Sie hatte mit ihrer Vermutung recht gehabt. Stefan war mehr als wütend, als sie zurück kam. Er kochte.
Er erwartete sie vor dem Haus, in jener angespannten, beinahe schon verkrampften Haltung, die sie nur zu gut an ihm kannte und die er wohl als einziger für gelassen hielt, und sein Gesicht verfinsterte sich zusehends, als er die zweite Gestalt auf dem Beifahrersitz bemerkte. Liz warf einen raschen Blick nach rechts: Auch Peter hatte Stefan bemerkt, und auch ihm entging nicht, daß er alles andere als guter Laune war. Wie viele einfache Gemüter (Liz scheute selbst in Gedanken davor zurück, das Wort Beschränkte zu gebrauchen, obwohl es sicherlich zutraf) schien er sehr sensibel zu sein, was Stimmungen anging. Liz biß sich auf die Lippen. Ganz instinktiv fuhr sie die letzten Meter langsamer, als nötig gewesen wäre. Für einen Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als über telepathische Kräfte zu verfügen - ein einziges, falsches Wort von Stefan, und der kleine Erfolg, den sie errungen hatte, würde sich in einen um so größeren Rückschlag verwandeln. Sie warf Stefan einen fast flehenden Blick zu, als sie den Wagen zum Stehen brachte und den Motor abstellte. Aber sie war sich nicht sicher, daßer ihn bemerkte. Und wenn, ob er darauf reagieren würde.
Wenigstens polterte er nicht sofort los. Ohne ein Wort öffnete er die Wagentür, half ihr beim Aussteigen und nickte Heyning knapp zu, und Liz begann schon beinahe zu hoffen, daß er ihren Blick bemerkt und richtig gedeutet hatte. Aber schon seine ersten Worte belehrten sie eines Besseren.
»Ich hätte mir denken können, daß deine Sturheit die Oberhand behält«, sagte er mit schlecht unterdrückter Wut in der Stimme, als sie den Kofferraum öffnete und Heynings Gepäck her ausnahm. Er machte keine Anstalten, ihr dabei zu helfen, obwohl er sehen mußte, daß die beiden Koffer sehr schwer waren. Auch Peter rührte sich nicht, sondern stand einfach nur da, reglos und mit Augen, die dunkel vor furchtsamer Erwartung waren. Sein Blick huschte unstet zwischen ihr und Stefan hin und her. Er hatte Angst.
»So?« gab sie gereizt zurück. »Warum bist du nicht gefahren, wenn du doch wußtest, wohin ich will?« Sie warf den Kopf in den Nacken und funkelte ihn wütend an. Die Erinnerung an die entsetzliche Amok-Fahrt stieg wie eine Welle von Übelkeit in ihr hoch und schürte ihren Zorn noch. »Warst du schon einmal dort draußen, nachts?« zischte sie. Ihre Worte taten ihr im gleichen Moment schon wieder leid, noch bevor sie das verwunderte Auf blitzen in Stefans Augen sah, aber es war zu spät.
»Nachts?« wiederholte er verwirrt. Aber er hatte doch selbst gesagt, sie solle sich beeilen, weil es gleich dunkel würde!
»Unsinn«, sagte Liz hastig. Ihre Stimme kam ihr selbst ein bißchen zu schrill vor; beinahe hysterisch. Sie zog eine Grimasse, machte eine wütende Handbewegung und deutete auf die schäbigen Koffer. »Hilf uns lieber, das Gepäck hineinzubringen«, verlangte sie. Stefans einzige Reaktion bestand aus einem raschen, abfälligen Schürzen der Lippen und einem kalten Lächeln. Erstand reglos daneben und sah mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wie der kleine, schmächtige Heyning sich die viel zu schweren Gepäckstücke auf lud und auf das Haus zuwankte. Nun, dachte Liz in einem schwachen Versuch, sich zu beruhigen - immerhin hatte er sie all die Kilometer hierher getragen, ohne unter der Last zusammenzubrechen.
»Hier.« Der Autoschlüssel beschrieb einen glitzernden Bogen durch die Luft und landete in Stefans ausgestreckter Hand. »Fahr den Wagen in den Schuppen. Wenn dir das nicht zu viel Mühe macht, heißt das«, fügte Liz spitz hinzu.
Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und folgte Heyning ins Haus. Sie widerstand nur mit Mühe der Versuchung, sich unter der Tür herum zudrehen und zu Stefan zurückzublicken. Sie wußte, daß er dastehen würde, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt und das Gesicht voller stummem Vorwurf, der sehr deutlich sagte, wie ungerecht sie ihn behandelte. Sie wußte ganz genau, daß dies nichts als eine raffinierte Taktik war, aber sie wußte auch, daß sie sich - trotzdem - davon erweichen lassen würde, wenn sie sich jetzt herumdrehte und zu ihm zurückging. Also tat sie es nicht.
Als sie die Haustür hinter sich ins Schloß drückte, hörte sie draußen den Motor des Jaguars auf brüllen; ein Höllenlärm, zu dem sich Augenblicke später das Kreischen durchdrehender Reifen gesellte. Sie seufzte und wandte sich an Heyning, der unweit der Tür stehen geblieben war und ganz offensichtlich nichts mit seinen Händen anzufangen wußte. Sein Blick wich ihr aus. Er war sehr nervös.
»Sie schlafen vorerst in der kleinen Kammer neben der Küche«, sagte sie. »Dort.« Heyning nahm seine Koffer auf und wankte unter der Last auf die Tür zu, die sie ihm mit einer Kopfbewegung gewiesen hatte. Wie alle Türen hier im Haus - alle außer denen im Wohn-, Schlaf- und Stefans Arbeitszimmer, die er eigenhändig vergrößert hatte, nachdem er sich ein halbes Dutzend Mal den Schädel angestoßen hatte - war sie so niedrig, daß selbst Peter sich hindurch bücken mußte. Liz drängelte sich an ihm vorbei, tastete im Dunkeln nach dem altmodischen Drehschalter und drehte ihn wie gewöhnlich ein Stück zu weit, so daß das Licht für einen kurzen Moment aufflammte und sofort wieder erlosch. Liz zog eine Grimasse und drehte den Schalter behutsam ein winziges Stück zurück. Diesmal blieb das Licht an. Das nächste, was sie erneuern würden, nahm sie sich vor, waren die Lichtschalter im ganzen Haus. Aber sie hatte sich schon eine Menge Dinge vorgenommen, seit sie dieses Haus bezogen hatten, ohne auch nur ein Zehntel davon bisher in die Tat umgesetzt zu haben. »Wir haben nicht mehr damit gerechnet, Personal zu finden«, sagte sie entschuldigend, als sie Licht gemacht und Heyning den winzigen Raum betreten hatte. Liz erschrak selbst, als sie sich umdrehte. Das Licht der nackten Glühbirne unter der Decke zeigte ihnen ein schmuddeliges Loch, in das sie normalerweise nicht einmal einen Hund gesteckt hätte.
Das Zimmer war winzig - ein ungleichmäßiges Rechteck von drei auf fünf Schritten, das durch die niedrige Decke noch kleiner erschien, als es ohnehin war. Die Muster der Tapeten waren so verblichen, daß sie nicht einmal mehr zu erraten waren - irgendeine Geschmacklosigkeit aus rankenden Wein blättern oder ähnliches, vermutete Liz -, und trotz der vorgelegten Läden war zu erkennen, wie schmutzig die Fensterscheiben waren; blind und grau wie kleine rechteckige Platten aus halb durchsichtigem Blei, nicht wie Glas. Eine davon war in einem komplizierten Muster gesprungen, das sie an ein Spinnennetz erinnerte. In der Luft hing ein so durchdringender Geruch nach Feuchtigkeit und Moder, daß Liz im allerersten Moment fast Mühe hatte, hier drinnen zu atmen. Grünlicher Schimmel hatte sich in den Ritzen der ausgetretenen Fußbodenbretter festgesetzt. Die Einrichtung bestand aus einem hart aussehenden Bett, das wahrscheinlich genauso alt war wie das Haus selbst, einem wackeligen Tisch und einer niedrigen Kommode. Stühle gab es nicht.
»Wir... wir suchen gleich morgen eine bessere Unterkunft für Sie«, sagte Liz verlegen. Seltsam: Sie hatte gewußt, daß das Zimmer heruntergekommen war - aber sie hätte schwören können, daß es nicht so ausgesehen hatte! »Vielleicht - wenn wir noch mehr Leute finden - bauen wir das Gesindehaus wieder auf«, sagte sie lahm, nur aus dem Bedürfnis heraus, überhaupt etwas zu sagen.
Heyning lud sein Gepäck auf dem Tisch ab und sah sie schuldbewußt an. »Sie haben sich also mit Ihrem Mann gestritten.«
Liz schüttelte den Kopf. »Quatsch«, sagte sie ein wenig zu heftig, um noch überzeugend wirken zu können. Sie lächelte verlegen. »Das sieht nur so aus, Peter. Wir streiten uns eigentlich nie - und wenn doch, reißen wir uns bestimmt nicht gegenseitig die Köpfe ab. Machen Sie sich darum keine Sorgen.«
Sie lächelte abermals, sah sich mit wachsendem Unbehagen im Zimmer um und entdeckte noch mehr Anzeichen von Verfall und Alter, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Eine der Wände war feucht, ein fast mannsgroßer Fleck, der in der schlechten Beleuchtung nur schwach zu erkennen war und fast die Form einer großen, sechs fingrigen Hand hatte, und die Decke hing in der Mitte ein wenig durch, wo das Gemisch von Lehm und Stroh unter der Last der Jahrzehnte nachgegeben hatte. Sonderbar erweise war sie von makelloser Farbe. Der Anblick erinnerte Liz an den aufgedunsenen Bauch eines toten weißen Wales. Sie verscheuchte den Gedanken, lächelte noch einmal flüchtig und ging zur Tür. »Für heute haben Sie frei«, sagte sie, ehe sie hinausging.
»Und morgen früh können Sie ausschlafen, so lange Sie wollen. Sie müssen furchtbar müde sein. Der Weg ist bestimmt anstrengend gewesen. Wenn Sie ausgeschlafen haben, sehen Sie sich in aller Ruhe erst einmal den Hof an. Zu arbeiten brauchen Sie morgen noch nicht. Nach dem Abendessen setzen wir uns dann zusammen und unterhalten uns darüber, wie wir aus diesem Trümmerhaufen wieder einen funktionierenden Hof machen. Und jetzt schlafen Sie. Es ist spät.«
»Sie... Sie werden Ihrem Mann doch nichts erzählen?« fragte Heyning ängstlich. Liz nahm die Hand von der Klinke und trat noch einmal auf ihn zu. »Wovon?« fragte sie. »Von Andy?«
Peter nickte. »Und... und Ohlsberg.«
»Nein«, sagte sie, wenn auch erst nach kurzem Überlegen, das Peter keineswegs entgehen konnte. »Wenigstens heute noch nicht. Und auch morgen nicht. Nicht, bevor Sie es mir erlauben. Überlegen Sie es sich, solange Sie wollen. Und wenn es so weit ist, kommen Sie zu mir. Und haben Sie keine Angst vor Stefan. Er wirkt manchmal ein bißchen brummig, aber im Grunde ist er ein netter Kerl.« Sie lächelte aufmunternd, drehte sich rasch um und verließ den Raum.
Draußen lehnte sie sich schwer atmend gegen die Wand, schloß für einen Moment die Augen und wartete, bis sich ihr rasender Pulsschlag wieder einigermaßen beruhigt hatte. Was war nur mit ihr los? Sie war sicher, daß sich das Zimmer verändert hatte, und das war nicht alles - gerade, als sie mit Peter sprach, da hatte er sich für den Bruchteil einer Sekunde wieder in diese entsetzliche Schattengestalt mit dem Gorgonenhaupt verwandelt, als die sie ihn schon draußen im Wald gesehen hatte. Was geschah mit ihr? Verlor sie allmählich den Verstand, oder begann sich in diesem Haus wirklich irgend etwas zu verändern, langsam, ganz langsam, aber keineswegs unmerklich?
Liz atmete ein paar mal tief und gezwungen langsam ein und aus, hob die Hände vor die Augen und zwang sie mit enormer Willenskraft, nicht mehr zu zittern. Erst dann stieß sie sich von der Wand ab und ging ins Wohnzimmer hinüber. Ihre Knie zitterten. Eine völlig neue, unbekannte Art von Furcht hatte sich in ihr Herz gekrallt.