42.

Sie war wieder im Schlafzimmer, aber es war kein Schlafzimmer mehr, sondern ein Gefängnis, denn der Schlüssel steckte nun von außen in der Tür, und sie war seit Stunden hier. Seit wie vielen, wußte sie nicht, aber es mußten sehr viele sein, denn draußen vor dem Fenster lag die Schwärze einer neuen Nacht. Der Tag war ihr irgendwie entglitten. Immer wieder war sie zwischendurch bewußtlos geworden. Zu Anfang hatte sie geweint; aber nicht sehr lange. Ihre Tränen waren versiegt, und ihre Augen waren jetzt trocken und taten einfach nur noch weh. Danach war Zorn gekommen : sie hatte sich gegen die Tür geworfen und mit den Fäusten dagegen gehämmert und aus Leibeskräften geschrien.

Dann - sie wußte es nicht, denn ihre Uhr war stehen geblieben, als sie gestürzt war, aber es war sehr lange nach Mitternacht - wachte sie zum letzten Mal auf; glitt hinüber von einem Alptraum in den anderen, der Wirklichkeit hieß, und sah sich um. Sie hatte Fieber. Sie hatte entsetzliche Schmerzen. Und irgend etwas in ihr war zerbrochen. Sie war nicht mehr fähig, Haß oder auch nur Furcht zu empfinden. Die Sicherung war wieder herausgesprungen, und diesmal war die Fassung geschmolzen, nichts und niemand würde sie wieder hin eindrücken können. Trotzdem war ihr Denken von einer sonderbaren Klarheit. So vieles, was sie vergessen zu haben glaubte, war plötzlich wieder in ihrem Kopf. So viele Fehler, die sie gemacht hatte, waren ihr plötzlich klar. Dann begriff sie: Der Störsender war abgeschaltet. Zum ersten Mal seit einer Woche erlaubte die Moorhexe ihr wieder, klar zu denken. Sie wollte, daß sie alles erfuhr. Litt. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr erst beim dritten Anlauf. Die Schmerzen waren noch immer zu schlimm. Ihr Kleid und das Bett waren dunkel vom Blut, und ein ekelhaft-süßlicher Geruch hing in der Luft. Wenn sie sich bewegte, dann war es immer noch, als würde ihr ein Messer zwischen die Beine getrieben, langsam und bis in den Magen hinauf. Ab und zu wurde ihr schwindelig. Als sie das Fenster erreichte, war ihr so übel, daß sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Ein sanfter Schrecken durch fuhr sie, als sie den Hof dunkel wie eine Schlucht unter sich liegen sah. War sie so lange hier oben gewesen? Sie wußte es nicht, aber irgendwie schien ihr die Vorstellung, daß sie einen ganzen Tag lang hier oben gelegen und geweint haben sollte, absurd. Irgendwie war ihr die Zeit entglitten. Sie erinnerte sich schwach, daß so etwas schon einmal passiert war; als sie durch den Wald gefahren war, um Peter abzuholen, vor einer Million Jahren oder so.

Offensichtlich verlor ES die Geduld. Etwas stimmte nicht mit der Zeit, entweder wirklich oder nur für sie. Sicher, überlegte sie, was wäre einfacher, als daß ES ihr subjektives Zeitempfinden veränderte. Nicht die ganze Welt drehte sich schneller, - sie lebte in einer Zeitlupe, ein Atemzug pro Minute, eine Ewigkeit für einen Gedanken, so daß ihr das, was rings um sie herum geschah, zigmal beschleunigt vor kam. Aber diese halb wissenschaftliche (oder zumindest pseudologische) Erklärung beruhigte sie kein bißchen. Ganz im Gegenteil - welche Macht besaß diese Kreatur, wenn ihr so etwas möglich war, nur um mit ihr zu spielen? Sie stellte sich vor, wie Stefan kichernd unten in der Diele stand und mit dem Finger die Zeiger der Standuhr drehte, immer schneller und schneller, damit der Tag endlich vorbei war.

Blödsinn. Sie hatte das Bewußtsein verloren und stundenlang im Fieber da gelegen, ohne es auch nur zu merken, so einfach war das. Sie mußte aufpassen. Ihren Feind zu überschätzen konnte ebenso tödlich sein wie ihn zu unterschätzen.

Die Schmerzen in ihrem Unterleib wurden stärker. Sie blutete. Das Leben tropfte aus ihr heraus, unbarmherzig. Und das schlimmste war, daß sie wußte, daß Stefan sie nicht einfach nur vergewaltigt hatte.

Es war nicht nur tierische Gier, die aus ihm herausgebrochen war. Sein Überfall wäre so oder so gekommen, auch wenn sie ihm nicht freundlicherweise einen Anlaß gegeben hätte.

Sex war wichtig. Es war kein Zufall, daß er in den meisten barbarischen Ritualen eine so große Rolle spielte. Er hatte es tun müssen. Es gehörte dazu, so wie der Mord an Peter (sie war sehr sicher, daß er tot war) dazugehörte. Keine schwarze Messe ohne Sex, kaum eine Religion ohne Vergötterung - oder Verteufelung - des Eros. Er war Teil des Opfers, denn er war ein Bruder des Schmerzes, der der Sex der Götter war. Warum kam niemand? dachte sie. Während der letzten Tage war Eversmoor wie ein Taubenschlag gewesen - warum kam jetzt niemand, ganz gleich wer, nur irgendein Fremder, so daß sie um Hilfe rufen konnte?

Aber selbst wenn - was würde es nutzen? Stefan würde ihn genauso umbringen, wie er Peter umgebracht hatte.

Ein leises, noch sehr, sehr weit entferntes Grollen ließ sie aufsehen. Irgendwo hinter dem Wald flackerte ein blauweißer Blitz wie eine Nadel aus Licht, und fast in der gleichen Sekunde erreichten die ersten Vorboten des Gewitters den Hof: Ein einzelner Regentropfen klatschte gegen die Scheibe, gleich darauf ein zweiter, dritter... und wieder ein Donnerschlag. Das Unwetter kam sehr schnell näher. Der letzte Akt des Dramss begann, und er begann so, wie es sich für eine Geschichte wie diese gehörte. Sie sah nach oben, aber der Himmel war verschwunden. Als der nächste Blitz auf zuckte, erkannte sie eine kompakte schwarze Masse aus Wolken, die den Mond und die Sterne verschlungen hatten. War heute Vollmond? War es das, was Stefanie ihr hatte sagen wollen, als sie starb?

Sie überlegte. Nein - es war ein ganz normaler Tag, keine Werwolfnacht. Aus dem Wald kamen auch keine Vampire geflattert, um gegen das Fenster zu prallen. Die Moorhexe hatte eine Schwäche für dramatische Auftritte, aber sie war trotzdem eine gute Regisseurin; keine Gefahr, daß sie ins Kitschige ab glitt.

Dann sah sie ein anderes Licht, genauer gesagt zwei. Zuerst waren es nur Punkte, wie runde leuchtende Katzenaugen. Sie tauchten im Wald auf, verschwanden, erschienen wieder und verschwanden erneut, als sie den willkürlichen Kehren und Wendungen des Weges folgten, der sich Eversmoor näherte. Ein dumpfes Knattern wehte durch das Klatschen der Regentropfen zu Liz empor. Ein Wagen. Das war ein Wagen.

Liz versteifte sich. Jemand kam. Jemand kam mitten in der Nacht hierher, obwohl es eigentlich niemanden mehr gab, der ein Interesse daran haben dürfte. Ihre Gebete waren erhört worden.

Aufgeregt preßte sie das Gesicht gegen die Scheibe und versuchte, den näher kommenden Wagen deutlicher zuerkennen - was natürlich ganz und gar unmöglich war. Das Rauschen des immer stärker nieder prasselnden Regens verschluckte sein Motorengeräusch, und die regennasse Scheibe ließ das Licht der beiden Scheinwerfer zersplittern.

»Ich würde das nicht tun, wenn ich du wäre.«

Sie hatte nicht einmal gehört, daß er die Tür geöffnet hatte, aber Stefan stand bereits zwei Schritte hinter ihr, als sie sich herumdrehte. Sie erschrak, als sie ihn sah. Er hatte sich verändert, nicht sehr, aber auf entsetzliche Weise: dunkle, an schlecht verheilte Pockennarben erinnernde Flecken verunzierten sein Gesicht und seine Hände. Seine Lippen hingen schlaff herab, und irgend etwas stimmte mit seinen Augen nicht, ohne daß sie es genau erkennen konnte. Sein ganzes Gesicht wirkte schlaff, wie bei einem Betrunkenen. Erschien die Kontrolle über seine Muskeln zu verlieren. Ein ganz schwacher, unangenehmer Geruch ging von ihm aus.

»Was?« fragte sie mühsam.

Stefan deutete auf das Fenster. »Es ist ein bißchen zu hoch, um zu springen. Du brichst dir alle Knochen.«

Er dachte offensichtlich, daß sie aus dem Fenster klettern wollte, um zu fliehen. Liz ließ ihn in diesem Glauben. Er durfte den Wagen nicht sehen. Auf keinen Fall. So unauffällig sie konnte, drehte sie sich vollends herum und versuchte gleichzeitig, ihm die Sicht nach draußen zu versperren. Es war eine einzige Chance, erbärmlich winzig, aber es war eine Chance. Die unwiderruflich letzte, die sie bekam.

»Und?« fragte sie kalt. »Würde es dich stören?«

Stefan antwortete nicht. Seine kalten gelben Augen musterten sie abschätzend. Irgend etwas bewegte sich unter seinem rechten Auge, ein kleines körniges Ding mit vielen Beinen, das dicht unter der Haut entlang kroch. Der Anblick machte ihr kaum Angst, aber er erfüllte sie mit Ekel.

»Was willst du?« fragte sie.

Stefan deutete hinter sich. »Komm mit.«

Liz rührte sich nicht. Mit einem Mal hatte sie doch Angst, wenn auch nicht sehr viel. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. War er gekommen, um sie zu töten ?

»Komm mit«, sagte er noch einmal, als sie nicht reagierte. Auch seine Stimme klang verändert, ganz plötzlich. Es war noch seine Stimme, aber da war auch noch etwas anderes, als wären es in Wirklichkeit zwei Wesen, mit denen sie sprach. Sie las in seinem Blick, daß er sie mit Gewalt aus dem Zimmer schleifen würde, wenn sie jetzt nicht gehorchte. Sie mußte mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, sich herum zudrehen und aus dem Fenster zu blicken. Wo war der Wagen? Und was, dachte sie, benommen vor Schrecken, wenn er weit erfuhr, vielleicht nur ein Fremder, der sich in der Dunkelheit verfahren hatte?

Mühsam löste sie sich von ihrem Platz am Fenster und ging an Stefan vorbei. Die Schmerzen waren schlimm, aber sie konnte mit zusammengebissenen Zähnen gehen, und sie würde rennen können, wenn es sein mußte.

Stefan dirigierte sie mit leichten, aber sehr drohenden Stößen in den Rücken zur Treppe. Sie hörte jetzt Geräusche von unten. Jemand war im Wohnzimmer, und die Tür zur Küche stand einen Spalt breit offen; blasses Licht fiel heraus und zeichnete ein gelbes Dreieck auf den Boden. Ihr Blick fiel auf die Standuhr, als sie durch die Diele gingen. Es war fünf Uhr dreißig. Die Nacht war schon fast wieder zu Ende, und wieder hatte sie das Gefühl, daß ihr irgendwo etliche Stunden abhanden gekommen waren; wenn die Uhr und die Dunkelheit dort draußen nicht logen, war sie über zwanzig Stunden oben im Schlafzimmer eingesperrt gewesen. Seltsam, daß sie weder Hunger noch Durst hatte. Nur ein ganz kleines bißchen Angst, und nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem, was er ihr antun würde, sondern die ganz profane Angst vor Schmerzen, die jedes lebende Wesen kennt, das ein Nervensystem sein eigen nennt.

Aber noch hatte sie Zeit. Während sie an der Uhr vorbeigingen, rückte der Minutenzeiger mit einem hörbaren Klick um einen Strich weiter, aber irgendwie wußte sie, daß seine Reise noch nicht zu Ende war.

Die Zahl des Tieres war noch nicht erreicht.

Stefan deutete stumm auf die Wohnzimmertür, durch die noch immer diese sonderbaren Laute drangen. Etwas stimmte nicht mit ihr. Wie Stefan - wie das ganze Haus - begann sie sich zu verwandeln, aber die Veränderung war noch nicht deutlich genug, als daß sie sie genau erkennen konnte. Ihre Form schien ein ganz kleines bißchen anders, Linien und Winkel um eine Winzigkeit verschoben, in eine Richtung verschoben, die es gar nicht gab, alles wirkte weicher, fließender, organischer...

»Geh endlich!« Stefan versetzte ihr einen derben Stoß zwischen die Schulter blätter, und draußen auf dem Hof wurde das Nageln eines Dieselmotors laut. Die Lichtbündelder Scheinwerfer wischten über das Glas der Eingangstür;für eine Viertelsekunde war die Diele in kalkweiße Helligkeit getaucht, Stefans Gesicht eine Totenmaske mit schwarzem Ausschlag, die Einrichtung und ihre Schatten verzerrt wie Ausschnitte aus einem surrealistischen Bild, dann wanderten die Licht bündel weiter, und Dunkelheit senkte sich über Liz.

Stefan erstarrte. Für einen Moment wirkte er unentschlossen, und für einen noch kürzeren Augenblick sah er aus, als würde er in Panik geraten. Wer immer dort kam, dachte Liz, Stefan hatte ihn nicht erwartet. Aber der Moment verstrich ungenutzt. Wenn es überhaupt eine reelle Chance gewesen war, ergriff Liz sie nicht. Stefans Schrecken verging so schnell, wie er gekommen war. Er fuhr herum, packte sie grob am Arm und stieß sie grob zur Seite.

»Da hinein«, fauchte er, während er die Tür zu Peters Kammer auf stieß, voller Ungeduld und so heftig, daß sie drinnen gegen die Wand prallte. Der Laut, mit dem sie es tat, klang sonderbar gedämpft und weich in Liz' Ohren, und dahinter lastete graues Licht, wie ganz matt leuchtender Nebel. (Die TÜR! Plötzlich erinnerte sie sich: Großer Gott, die...) »Nein!« keuchte Liz. »Nicht dort hinein!« Sie bäumte sich auf, versuchte mit aller Gewalt, seinem Griff zu entschlüpfen, aber Stefans Hand legte sich wie eine eiserne Klammer um ihren Nacken; seine Finger drückten mit entsetzlicher Kraft auf die empfindlichen Nerven bahnen in ihrem Hals, und der Schmerz explodierte wie eine Sonne in ihren Schultern. Draußen auf dem Hof er starb das Tuckern des Dieselmotors, aber eine Sekunde später erscholl ein dreifaches, abgehacktes Hupen, dann klappte eine Autotür. Schwere Schritte näherten sich dem Haus.

Stefan schleuderte sie auf Peters Bett herab. »Du bleibst hier«, sagte er. »Wenn du schreist, bringe ich dich um.«

Das schlimmste war der Ton, in dem er das sagte: der gleiche Ton, in dem er Ach, wenn du in die Stadt fährst, bring mir doch bitte Zigaretten mit gesagt hätte. Er würde sie töten, wenn sie auch nur einen Mucks von sich gab, das war klar.

Draußen kamen die Schritte näher, und dann polterte jemand gegen die Tür, kein Klopfen, sondern das schwere Hämmern ungeduldiger Fäuste. Stefan warf ihr noch einen letzten, drohenden Blick zu, zog die Tür hinter sich ins Schloß und drehte den Schlüssel herum.

Liz blieb einen Moment reglos liegen, bis sich das dumpfe Hämmern in ihrem Kopf halbwegs beruhigt hatte. Sie schmeckte Blut, und wieder wurde ihr übel. Wie durch dichten dämpfenden Nebel hindurch konnte sie hören, wie Stefan zur Tür ging und sie öffnete. Er sagte etwas, was sie nicht verstand, und gleich darauf antwortete eine andere Stimme. Sie verstand auch ihre Worte nicht, aber sie erkannte sie. Belderson.

Es war Belderson, der gekommen war.

Aber warum? Was wollte er hier, zu dieser Zeit? Gehörte er... Großer Gott, gehörte er dazu ?!

Liz stemmte sich hoch, drängte Übelkeit und Schmerz zurück und schleppte sich zur Tür. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich seltsam an, die jahrhundertealten Bohlen waren weich wie Schwämme, und ihre Schritte verursachten nicht das aller mindeste Geräusch. Plötzlich fiel ihr die Wärme auf, eine seltsam lebendige Art von Wärme, fast schwül, wie...

Sie verjagte die Vorstellung (Wie oft würde es ihr noch gelingen, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, die sie längst erkannt hatte?), kämpfte auch ihren Ekel nieder und legte das Ohr gegen die Tür; ein Gefühl, als presse sie das Gesicht gegen eine gewaltige blutige Wunde.

Sie konnte noch immer nicht verstehen, was Stefan und Belderson redeten, aber es war deutlich, daß es ein sehr erregtes Gespräch war, fast ein Streit. Stefan schrie, und Beldersons Antworten waren kaum leiser. Egal - was immer dort draußen vorging; sie konnte es nutzen.

Sie blickte zum Fenster. Die Dunkelheit draußen war intensiver als die hier drinnen. Einen Moment lang zögerte sie noch, lauschte - der Streit wurde allmählich lauter, und ein-, zweimal glaubte sie deutlich ihren Namen zu hören - und wandte sich entschlossen um. Ganz kurz bevor sie das Fenster erreichte, schoß ihr durch den Kopf, daß es eine Falle sein mochte. Es erschien ihr absurd, daß Stefan dieses Fenster einfach vergessen haben sollte. Möglicherweise sollte sie dort hinaus klettern, um... Blödsinn. Stefan war in Panik geraten, als er den Wagen hörte. Menschen, die in Panik sind, machen Fehler. Monster wahrscheinlich auch.

Sie erreichte das Fenster, legte die Hand gegen die Scheibe - sie war eiskalt - und zögerte noch einmal, griff aber dann entschlossen nach dem Riegel und drehte ihn herum. Er bewegte sich erstaunlich leicht. Nur das Fenster ging nicht auf. Für einen Moment drohte sie nun in Panik zu geraten. Der Riegel war offen, aber der Fensterflügel bewegte sich nicht um einen Millimeter. Er saß so fest, als wäre er angeleimt. Und genau das war er auch, wie sie eine Sekunde später begriff. Ihres Wissens war dieses Fenster niemals geöffnet worden, aber die Vorbesitzer des Hofes hatten es - wie alle Fenster und Türen - frisch gestrichen, und irgendein Hirni hatte es zugedrückt, ehe der Lack richtig getrocknet war;einen besseren Leim gab es gar nicht. Sie sprang zurück, hob die Faust und ließ den Arm wieder sinken. Sie hatte nur diesen einen Versuch. Sie mußte vorsichtig sein.

Zitternd vor Ungeduld und Angst sah sie sich im Zimmer um. Es war schwer, in der kränklichen grauen Beleuchtung irgend etwas zu erkennen, aber sie kannte die jämmerliche Einrichtung ja, und Peter hatte nichts verändert; da waren der wackelige Tisch mit seinem einzelnen Stuhl, das Bett und ein windschiefes Etwas, das von sich behauptete, ein Schrank zu sein. Schrank und Bett waren zu schwer; außerdem würde sie zu viel Lärm machen, wenn sie sie bewegte.

Aber der Tisch ging.

Liz hob ihn hoch - er war sehr viel schwerer, als sie gedacht hatte -, kippte ihn auf die Seite und verkeilte ihn so unter der Türklinke, daß er Stefan wenigstens einige Augenblicke aufhalten würde. Anschließend fiel sie auf die Knie, krümmte sich vor Schmerz und übergab sich würgend. Der Schmerz raubte ihr jetzt fast die Besinnung. Warmes Blut lief an ihren Beinen herab, und das Zimmer drehte sich um sie. Aber sie durfte nicht ohnmächtig werden. Nicht, wenn sie jemals wieder aufwachen wollte.

Sie wartete, bis das Ärgste vorüber war, zog sich an der Wand neben der Tür in die Höhe und lauschte in sich hinein. Der Schmerz in ihren Eingeweiden war noch da, aber er war nicht zu schlimm. Und sie vertraute auf den verläßlichen Mechanismus ihres Körpers, der ihr mit einem gehörigen Adrenalinstoß unter die Arme greifen würde. Entschlossen ergriff sie den Stuhl und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen das Fenster.

Es war, als flöge er in Zeitlupe. Der Stuhl pflügte durch die Dunkelheit, und sie sah jeden Millimeter, den er zurücklegte, mit phantastischer Klarheit. Ihre Gedanken schienen mit Überlichtgeschwindigkeit zu arbeiten. Was, wenn sie schlecht gezielt hatte oder er einfach vom Fenster abprallte wie von einer Gummi wand, weil die Magie dieses Hauses schon zu stark war?

Das Klirren, mit dem Glas und Holz zerbarsten, wischte ihre Befürchtungen hinweg, aber es dröhnte auch wie ein Kanonenschuß durch das Haus. Völlig unmöglich, daß Stefan es nicht hörte. Draußen auf dem Flur erklang ein Laut wie das überraschte Grunzen eines Schweines, dann hörte sie Belderson Aufschreien und schwere Schritte sich der Tür nähern. Sie spurtete los.

Als sie zwei Schritte vor dem Fenster war, wurde der Schlüssel herumgedreht. Sie sprang.

Sie hatte nicht einmal gewußt, daß sie es konnte, aber sie flog, in einer perfekten Haltung wie eine Turmspringerin, mit gerade ausgestreckten Armen - und gesenktem Kopf durch das Fenster, ohne die scharfkantigen Glassplitter auch nur zu berühren, machte eine halbe Drehung in der Luft und kam mit einer Rolle auf, die dem Sturz seine vernichtende Wucht nahm. Dann zuckte der Schmerz durch ihren Körper.

Sie schrie, krümmte sich zusammen und verlor die Kontrolle über ihre Bewegungen; aus der eleganten Judorolle wurde ein haltloses Kollern. Sie schlitterte drei, vier Meter weit durch den aufgeweichten Morast, ehe sie wimmernd zur Ruhe kam. Hinter ihr im Haus ertönte ein wütender Schrei, dann ein einzelner, ungeheuer kraftvoller Schlag, in den sich das Bersten von Holz mischte.

Liz kämpfte sich auf Hände und Knie hoch. Klebriger Morast bedeckte ihr Gesicht und versuchte in ihren Mund zu kriechen, irgendwo unter ihr bewegte sich etwas, und der Regen, der in wütenden Schleiern vom Himmel prasselte, durchnäßte sie binnen einer einzigen Sekunde bis auf die Haut. Sie spie aus, wischte sich mit dem Handrücken Schlamm und Wasser aus den Augen und sah zum Haus zurück. Sie war ein wenig überrascht, wie weit sie der Sprung und der anschließende Sturz nach draußen getragen hatten - sie war fast zehn Meter vom Haus entfernt, und das zersplitterte Fenster sah nun wirklich aus wie die Höhle eines ausgestochenen Auges. Ein Schatten bewegte sich darin - Stefan -, dann ein zweiter - Belderson -, und für einen Moment starrten sie beide reglos zu ihr heraus, dann stieß Stefan ein hysterisches Kreischen aus und machte Anstalten, zu ihr herauszuklettern. Belderson versuchte ihn davon abzuhalten. Sie sah, wie Stefan ihn zurück stieß, wie Belderson ihn ein zweites Mal bei den Schultern packte und zurückzerrte, dann fuhr Stefan herum und begann mit den Fäusten auf seinen Gegner einzuschlagen, aus den beiden Schatten wurde ein einziger, voller Arme und wirbelnder Fäuste und aggressiver Bewegung. Belderson schrie vor Schmerz. Liz kämpfte sich auf die Beine und taumelte auf die Scheune zu.

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