18.

Stefan parkte den Wagen direkt vor der Haustür und klappte den winzigen Kofferraum auf, in den sie ihr Gepäck gequetscht hatten. Er machte nicht einmal den Versuch, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Nicht, daß Liz besonderen Wert auf antiquierte Höflichkeiten legte, aber Stefans Verhalten zeigte deutlicher als seine Worte, wie gründlich ihr Verhältnis gestört war.

Sie ging die wenigen Schritte bis zum Haus, klappte ganz automatisch ihre Handtasche auf, um nach dem Schlüssel zu suchen, und schloß sie wieder, als ihr einfiel, daß die Tür sicherlich nicht abgeschlossen war; das Haus war ja nicht mehr leer. Und das Licht hinter den Fenstern bewies, daß Peter bereits wach war.

Sie sah auf die Uhr. Es war nicht einmal fünf. Stefan hatte nicht übertrieben, als er Peter als Frühaufsteher bezeichnet hatte. Liz überlegte vergeblich, was in aller Welt es auf diesem Hof zu tun geben mochte, das nicht bis zu einer normalen Uhrzeit warten konnte.

»Geh schon vor«, sagte Stefan, nachdem er die Koffer vor der Tür abgestellt hatte. »Ich fahr' noch rasch den Wagen in den Schuppen. Machst du uns noch einen Kaffee?« Liz nickte, obwohl ihr ganz gewiß nicht danach zumute war, sich jetzt noch in die Küche zu stellen und Kaffee zu kochen. Sie wollte nur ins Bett und schlafen. Aber auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.

Sie bückte sich nach ihrem Koffer, nahm ihn auf und öffnete ungeschickt mit der gleichen Hand die Haustür. Und noch einmal, ein allerletztes Mal, zögerte sie. Sie sollte nicht hier hineingehen, weder jetzt noch irgendwann. Es war nur ein Gefühl, noch dazu eines, das durch nichts wirklich begründet war, aber es war so deutlich, daßes beinahe die Qualität von Wissen erreichte: die Falle war dabei, sich zu schließen, und Stefan und sie taten alles in ihrer Macht stehende, noch im allerletzten Moment hineinzuschlüpfen...

Die Tür schlug hinter ihr zu, und das Geräusch schnitt den Gedanken ab. Warmes gelbes Licht umgab sie, und...

Es ging unglaublich schnell, aber das Gefühl durchströmte sie mit einer Intensität, die sie aufstöhnen ließ: irgend etwas veränderte sich. Es war nichts, was sie sehen oder hören oder mit irgendeinem ihrer anderen Sinne wahrnehmen konnte, aber sie spürte es über deutlich: Das Haus hieß sie willkommen.

Verwirrt blieb sie stehen, sah sich um und versuchte irgendeine wenigstens annähernd logische Begründung für diese sonderbaren Gedanken zu finden, was natürlich mißlang. Aber das Gefühl war zu intensiv, um es zu verleugnen.

Sie war wieder zu Hause.

Zurückgekehrt an den einzigen Ort auf der Welt, wo sie hingehörte.

»Verrückt«, murmelte sie. »Das ist... verrückt.«

Möglicherweise war es das - aber diese Erkenntnis half nicht im geringsten. Verrückt oder nicht, das stärkste Gefühl, das sie im Moment hatte, war das, nach Hause gekommen zu sein. Sie fühlte sich wie der Teil eines Puzzlespieles, der endlich an seinen angestammten Platz gefunden hatte, mehr noch, wie...

Und dann wußte sie es.

Mit einem Male wußte sie, woher das Gefühl der Bedrohung kam. Mit einem Male wußte sie, was diese Unruhe zu bedeuten gehabt hatte, woher das Gefühl kam, so schnell wie möglich zurückkehren zu müssen. Das Haus. Es war dieses Haus. Es hatte sie gerufen. Es brauchte sie. Brauchte sie, um...

... einer Gefahr zu begegnen?

Ja, das war es, das und nichts anderes. Nicht sie war es, die in Gefahr war, sondern das Haus.

Aber in welcher?

Plötzlich war ihr, als erwache sie aus einem Traum. Jäh, von einer Sekunde auf die andere, nahm sie ihre Umgebung mit fast übernatürlicher Klarheit wahr, jedes noch so winzige, scheinbar unwichtige Detail - das war die Tür zur Küche, unter der blasses gelbes Licht auf den abgedunkelten Korridor hinaus drang, daneben die zu Peters Zimmer, aber es war jetzt wieder eine normale Tür, nicht dieses entsetzliche DING, in das es sich vor ihren Augen verwandelt hatte. Es war sehr warm im Haus, und es war eine angenehme, sehr wohltuende, beschützende Wärme. Sie spürte all die vertrauten Gerüche, hörte die tausend kleinen Laute, die zu diesem Haus gehörten, die Stimmen, die aus der Küche...

Stimmen ?

Sie stellte den Koffer ab und lauschte einen Moment lang mit gerunzelter Stirn. Kein Zweifel - das waren Stimmen.

Und sie kamen aus der Küche. Hatte Peter Besuch?

Langsam trat sie auf die Küchentür zu, hob die Hand und zögerte dann noch einmal. Dann runzelte sie die Stirn. Was, zum Teufel, tat sie? Dies hier war ihr Haus, verdammt nochmal! Mit einer fast wütenden Bewegung drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür auf.

Die Küche war hell erleuchtet. Die Kaffeemaschine auf der Anrichte blubberte geschäftig vor sich hin, auf dem Tisch standen zwei Tassen, und in der Luft hing der Geruch von Peters starken selbst gedrehten Zigaretten. Heyning selbst saß am Tisch, und der Blick, mit dem er bei ihrem Eintreten auf sah, war eine Mischung aus Schrecken, Überraschung, schlechtem Gewissen und ganz eindeutiger Erleichterung. Und er war nicht allein.

Liz erkannte Ohlsberg, noch bevor er sich zu ihr herumdrehte. Er trug die gleiche, am Kragen und den Ellbogen schon glänzend gewordene schwarze Arbeitsjacke, die er bei ihrem letzten Zusammentreffen angehabt hatte, die gleichen braunen Hosen und schweren geschnürten Arbeitsschuhe - und sie spürte die gleiche, kaum verhohlene Mischung aus Verachtung und Herablassung, mit der er im Dorfkrug mit ihr gesprochen hatte. Diesmal war eine ganz sachte Spur von Unsicherheit dabei. Aber sie begriff rasch, daß dies wohl sehr viel mehr daran lag, daß er nicht mit ihrem plötzlichen Auftauchen gerechnet hatte und sich ertappt fühlte. Es war kein Respekt, und schon gar nicht vor ihr. Nicht einmal so etwas wie ein Ausdruck von schlechtem Gewissen.

Allein diese Erkenntnis reichte, ihre Überraschung unversehens in Wut umschlagen zu lassen. Was, zum Teufel, tat dieser Kerl hier? Mit einer einzigen, sehr heftigen Bewegung trat sie vollends in die Küche hinein und warf die Tür hinter sich zu. Peter sprang erschrocken von seinem Stuhl hoch und erstarrte, als ihn ihr Blick streifte, während Ohlsberg schon wieder so überheblich und gelassen aussah wie immer. Ganz offensichtlich hatte er seine Überraschung bereits überwunden.

Einen Moment lang blieb Liz einfach unter der Tür stehen und starrte ihn an. »Ohlsberg?« sagte sie schließlich. »Sie?« Sie schüttelte den Kopf, blickte noch einmal flüchtig zu Peter hinüber, der noch immer in der schon beinahe grotesken Haltung dastand, in der er erstarrt war, und machte eine herrische Handbewegung, sich zu setzen.

»Frau König.« Ohlsberg deutete ein Nicken an, stand sehr umständlich auf und nahm seine Pfeife aus dem Mund; beides Bewegungen, die dem einzigen Zweck dienten, Zeit zu gewinnen.

»Ich hoffe doch, Sie haben eine einleuchtende Erklärung für Ihr Hier sein, Herr Ohlsberg.« Liz lächelte kalt, wartete aber die Antwort auf ihre Frage nicht ab, sondern ging mit zwei schnellen Schritten zur Anrichte und nahm eine Tasse aus dem Hängeschrank über der Spüle. Ihre Finger zitterte nein ganz kleines bißchen, als sie den Filter von der Kaffeemaschine nahm und die Tasse randvoll goß, aber sie wußte selbst nicht, ob es nun Zorn oder Übermüdung waren, die ihre Bewegungen unsicher werden ließen. Wahrscheinlich beides.

Aber gleich, was es war - als sie sich herumdrehte und Ohlsberg ansah, war nichts mehr davon geblieben. Ihre Hände zitterten kein bißchen, als sie die Kaffeetasse hob und an dem heißen Gebräu nippte.

»Was tun Sie hier, Ohlsberg?« fragte sie. Sie sprach betont ruhig, beinahe schon beiläufig, und trotzdem mußte irgendetwas in ihren Worten sein - vielleicht auch in ihrem Blick, was Ohlsbergs Selbstvertrauen sichtbar erschütterte. Er griff abermals nach seiner Pfeife und nahm einen tiefen, nervösen Zug.

»Ich...«, begann er.

»Ihnen ist zu Ohren gekommen, daß niemand hier ist«, unterbrach ihn Liz, so freundlich, wie sie nur konnte. »Nicht wahr? Und da haben Sie die Gelegenheit ergriffen, ein paar Worte mit Ihrem Spion zu wechseln.« Sie deutete auf Peter, ohne Ohlsberg allerdings auch nur eine halbe Sekunde aus dem Bann ihres Blickes zu entlassen. »Eine günstigere Gelegenheit findet sich sicher nicht, ein bißchen hier herumzuschnüffeln.« Sie lächelte bei diesen Worten, aber sie hörte selbst, wie kalt und herausfordernd ihre Stimme klang. Ohlsberg starrte sie an. Zu ihrer Verwunderung schwieg er, und sie begann sich zu fragen, ob sie nicht einen Fehler begangen hatte, Ohlsberg so direkt und - ja, auch ungeschickt anzugreifen. Sein Blick spiegelte Erstaunen, aber auch jenen bösen, überheblichen Triumph, mit dem er sie schon bei ihrem Streit im Dorfkrug so verletzt hatte. Dann begriff sie: Wenn sie ihn ganz offen beleidigte - nicht daß sie Angst davor hatte -, aber wenn sie es tat, so gab sie ihm Gelegenheit, sich ebenso plump aus der Affäre zu ziehen. Wenn sie eine Chance haben wollte, als Siegerin aus diesem ungleichen Kampf her vorzugehen, dann mußte sie ihn au fein Terrain locken, auf dem sie ihm überlegen war.

Sie nippte erneut an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. »Dieser Kaffee schmeckt scheußlich«, sagte sie. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich einen Eid schwören, daß Stefan ihn verbrochen hat. Haben Sie ihn gekocht, Peter?« Peter nickte. Sein Blick flackerte, und sie sah, daß seine Finger sich mit aller Kraft an die Tischkante klammerten, als hätte er Angst, den Halt zu verlieren. Sie trank einen weiteren, winzigen Schluck und schmiegte beide Hände um die schwere Keramiktasse, wie um sich an dem heißen Getränk zu wärmen. Dann sah sie wieder zu Ohlsberg hinüber.

»Tut mir leid, Herr Ohlsberg. Ich war... etwas unhöflich, fürchte ich.«

»Das macht nichts«, antwortete Ohlsberg, in einem Tonfall, der sogar echt klang. Und für einen Moment war es fast, als könnte sie seine Gedanken lesen. Er war echt, begriff Liz plötzlich. Dieses impertinente Arschloch nahm ihr ihre Worte wirklich nicht übel, ganz einfach, weil sie eine Frau war und somit zu einer Untergattung der menschlichen Rasse gehörte, die ihn so wenig beleidigen konnte wie ein Hund oder eine Kakerlake. Ärgern, verletzen und wütend machen sicherlich - aber doch nicht beleidigen. Liz' Hände schlossen sich so fest um die Kaffeetasse, daß das Material hörbar knackte. Eine Woge brennend heißer Wut stieg in ihr hoch. Trotzdem war sie erstaunlich beherrscht, als sie weiter sprach. »Nun, was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches, Herr Ohlsberg?«

Ohlsberg antwortete nicht gleich, denn draußen fiel die Haustür ins Schloß, und dann hörte man Stefan auf dem Korridor lautstark rumoren. Ohlsberg blickte fast sehnsüchtig zur Tür.

»Sie müssen nicht auf Stefan warten, um zu antworten«, sagte Liz freundlich. »Ich bin durchaus in der Lage, mich in seiner Abwesenheit halbwegs gebildet zu unterhalten.« Diesmal wirkte Ohlsbergs Lächeln nicht mehr ganz echt. Seine Augen glitzerten, aber sie war sich nicht sicher, ob es Zorn oder Spott war, was sie darin las. »Sie haben vollkommen recht mit Ihrer Vermutung, Frau König«, begann er. »Ich habe gehört, daß Ihr Mann und Sie weggefahren sind, und da wollte ich ein wenig nach dem Rechten sehen.«

Liz blickte auf ihre Armbanduhr.

»Um fünf Uhr morgens?«

Ohlsbergs Lächeln gefror weiter. Er sog an seiner Pfeife, blickte abermals zur Tür und machte eine Bewegung, als wollte er sich herumdrehen und sie kurzerhand stehenlassen. Dann huschte ein Ausdruck von Trotz über seine Züge. Nein - er würde sich ganz gewiß nicht von einer Frau aus dem Haus werfen lassen, und schon gar nicht von ihr.

»Es war nicht besonders klug von Ihnen, Peter gleich in den ersten Tagen mit dem Hof allein zu lassen«, sagte er, wobei er ihre letzten Worte ganz bewußt ignorierte.

»So?« Liz lächelte, hob die Kaffeetasse, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende, sondern setzte den Becher wieder ab und nahm sich Zucker und Milch vom Tisch, um von beidem schiere Unmengen in die bereits halb geleerte Tasse zu kippen. Sie haßte schwarzen Kaffee; aber es gab auch nichts Besseres, um einen klaren Kopf zu bekommen. »Ich hatte den Eindruck, daß er ganz gut allein zurechtkommt«, fuhr sie fort, ohne Ohlsberg dabei auch nur anzusehen. »Das einzige, was er noch lernen muß, ist vielleicht, keine Fremden ins Haus zu lassen, wenn Stefan, und ich nicht da sind.«

Ohlsberg starrte sie an. Seine Augen blitzten, und seine Kiefer preßten sich so fest aufeinander, daß Liz einen Moment lang ernsthaft darauf gefaßt war, ihn das Mundstück seiner Pfeife abbeißen zu sehen. Aber diesen Gefallen tat er ihr dann doch nicht. Und bevor sie zum nächsten Hieb ausholen konnte, ging die Tür auf, und Stefan kam herein.

Seine Reaktion, Ohlsberg hier anzutreffen, unterschied sich nicht einmal besonders von der Liz' - er war überrascht, natürlich, aber Liz war sehr sicher, daß es keine sonderlich angenehme Überraschung war. »Ohlsberg?« sagte er verwirrt. »Sie? Was tun Sie hier?«

Liz unterdrückte ein Lächeln. Sie war sehr sicher, daß Stefan das nicht hatte sagen wollen; die Worte waren ihm ganz impulsiv herausgerutscht. Aber sie hakte ebenso instinktiv nach.

»Er schnüffelt ein wenig herum«, sagte sie, mit einem Lächeln und in einem sonst freundlichen, verbindlichem Tonfall, als spräche sie eine Einladung zum Sonntagskaffee aus. »Was hast du gedacht?«

Stefan runzelte die Stirn, und jetzt war sie nicht mehr ganz sicher, wem sein Ärger galt - Ohlsberg ob seines zumindest verwunderlichen Hierseins oder ihrem bewußt unverschämten Ton. Es spielte auch keine Rolle mehr, denn Ohlsberg zeigte endlich die Reaktion, die sie provozieren wollte.

Er fuhr herum. Für einen ganz kurzen Moment zerbröckelte die Maske aus Selbstherrlichkeit und Verachtung, hinter der er sich verkrochen hätte.

Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Als er die Drehung vollendet hatte, waren seine Hände zu Fäusten geballt.

Der Ausrutscher dauerte nur eine Sekunde - nicht einmal, aber er reichte. Liz war sehr sicher, daß auch Stefan ihn gesehen hatte. Er hatte jetzt gar keine andere Wahl mehr, als sich auf ihre Seite zu stellen; selbst wenn er das vielleicht gar nicht wollte. »Ich muß Sie doch bitten, Frau König«, sagte Ohlsberg, jetzt wieder mühsam beherrscht, aber lange nicht mehr so kalt und überheblich, wie sie ihn kannte. »Ich...«

»Ich«, unterbrach ihn Liz mit leicht erhobener, schneidend kalter Stimme, »muß Sie jetzt bitten, mein Haus zu verlassen, Herr Ohlsberg. Und bevor Sie uns das nächste Mal besuchen, wäre eine Anmeldung vielleicht angebracht.«

»Liz!« Stefan seufzte, schüttelte mißbilligend den Kopf und warf ihr einen halb flehenden, halb beschwörenden Blick zu. »Vielleicht hatte Herr Ohlsberg ja einen Grund, so unverhofft vorbeizukommen«, sagte er.

»Den hatte ich in der Tat«, sagte Ohlsberg. Er starrte abwechselnd Stefan und sie an, sah für einen ganz kurzen Moment auf Peter herab - jetzt wurde sein Blick ganz eindeutig drohend - und wandte sich wieder an Stefan, ehe er fortfuhr. »Aber ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Moment ist, darüber zu sprechen. Ihre Frau scheint mir etwas überreizt zu sein.« Seine Stimme klang jetzt scharf, und eigentlich zum ersten Mal, seit Liz ihn kennengelernt hatte, glaubte sie echten Zorn an ihm zu bemerken. Wenigstens war es ihr gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.

»Keineswegs, Ohlsberg«, antwortete sie, obwohl er noch immer Stefan anblickte. »Ich reagiere auch sonst allergisch darauf, morgens um fünf einen Fremden in meiner Küche zu finden. Was wollten Sie hier?«

Ohlsberg sah nun notgedrungen doch zu ihr auf. Sein Blick spiegelte Wut. »Was ich hier wollte?« Er lachte böse. »Vielleicht wollte ich mich davon überzeugen, daß hier noch alles in Ordnung ist, Frau König«, sagte er gepreßt. »Ich weiß nicht genau, was Sie sich dabei gedacht haben, Peter gleich nach ein paar Tagen mit dem Hof allein zu lassen, aber...«

»Blödsinn«, unterbrach ihn Liz wütend. »Peter kommt alleine hier zehnmal besser zurecht als Stefan oder ich, und das wissen Sie sehr gut.«

»Darum geht es doch gar nicht.« Ohlsberg trat mit einer so heftigen Bewegung auf sie zu, daß es beinahe drohend wirkte. Liz sah, wie sich Stefan fast unmerklich spannte, und auch sie selbst fühlte einen leichten Schrecken, der aber so rasch verging, wie er kam.

»Natürlich kennt sich Peter hier zehnmal besser aus als Sie oder Ihr Mann«, fuhr er gereizt fort. »Trotzdem hätten Sie ihn nicht allein lassen dürfen. Nicht hier und schon gar nicht nach ein paar Tagen.« Er wandte sich an Stefan, und sein Ton wurde vorwurfsvoll, zugleich aber auch anklagend. »Ich dachte, ich hätte Ihnen deutlich genug gesagt, was mit ihm los ist.«

»Möglicherweise haben Sie es meinem Mann gesagt, Herr Ohlsberg«, fauchte Liz. »Mir nicht.«. Wütend trat sie auf ihn zu und deutete auf Peter. »Was soll mit ihm sein, Ohlsberg - außer, daß Sie den armen Kerl erpressen?«

Ohlsberg wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. »Sie...«

»Oder haben Sie sich wirklich eingebildet, Stefan und ich wüßten nichts davon?« fuhr sie aufgebracht fort. Peters Blick wurde flehend, aber der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht steigerte ihre Wut nur noch. »Dachten Sie, wir wüßten nicht, daß Sie Peter befohlen haben, uns ein bißchen auszuspionieren?« Sie lachte, aber es war keine Spur von Humor in diesem Geräusch. »Es hat nicht einmal einen halben Tag gedauert, bis wir es wußten.«

»Bitte, Ma'am«, sagte Peter gequält, aber Liz sah ihn nicht einmal an, sondern brachte ihn mit einer fast zornigen Handbewegung zum Verstummen.

»Keine Sorge, Peter«, sagte sie, ohne Ohlsberg dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Er wird Ihnen nichts mehr tun. Sie brauchen keine Angst mehr vor Ohlsberg zu haben. Nie wieder.«

Ohlsberg starrte sie mit einem Ausdruck an, der nur noch mit dem Wort Haß zu beschreiben war. Aber die erwartete Entgegnung blieb aus. Statt dessen nahm er betont langsam die Pfeife aus dem Mund, wandte sich an Peter und machte eine knappe, sehr befehlende Geste zur Tür. »Geh in dein Zimmer«, sagte er.

Liz hielt ihn mit einer wütenden Bewegung zurück; »Sie bleiben!« fauchte sie. Zu Ohlsberg gewandt, fügte sie in kaum weniger scharfem Ton hinzu: »Bis jetzt bestimmen noch immer wir, was unser Personal zu tun hat, Herr Ohlsberg!« Ohlsberg seufzte. Für einen ganz kurzen Moment hatte Liz das sichere Gefühl, daß er etwas Bestimmtes sagen wollte - aber dann war seine Reaktion ganz anders, als sie erwartete. Für fast zehn Sekunden starrte er sie nur, und in seinem Blick war etwas, was sie zwar auch wütend machte, viel mehr aber verwirrte. Dann nahm er die Pfeife aus dem Mund, seufzte tief und schüttelte ein paar mal hintereinander den Kopf. »Sie verstehen nichts«, sagte er leise, »überhaupt nichts.«

»Oh, doch«, fauchte Liz. »Genug jedenfalls, um zu begreifen, daß Sie mich und meinen Mann für sehr dumm halten müssen, Ohlsberg! Ich will gar nicht mehr wissen, was Sie wirklich hier gewollt haben. Ich will nur noch, daß Sie gehen, auf der Stelle. Verschwinden Sie, Ohlsberg. Verlassen Sie unseren Hof, und kommen Sie nie wieder, hören Sie!«

»Liz!« sagte Stefan noch einmal.

Liz fuhr herum, und nicht zum ersten Mal traf Stefan der Zorn, der eigentlich Ohlsberg galt. »Liz! Liz! Liz!«, äffte sie ihn nach. »Zum Teufel, was willst du?«

»Nichts, als daß du dich benimmst«, sagte Stefan mit geradezu aufreizender Ruhe. »Benehmen?!« Liz spürte selbst, daß sie kurz davor war, endgültig die Beherrschung zu verlieren. In ihrer Stimme war ein schwacher, aber warnender hysterischer Unterton, ihre Hände zitterten, und ihr Herz schlug so schnell und hart, daß es beinahe weh tat. Mit einem kleinen, klar gebliebenen Teil ihres Bewußtseins verstand sie, daß sie total überreagierte; sie benahm sich schlimmer, als hätte sie Ohlsberg dabei erwischt, das Familiensilber zu stehlen. Aber dieser Teil von ihr war hilflos. Da war noch eine andere, sehr viel stärkere Liz, die immer zorniger und wütender wurde und die sich mit aller Macht beherrschen mußte, um sich nicht wirklich auf Ohlsberg zu werfen und ihm die Augen auszukratzen. Es war, als wäre sie das nicht allein, als wäre da noch etwas, eine unsichtbare, böse Macht, die sie rasende rund rasender machte und jeden Versuch klaren Denkens schon im Ansatz erstickte. Sie war wütend wie nie zuvor in ihrem Leben.

»Benehmen?!« schrie sie noch einmal. »Ich soll mich benehmen? Bist du verrückt geworden? Wem, zum Teufel, gehört dieses Haus - uns oder ihm! ?« Sie fuhr herum und stieß so heftig mit dem Zeigefinger nach Ohlsbergs Gesicht, daß er erschrocken zurückprallte. »Falls Sie es vergessen haben sollten, Herr Ohlsberg«, fauchte sie, »dann sage ich es Ihnen noch einmal und sehr deutlich: mein Mann und ich haben dieses Haus gekauft. Es gehört uns, nicht Ihnen oder sonstwem, und weder Sie noch irgend jemand sonst hat das Recht, hinter unserem Rücken hier herumzuschnüffeln! Und jetzt verschwinden Sie endlich, bevor ich hinausgehe und den Hund losmache!«

Ohlsberg antwortete noch immer nicht, aber in seinem Blick war noch immer dieser sonderbare Ausdruck, der sie so sehr verwirrte: natürlich auch Zorn und Entrüstung, aber vor allem etwas, was sie gerade von ihm am allerwenigsten erwartet hätte - Mitleid.

»Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte Stefan halblaut. Ohlsberg nickte. Er versuchte sogar zulächeln, aber das gelang ihm dann doch nicht. Er war niemand, der Erfahrung darin hatte, zu schauspielern. Und Liz war ziemlich sicher, daß er zum ersten Mal im Leben in einer Situation wie dieser war. »Bitte«, fügte Stefan hinzu, als Ohlsberg sich zwar umwandte, dann aber noch einmal zögerte, das Zimmer zu verlassen. Liz hatte das sehr sichere Gefühl, daß er noch etwas sagen wollte - und daß es wichtig war - aber dann seufzte er nur, tippte zum Abschied gegen den Rand seiner Mütze und verließ die Küche. Liz hörte seine Schritte draußen auf den hölzernen Dielen poltern; wenige Augenblicke später fiel die Haustür lautstark ins Schloß, und fast im gleichen Moment begann Carry schrill und drohend zu kläffen.

»Ist der Hund angekettet?« fragte Stefan.

Peter nickte. »Ja. Da kann nichts passieren.«

»Schade«, fauchte Liz, obwohl sie wußte, wie albern sie sich benahm, »ich hätte nichts dagegen, wenn er diese malten Idioten kräftig in den Arsch beißt.«

Stefan seufzte. »Das war... ein bißchen übertrieben, findest du nicht?« sagte er. »Du hättest ihm eine Chance geben sollen.«

»Eine Chance?« fauchte Liz. »Wozu?«

»Zu erklären, warum er hier ist.«

»Wer sagt, daß mich das interessiert?« schnappte Liz. Sie nahm ihre Kaffeetasse, trank einen Schluck und mußte plötzlich mit aller Macht gegen das Bedürfnis ankämpfen, sie gegen die Wand zu werfen. Es war absurd, aber es tat ihr fast leid, daß Ohlsberg so schnell aufgegeben hatte. Innerlich tobte sie noch immer vor Wut, aber es war niemand mehr da, an dem sie diese Wut auslassen konnte.

Stefan blickte sie vorwurfsvoll an, seufzte wieder und schüttelte den Kopf. »Wir sollten später darüber reden«, sagte er. »In aller Ruhe. Im Moment sind wir wahrscheinlich beide nicht in der richtigen Verfassung dazu.«

Liz starrte ihn an. Der Wunsch, ihren Kaffee zu nehmen und ihm ins Gesicht zu schütten, wurde fast übermächtig. Aber zugleich spürte sie auch, daß dieser Wunsch nicht aus ihr selbst kam, sondern ihr eingegeben wurde, ein böses, unhörbares Flüstern, das aus den Wänden, dem Boden und der Decke drang.

Natürlich tat sie es nicht. Stefan hatte recht - sie waren beide übermüdet und reizbar, und vermutlich würde sie jedes weitere Wort, das sie jetzt noch sprach, bedauern. Aber das war ihr egal. Sie war zornig, sie war übermüdet, und sie hatte mehr Angst denn je, und da war ihr Ohlsberg gerade recht gekommen, um ihr als Fußabstreifer zu dienen. Alles, was ihr ein bißchen leid tat, war der Umstand, daß auch diese Runde ihres kleines Privatkrieges wieder einmal zu Peters Lasten ging - aber, wie gesagt, nur ein bißchen. Trotzdem drehte sie sich um, nachdem sie die geschlossene Tür hinter Ohlsberg noch eine Weile voller Feindseligkeit angestarrt hatte, sah auf Peter herab und machte schließlich wieder diese knappe, befehlende Geste, die sich - auch das wurde ihr voller plötzlichem Schrecken klar - nur sehr wenig von Ohlsbergs Art unterschied, mit Heyning umzugehen.

»Es ist gut, Peter«, sagte sie knapp. »Sie können gehen.«

Peter stand so rasch auf, daß er um ein Haar seinen Stuhl umgeworfen hätte, aber Liz rief ihn noch einmal zurück, ehe er die Tür erreichte.

»Mein Mann und ich werden heute vermutlich ein wenig länger schlafen«, sagte sie. »Sie sehen ja selbst, daß es spät geworden ist. Seien Sie also so nett und machen sich selbst etwas zu essen, ja? Die Küche steht Ihnen zur Verfügung.«

Peter nickte nervös, sagte aber immer noch nichts, sondern wartete einige weitere Sekunden ab und entfernte sich schließlich. Für einen kurzen Augenblick wurde es sehr still in der kleinen Küche, bis Stefan neben sie trat und sich ebenfalls eine Tasse Kaffee eingoß; langsam und mit den übertrieben präzisen Bewegungen eines Menschen, der an der Grenze seiner Kraft angelangt ist. Eingedenk dieses Umstandes war seine Stimme sehr ruhig, als er schließlich sprach.

»Das war übertrieben, findest du, nicht?« Gerade sein ruhiger Ton reizte Liz noch mehr. Zornig funkelte sie ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg an, sagte aber kein Wort, sondern zog nur die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel ein ganz klein wenig herab; eine Mimik, von der sie wußte, daß sie ihn mehr verletzte als alles andere. Wenn Stefan irgend etwas auf der Welt haßte, dann war es Überheblichkeit. Es funktionierte auch jetzt. Irgend etwas in Stefans Blick erlosch; mit einem übertrieben heftigen Ruck stellte er die Tasse zurück auf die Anrichte, drehte sich auf dem Absatz herum und stiefelte aus der Küche. Liz wartete darauf, daßer die Tür hinter sich zuwarf, aber natürlich tat er das nicht. Gott, wenn er doch nicht immer so verdammt beherrscht gewesen wäre! Warum konnte er nicht einfach einmal aus der Haut fahren und toben und Gift und Galle spucken wie ein ganz normaler Mensch?! Wütend schaltete sie die Kaffeemaschine aus, verließ die Küche und blieb im Korridor stehen. Sie war müde. Der Kaffee hatte sie nicht wacher gemacht, er hatte nicht einmal den schlechten Geschmack aus ihrem Mund vertrieben, und wenn sie den Kopf zu schnell bewegte, begann sich alles um sie herum zu drehen, und das Haus schien zu schwanken wie ein Boot auf stürmischer See. Trotzdem kam ihr der Gedanke einfach unvorstellbar vor, jetzt hin aufzugehen und sich neben ihn ins Bett zu legen, als wäre nichts passiert.

Sie starrte die Tür zu Peters Zimmer an - trotz ihrer Müdigkeit war es eine ganz normale, vom Alter gezeichnete Tür, nichts Lebendiges - und überlegte einen Moment, ob sie noch einmal zu ihm gehen und sich beim ihm entschuldigen sollte. Eigentlich wäre sie es ihm schuldig gewesen.

Aber eigentlich hatte sie es auch allmählich satt, sich ständig bei Gott und der Welt entschuldigen zu sollen, nur weil dieser Mistkerl von Ohlsberg sich ununterbrochen in ihr Leben mischte.

Sie würde etwas gegen ihn tun müssen, überlegte sie, während sie langsam die Treppe hin aufstieg. Bald.

Und sehr gründlich.

Загрузка...