlich. Ich hatte ihn ganz vergessen.« Ihre Stimme klang wieder fest. »Wenn ich Masema das nächste Mal sehe, wird er sich wünschen, jemand hätte ihm die Haut abgezogen, um sich daraus Stiefel anzufertigen.« Sie schlug die Tür so hart hinter sich zu, daß der Krach im Gang Echos warf.

»Ruhe!« erklang ein gedämpftes Brüllen vom hinteren Ende des Ganges her. »Mein Kopf schmerzt!«

»Ach.« Furlan rang die Hände erst in der einen Richtung und dann in der anderen. »Ach. Vergebt mir, Meister Andra, aber Lady Alys ist eine temperamentvolle Frau.«

»Nur bei denen, die ihr Mißfallen erregen«, sagte Lan gelassen. »Sie kann erheblich stärker beißen als bellen.«

»Ach. Ach. Ach. Eure Zimmer sind hier drüben. Oh, Freund Ogier, als Meister Andra mir sagte, Ihr würdet kommen, habe ich ein altes Ogier-Bett vom Speicher herunterholen lassen, wo es vielleicht dreihundert Jahre Staub angesammelt hatte. Also, das ist... «

Perrin hörte nicht mehr hin — so wenig, wie ein Flußfelsen das Rauschen des Wassers wahrnimmt. Die schwarzhaarige junge Frau beschäftigte ihn. Und der Aiel im Käfig.

Er bewegte sich ganz mechanisch und grübelte nach, als er in sein Zimmer trat. Das Zimmer war klein und lag ganz hinten. Lan hatte nichts getan, um den Wirt von seiner Meinung abzubringen, Perrin sei ein Diener. Er zog die Sehne von seinem Bogen und stellte ihn in eine Ecke. Wenn man ihn zu lange Zeit gespannt ließ, ruinierte man beide, Bogen wie Sehne. Dann legte er seine Deckenrolle und die Satteltaschen neben den Waschtisch und warf den Umhang darüber. Er hängte seine Gürtel mit Köcher und Axt an einen Haken an der Wand. Beinahe hätte er sich auf das Bett gelegt, aber ein langgedehntes Gähnen erinnerte ihn daran, wie gefährlich das sein konnte. Das Bett war eng, und die Matratze wies eine Unmenge Klumpen auf, und damit wirkte es auf ihn einladender als jedes andere Bett in letzter Zeit. Statt dessen setzte er sich auf einen dreibeinigen Hocker und grübelte. Er wollte ja immer alles richtig durchdenken.

Nach einer Weile klopfte Loial an die Tür und steckte seinen Kopf herein. Die Ohren des Ogiers zitterten vor Erregung, und sein Grinsen spaltete beinahe das breite Gesicht in zwei Hälften. »Perrin, das glaubst du nicht!

Mein Bett ist aus besungenem Holz! Also, das muß mehr als tausend Jahre alt sein! Kein Baumsänger hat in dieser ganzen Zeit ein so großes Stück besungen. Ich würde mich nicht daran wagen, und mein Talent ist nun stärker als das der meisten anderen. Na ja, um die Wahrheit zu sagen, es gibt überhaupt nicht mehr viele mit diesem Talent unter uns. Aber ich gehöre zu den besten unter denen, die Holz besingen können.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Perrin. Ein Aiel in einem Käfig. Das hat Min gesagt. Warum hat mich dieses Mädchen so angesehen?

»Das dachte ich auch.« Loial klang ein wenig pikiert, daß Perrin seine Erregung offensichtlich nicht teilte, aber Perrin wollte einfach nur nachdenken. »Das Abendessen ist unten fertig, Perrin. Sie haben zu Ehren der Jäger ihre besten Sachen aufgetischt, aber wir bekommen auch etwas ab.«

»Geh du nur, Loial. Ich habe keinen Hunger.« Die Düfte von brutzelndem Fleisch aus der Küche interessierten ihn nicht. Er bemerkte kaum, daß Loial ging.

Mit den Händen auf den Knien und immer wieder gähnend, versuchte er sich über alles klar zu werden. Es schien ihm wie eines dieser Puzzles, die Meister Luhhan anfertigte. Ihre metallnen Einzelteile schienen untrennbar miteinander verknüpft. Aber es gab immer einen Trick, mit dem man die eisernen Ringe und Wirbel voneinander lösen konnte, und den mußte es hier auch geben.

Das Mädchen hatte eindeutig ihn angesehen. Seine Augen konnten die Erklärung dafür sein, doch der Wirt hatte sie ignoriert, und sonst hatte niemand sie überhaupt bemerkt. Sie hatten ja einen Ogier zum Angaffen und dazu die Jäger des Horns im Haus und eine Lady zu Besuch und einen Aiel im Käfig auf dem Marktplatz. Etwas so Nebensächliches wie die Augenfarbe eines Mannes konnte ihre Aufmerksamkeit wohl kaum auf sich ziehen. Ein Diener hatte nichts an sich, was ihn von anderen abhob. Aber warum hat sie mich dann so angesehen?

Und der Aiel im Käfig. Was Min sah, spielte immer eine wichtige Rolle. Doch wie? Was sollte er tun? Ich hätte diese Kinder davon abhalten können, weiter Steine auf ihn zu werfen. Ich hätte es tun sollen. Es half nichts, daß er sich sagte, die Erwachsenen hätten ihm sicher entgegnet, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, daß er ein Fremder in Remen sei und der Aiel ihn nichts angehe. Ich hätte es trotzdem versuchen sollen.

Er kam auf keine plausible Antwort, und so kehrte er zum Anfang zurück und ging geduldig das Ganze noch einmal durch, und danach wieder und dann erneut. Trotzdem fand er nichts außer dem Bedauern darüber, daß er nicht eingegriffen hatte.

Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß die Nacht angebrochen war. Das Zimmer war dunkel bis auf ein bißchen Mondschein, der durchs Fenster fiel. Er dachte an die Talgkerze und die Zunderschachtel, die er auf dem Kaminsims stehen gesehen hatte, aber für seine Augen reichte das Licht aus. Ich muß doch wahrscheinlich etwas unternehmen, oder?

Er schnallte sich den Gürtel mit der Axt um und hielt dann überrascht inne. Er hatte das völlig gedankenlos getan. Die Axt zu tragen war für ihn so natürlich wie das Atmen geworden. Das gefiel ihm nicht. Doch er ließ den Gürtel, wo er nun war, und ging hinaus.

Der Lichtschein von der Treppe her ließ in seinen Augen den Flur beinahe strahlend hell erscheinen, wenn er ihn mit dem Licht in seinem Zimmer verglich. Aus dem Schankraum erschollen Gespräche und Gelächter, und aus der Küche drangen die Düfte feiner Speisen. Er ging weiter nach vorn zu Moiraines Tür, klopfte einmal an und trat ein. Und dann blieb er mit puterrotem Gesicht stehen.

Moiraine zog die blaßblaue Robe, die sie sich umgehängt hatte, um sich zusammen. »Was wünscht Ihr?« fragte sie kühl. In der einen Hand hielt sie eine Haarbürste mit silbernem Griff, und ihr dunkles Haar fiel glänzend in dichten Wellen bis auf ihre Schultern. Ihr Zimmer war viel besser als seines. Die Wände waren mit poliertem Holz getäfelt, sie hatte Lampen in silbernen Lampenhaltern, und im gemauerten Kamin brannte ein Feuer. Es roch nach Rosenduftseife.

»Ich... ich glaubte, Lan sei hier«, brachte er mühsam heraus. »Ihr steckt sonst immer die Köpfe zusammen, und deshalb dachte ich, er... Ich dachte... «

»Was wollt Ihr, Perrin?«

Er atmete tief durch. »Ist das Rands Werk? Ich weiß, daß ihm Lan hierher gefolgt ist, und all das wirkt so eigenartig — die Jäger, der Aiel —, aber ist er dafür verantwortlich?«

»Ich glaube nicht. Ich weiß mehr, wenn Lan mir berichtet, was er heute nacht herausbekommt. Mit Glück kann mir das dabei helfen, eine Entscheidung zu treffen, die ich nun treffen muß.«

»Eine Entscheidung?«

»Rand könnte einerseits den Fluß überquert und sich zu Fuß auf den Weg nach Tear gemacht haben, und andererseits könnte er sich auf einem Schiff flußabwärts nach Illian befinden, um von dort aus auf einem anderen Schiff Tear zu erreichen. Die Reise ist so wohl um vieles weiter, aber dafür um Tage kürzer.«

»Ich glaube nicht, daß wir ihn einholen, Moiraine. Ich weiß nicht, wie er es anstellt, aber selbst zu Fuß bleibt er immer vor uns. Wenn Lan recht hat, beträgt sein Vorsprung noch einen halben Tag.«

»Man könnte beinahe den Verdacht hegen, er habe gelernt, mit Hilfe der Macht zu reisen«, sagte Moiraine mit leichtem Stirnrunzeln, »aber dann wäre er sicherlich direkt nach Tear gegangen. Nein, er trägt einfach das Erbe von Wanderern und ausdauernden Läufern in sich. Aber vielleicht nehmen wir doch den Wasserweg. Wenn ich ihn nicht einholen kann, werde ich zumindest kurz nach ihm im Tear ankommen. Oder dort auf ihn warten.«

Perrin verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. In ihrer Stimme lag so etwas wie ein eiskaltes Versprechen. »Ihr habt mir einmal gesagt, Ihr könntet einen Schattenfreund riechen, oder zumindest einen, der bereits ganz dem Schatten angehört. Lan kann das auch. Habt Ihr so etwas hier gewittert?«

Sie schniefte laut und wandte sich dem hohen Standspiegel zu. Seine Halterungen waren mit fein gewirktem Silber eingelegt. Mit einer Hand hielt sie ihre Robe zusammen, mit der anderen bürstete sie ihr Haar. »Nur wenige Menschen sind in solchem Maße verloren, Perrin, selbst unter den schlimmsten Schattenfreunden.« Sie hielt im Bürsten inne. »Warum fragt Ihr?«

»Da war so ein Mädchen unten im Schankraum, das mich angestarrt hat. Nicht Euch oder Loial, wie die anderen. Nein, mich.«

Die Bürste fuhr wieder durch ihr Haar, und Moiraine lächelte ganz kurz. »Manchmal vergeßt Ihr, Perrin, daß Ihr ein gutaussehender junger Mann seid. Manche Mädchen bewundern solche Schultern wie Eure.« Er grunzte und trat von einem Fuß auf den anderen. »Gab es noch etwas, Perrin?«

»Ach... nein.« Sie konnte ihm in bezug auf das, was Min vorhergesehen hatte, nicht weiterhelfen. Sie hätte ihm doch nur das sagen können, von dem er bereits wußte, daß es wichtig sei. Und er wollte ihr auch gar nicht anvertrauen, was Min gesagt hatte. Oder, was das betraf, daß Min überhaupt etwas gesehen hatte.

Draußen auf dem Flur lehnte er sich einen Moment lang an die Wand, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Licht, einfach so bei ihr hineinspazieren, und sie... Sie war eine gutaussehende Frau. Und wahrscheinlich alt genug, um meine Mutter zu sein oder noch mehr. Er glaubte, Mat an seiner Stelle hätte sie jetzt hinunter in den Schankraum gebeten, um mit ihr zu tanzen. Nein, wohl doch nicht. Selbst Mat ist nicht so dumm, mit einer Aes Sedai flirten zu wollen. Moiraine tanzte durchaus. Er hatte sogar selbst schon einmal mit ihr getanzt. Und dabei wäre er beinahe über die eigenen Füße gestolpert vor Aufregung. Denk nicht immer so an sie, als sei sie ein Mädchen vom Dorf, nur weil du sie so gesehen... Sie ist eine verdammte Aes Sedai! Du solltest dir besser über diesen Aiel Gedanken machen. Er schüttelte sich und ging hinunter.

Der Schankraum war vollgestopft mit Menschen. Jeder Stuhl war besetzt, und man hatte weitere Stühle und Bänke hereingetragen. Trotzdem hatten einige keinen Platz gefunden und standen an der Wand. Er sah das schwarzhaarige Mädchen nicht, und sonst warf ihm keiner einen zweiten Blick zu, als er sich durch den Raum zwängte.

Orban saß allein an einem Tisch, hatte sein bandagiertes Bein auf ein Kissen auf einem Stuhl hochgelegt — an diesem Fuß trug er einen Hausschuh — und hielt einen silbernen Pokal in der Hand, den eine Dienerin immer wieder mit Wein füllte. »Ja«, sagte er zu allen im Raum, »wir wußten, daß die Aiel wilde Kämpfernaturen sind, Gann und ich, aber wir hatten überhaupt keine Zeit, um es uns zu überlegen. Ich zog mein Schwert und gab Löwe meine Fersen zu spüren... «

Perrin fuhr auf, aber dann wurde ihm klar, daß der Mann sein Pferd mit diesem Namen meinte. Sähe ihm ähnlich, wenn er behauptete, auf einem Löwen geritten zu sein. Er schämte sich ein wenig. Nur weil er den Mann nicht leiden konnte, mußte er doch nicht gleich annehmen, daß der seine Angebereien so weit trieb. Er eilte hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken.

Die Straße vor der Schenke war genauso voll wie der Schankraum. Menschen, die drinnen keinen Platz gefunden hatten, drängten sich vor den Fenstern, um einen Blick hineinzuwerfen, und doppelt so viele standen direkt vor der Tür, um wenigstens Orbans Erzählung lauschen zu können. Keiner warf Perrin einen zweiten Blick zu, obwohl er einige dazu brachte, sich zu beklagen, als er sich durch die Menge hindurchzwängte.

Jeder, der an diesem Abend auf den Beinen war, mußte sich bei der Schenke befinden, denn er sah nicht einen einzigen, als er zum Marktplatz ging. Manchmal huschte der Schatten eines Menschen über ein beleuchtetes Fenster, aber das war alles. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er blickte sich ständig nervös um: nichts als in die Nacht gehüllte Straßen und erleuchtete Fenster. Um den Marktplatz herum waren die meisten Fenster bis auf ein paar in den oberen Stockwerken unbeleuchtet.

Der Galgen stand genauso da, wie er ihn in Erinnerung hatte, und der Mann — der Aiel — hing etwas oberhalb seiner Reichweite. Der Aiel schien wach zu sein. Zumindest hatte er den Kopf gehoben. Aber er blickte nicht zu Perrin herunter. Unter dem Käfig lagen die Steine, die von den Kindern auf ihn geschleudert worden waren.

Der Käfig hing an einem dicken Seil, das ganz oben durch einen Ring gezogen war. Es lief am Balkenkreuz über eine schwere Seilrolle und war dann ganz unten rechts und links von dem Galgen jeweils an einer hüfthoch angebrachten Querstrebe befestigt. Der Rest des Seils lag in achtlos hingeworfenen Schleifen am Boden neben dem Gestell.

Perrin sah sich wieder um und suchte den dunklen Platz ab. Er hatte immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden, entdeckte aber nach wie vor nichts. Er lauschte und hörte ebenfalls nichts. Er roch den Rauch aus den Schornsteinen und das Essen in den Häusern und Menschenschweiß und getrocknetes Blut an dem Mann im Käfig. Es ging aber kein Geruch nach Angst von ihm aus.

Sein Gewicht und das Gewicht des Käfigs, dachte er, und er näherte sich dem Galgen. Es war ihm selbst nicht klar, wann er sich dazu entschlossen hatte oder ob er sich überhaupt dazu entschlossen hatte, aber er wußte, daß er es tun würde.

Er hakte sich mit einem Bein am Galgen ein und zog an dem Seil, worauf der Käfig ein wenig nach oben ruckte. Dadurch hatte er ein Stückchen schlaffes Seil in der Hand. Allerdings ruckte jetzt das Seil, und damit wußte er, daß sich der Mann im Käfig endlich bewegt hatte. Doch er hatte es zu eilig, um jetzt zu unterbrechen und ihm zu sagen, was er plante. Durch den gewonnenen Spielraum war er jetzt in der Lage, das Seil von einer der Querstreben abzuwickeln. Er hielt sich immer noch mit seinem Bein am Balken fest und senkte nun den Käfig Hand über Hand bis auf die Pflastersteine.

Der Aiel sah ihn nun an und musterte ihn schweigend. Perrin sagte nichts. Als er den Käfig endlich genauer sah, verzog er den Mund. Wenn man etwas macht, selbst ein Ding wie dieses, sollte man es richtig machen. Die gesamte Vorderfront des Käfigs war eine Tür, die, offensichtlich hastig zusammengebaut, an unförmigen Scharnieren hing. Ein gutes Eisenschloß hing davor, doch an einer Kette, die genauso schlecht angefertigt war wie der ganze Käfig. Er fummelte an dieser Kette herum, bis er das schwächste Glied aufgespürt hatte, Dann steckte er den dicken Dorn seiner Axt hindurch, hievte kurz und zerbrach das Glied mit einer schnellen Drehung aus dem Handgelenk. Sekunden später hatte er die Kette geöffnet, ließ sie zu Boden rasseln und zog die Tür des Käfigs auf.

Der Aiel saß bloß da, die Knie unter dem Kinn, und blickte ihn an. »Also?« flüsterte Perrin heiser. »Ich habe ihn aufgemacht, aber ich werde dich, verdammt noch mal, nicht auch noch raustragen.« Er sah sich schnell wieder um. Auf dem nachtdunklen Platz bewegte sich nichts, doch unsichtbare Augen schienen ihm weiterhin zu folgen.

»Du bist stark, Feuchtländer.« Der Aiel bewegte auch jetzt nur seine Schultern ein wenig. »Sie brauchten drei Männer, um mich da hochzuziehen. Und nun holst du mich herunter. Warum?«

»Ich will keine Menschen in Käfigen sehen«, flüsterte Perrin. Er wollte weg. Der Käfig war offen, und diese Augen sahen zu. Aber der Aiel rührte sich immer noch nicht. Wenn du etwas tust, dann tue es richtig. »Gehst du da jetzt raus, bevor jemand kommt?«

Der Aiel packte den vordersten Bügel des Käfigs über sich und schwang sich, Füße voran, mit einer fließenden Bewegung heraus. Dann hing er da, immer noch mit den Händen an dem Bügel. Hätte er aufrecht dagestanden, hätte er Perrin sicher um einen Kopf überragt. Er blickte Perrins Augen an — Perrin wußte, wie sie im Mondschein wie poliertes Gold glitzerten —, erwähnte sie aber nicht. »Ich war seit gestern da drin, Feuchtländer.« Es klang wie bei Lan. Nicht, daß Stimme oder Akzent einander geähnelt hätten, aber der Aiel wirkte genauso kühl und selbstsicher wie Lan. »Es braucht einen Moment, bis ich wieder auf den Beinen stehen kann. Ich bin Gaul vom Imran Sept der Schaarad-Aiel, Feuchtländer. Ich bin ein Shae'en M'taal, ein Steinhund. Mein Wasser ist dein.«

»Also, ich heiße Perrin Aybara. Ich komme von den Zwei Flüssen. Ich bin Schmied.« Jetzt war der Mann draußen und konnte eigentlich gehen. Wenn aber jemand kam, bevor Gaul wieder richtig zu laufen imstande war, war er ganz schnell wieder drin, außer, sie töteten ihn gleich. In jedem Fall wäre Perrins Mühe umsonst gewesen. »Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich eine Wasserflasche oder einen Wasserschlauch mitgebracht. Warum nennst du mich ›Feuchtländer‹?«

Gaul deutete in Richtung des Flusses. Selbst bei seinen guten Augen konnte Perrin nicht sicher sein, aber er hatte das Gefühl, der Aiel sei dabei ziemlich nervös. »Vor drei Tagen habe ich ein Mädchen beobachtet, das in einem riesigen Wasserloch schwamm. Es muß mindestens zwanzig Schritt Durchmesser gehabt haben. Sie... ist freiwillig da hineingegangen.« Er ahmte ungeschickt Schwimmbewegungen nach. »Ein tapferes Mädchen. Diese... Flüsse zu überqueren hat mich beinahe entmannt. Ich habe nicht gewußt, daß es irgendwo zuviel Wasser geben würde, und nicht geahnt, daß es überhaupt soviel Wasser auf der Welt gibt wie bei Euch Feuchtländern.«

Perrin schüttelte den Kopf. Er wußte ja schon, daß es in der Aiel-Wüste kaum Wasser gab, denn das war eines der wenigen Dinge in bezug auf dieses Land, dessen er sicher war, doch er hatte nicht geahnt, daß es so selten war, um eine solche Reaktion hervorzurufen. »Du bist weit weg von zu Hause, Gaul. Warum bist du hier?«

»Wir suchen«, sagte Gaul bedächtig. »Wir suchen nach Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.«

Perrin hatte diese Bezeichnung schon früher gehört und war sich klar darüber, wer damit gemeint war. Licht, alles kommt immer wieder auf Rand zurück. Ich bin an ihn gebunden wie ein wildes Pferd, das man beschlagen will. »Du suchst in der falschen Richtung, Gaul. Ich suche ebenfalls nach ihm, und er ist auf dem Weg nach Tear.«

»Tear?« Der Aiel war sichtlich überrascht. »Wieso... ? Dann muß es wohl so sein. Die Prophezeiung sagt, wenn der Stein von Tear fällt, werden wir das Dreifache Land endlich verlassen.« So nannten die Aiel ihre Wüste. »Es steht geschrieben, daß wir verändert werden und wiederfinden, was einst unser war und verloren ging.«

»Das mag sein. Ich kenne eure Prophezeiungen nicht, Gaul. Bist du soweit, daß du gehen kannst? Jede Minute könnte jemand vorbeikommen.«

»Dazu ist es jetzt zu spät«, sagte Gaul, und eine tiefe Stimme schrie: »Der Wilde ist los!« Zehn oder zwölf Männer in weißen Umhängen rannten über den Platz heran und zogen die Schwerter. Ihre kegelförmigen Helme schimmerten im Mondschein. Kinder des Lichts.

Als hätte er alle Zeit der Welt zur Verfügung, nahm Gaul seelenruhig ein schwarzes Tuch von der Schulter und band es sich um den Kopf, so daß sein Gesicht bis auf die Augen darunter verborgen war. »Tanzt du gern, Perrin Aybara?« fragte er. Mit diesen Worten sprang er vom Käfig weg direkt auf die anstürmenden Weißmäntel los.

Einen Moment lang waren die völlig überrascht, und dieser Moment war alles, was der Aiel brauchte. Er trat dem ersten, der ihn erreichte, das Schwert aus der Hand, und dann traf seine versteifte Hand wie ein Dolch die Kehle des Weißmantels. Der stürzte, und der Aiel wand sich um ihn herum. Der Arm des nächsten Mannes krachte hörbar, als Gaul ihn brach. Er stieß den Mann vor die Füße eines dritten und trat dem vierten im Sprung ins Gesicht. Es war wirklich einem Tanz ähnlich — von einem zum anderen, ohne stehenzubleiben oder die Bewegungen auch nur zu verlangsamen. Obwohl der Gestürzte wieder auf die Beine kam und der mit dem gebrochenen Arm sein Schwert in die andere Hand nahm, tanzte Gaul weiter mitten unter ihnen.

Perrin hatte nur einen Augenblick lang Zeit, mit seiner Überraschung fertigzuwerden, denn nicht alle Weißmäntel hatten sich auf den Aiel gestürzt. Gerade rechtzeitig konnte er mit beiden Händen den Schaft seiner Axt packen und damit einen Schwertstich abblocken. Dann schwang er die Axt und hätte am liebsten geschrien, als ihre halbmondförmige Schneide die Kehle des Mannes zerfetzte. Aber er hatte weder zum Schreien noch zum Bedauern Zeit. Weitere Weißmäntel stürzten sich auf ihn, noch bevor der erste am Boden lag. Er haßte die klaffenden Wunden, die seine Axt schlug, haßte es, wie sie durch Schuppenpanzer hindurch das Fleisch darunter aufschlitzte, wie sie genauso leicht Helm und Schädel auf einmal spaltete. Er haßte das alles. Aber er wollte nicht sterben.

Die Zeit schien stillzustehen, und gleichzeitig lief doch alles auch schneller ab. Sein Körper fühlte sich wie nach einem stundenlangen Kampf, und er atmete stoßweise durch eine rauh gewordene Kehle. Die Männer schienen sich zu bewegen, als schwömmen sie durch dicke Gelatine. Es dauerte aber nur einen Moment vom ersten Hieb bis zum Sturz. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, und doch war ihm kühl wie in einem erfrischenden Bad. Er kämpfte um sein Leben und wußte nicht, ob alles nur Sekunden gedauert hatte oder die ganze Nacht über.

Als er schließlich schwer atmend und halb betäubt dastand und ein Dutzend in Weiß gehüllte Männer auf den Pflastersteinen des Marktplatzes liegen sah, schien der Mond noch kein Stückchen weitergewandert zu sein. Ein paar der Männer stöhnten noch; die anderen lagen leblos da. Gaul stand über ihnen, immer noch vermummt, immer noch mit leeren Händen. Die meisten Männer hatte er niedergestreckt. Perrin wäre es lieber gewesen, der Aiel hätte alle allein besiegt. Doch dann schämte er sich dieses Gedankens. Der Geruch nach Blut und Tod war scharf und bitter zugleich.

»Du tanzt den Tanz des Speers nicht gerade schlecht, Perrin Aybara.«

Mit Schwindelgefühlen im Kopf murmelte Perrin mühsam: »Ich verstehe nicht, wie zwölf Mann gegen zwanzig von euch gekämpft und euch auch noch besiegt haben sollen, selbst wenn zwei der anderen Jäger waren.«

»Haben sie das behauptet?« Gaul lachte leise. »Sarien und ich waren leichtsinnig, nachdem wir uns schon so lange in diesen Weichling-Ländern aufhielten, und der Wind kam aus der falschen Richtung, so daß wir nichts witterten. Wir stolperten unversehens über sie. Nun ja, Sarien ist tot, und mich hat man wie einen Narren in den Käfig gesperrt, also haben wir wohl genug für unseren Leichtsinn bezahlt. Jetzt ist die Zeit gekommen, um wegzulaufen, Feuchtländer. Tear — ich werde es nicht vergessen.« Endlich zog er den schwarzen Schleier vom Gesicht. »Mögest du immer Wasser und Schatten finden, Perrin Aybara.« Er wandte sich um und rannte in die Nacht hinaus.

Perrin wollte auch wegrennen, doch dann wurde ihm klar, daß er eine blutige Axt in Händen hielt. Schnell wischte er die gekrümmte Schneide am Umhang eines der Toten ab. Er ist tot, seng mich, und es klebt sowieso schon Blut daran. Er zwang sich dazu, erst den Schaft wieder durch die Schlaufe an seinem Gürtel zu stecken, bevor er lostrabte.

Beim zweiten Schritt sah er sie — eine schlanke Gestalt mit einem dunklen, engen Rock am Rand des Marktplatzes. Sie wandte sich ab, um fortzurennen, und er sah, daß der Rock zum Reiten geteilt war. Sie huschte in die Gasse hinein und war verschwunden.

Lan kam ihm entgegen, bevor er den Fleck erreichte, an dem sie gestanden hatte. Der Behüter erblickte den leeren Käfig, der unter dem Galgen stand, die halb im Schatten liegenden stillen weißen Haufen unter dem Mond, und sein Kopf ruckte hoch, als wolle er vor Zorn explodieren. Mit beherrschter, aber harter Stimme fragte er: »Ist das Euer Werk, Schmied? Licht seng mich! Kann irgend jemand Euch dabei beobachtet haben?«

»Ein Mädchen«, sagte Perrin. »Ich glaube, daß sie es gesehen hat. Aber ich will ihr nichts tun, Lan! Es könnten ja auch eine Menge anderer gesehen haben. Überall sind beleuchtete Fenster.«

Der Behüter packte Perrin am Ärmel seines Mantels und zog ihn in Richtung Schenke. »Ich habe ein Mädchen wegrennen sehen, aber ich glaubte... Spielt keine Rolle. Ihr holt den Ogier aus dem Bett und schleift ihn zum Stall hinunter. Wir müssen jetzt unsere Pferde so schnell wie möglich zum Anlegeplatz schaffen. Das Licht allein weiß, ob heute nacht noch ein Schiff ablegt oder was wir zahlen müssen, damit eines extra für uns segelt. Stellt mir keine Fragen mehr, Schmied. Los schon, rennt!«


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