Aus der großen Aussprache, die Liz sich vorgenommen hatte, wurde nichts. Peter hockte verkrampft und schweigend neben ihr. Sein Blick war starr durch die Windschutzscheibe nach vorne gerichtet. Es war unschwer zu erkennen, daß er sich alles andere als wohl in seiner Haut fühlte, und sie fuhren fast den ganzen Weg nach Schwarzenmoor hinauf, ohne mehr als ein oder zwei belanglose Sätze miteinander zu wechseln - was zum einen sicher an Peters abweisendem Verhalten lag, zum anderen aber auch daran, daß Liz ihre volle Konzentration aufwenden mußte, um trotz ihrer Übermüdung einigermaßen sicher zu fahren.
Ihre Hände waren feucht vor Schweiß, und ihr war gleichzeitig heiß und kalt. Seit ihrem Erwachen hatte sie einen widerwärtig säuerlichen Geschmack im Mund, an dem weder Kaffee noch Zigaretten etwas hatten ändern können, und obwohl sie vor kaum einer Stunde geduscht hatte, fühlte sie sich schon wieder klebrig und verschwitzt.
Dazu kam, daß Peter mit jedem Kilometer unruhiger wurde, den sie sich Schwarzenmoor näherten. Ahnte er etwas? Wahrscheinlich - Liz nahm nicht im Ernst an, daßer ihr die Geschichte von den Ersatzteilen abgenommen hatte, die sie angeblich besorgen wollte: Das größte Ersatzteil, das es in Beldersens Laden gab, war eine Schraube. Oder hatte er schlicht Angst, unangemeldet und in ihrer Begleitung in der Stadt zu erscheinen?
Schließlich lenkte sie den Wagen an den Straßenrand, schaltete den Motor aus und zündete sich betont umständlich eine Zigarette an. Sie waren noch ein gutes Stück von Schwarzenmoor entfernt und noch weiter vom Hof der Starbergs, aber während der letzten zehn Minuten hatte sie sich dreimal dabei ertappt, sich insgeheim zu fragen, wie, zum Teufel, sie an die Stelle gekommen war, an der sie sich befand - offensichtlich war sie doch ein wenig müder, als sie selbst zugeben wollte. Sie glaubte nicht, daß es Ohlsberg sehr beeindruckte, wenn ihre erste ernst gemeinte Attacke im Krankenhaus endete.
»Auch eine?« Liz fuhr sich müde mit den Händen durch das Gesicht und hielt Peter das Päckchen hin, aber er lehnte ab. Sie ließ die Packung wieder in ihrer Handtasche verschwinden, lehnte sich zurück und versuchte ohne allzugroßen Erfolg, einen Rauchring zu produzieren. Peter sagte nichts, aber er wurde zusehends nervöser. Seine Finger spielten mit kleinen, unbewußten Bewegungen am Verschluß seines Sicherheitsgurtes, und sein Blick wanderte mehr als nur einmal beinahe flehend zum Zündschlüssel.
»Warum...«, fragte er nach einer Weile, »warum fahren wir nicht weiter?«
»Weil ich mit Ihnen reden möchte, Peter«, antwortete Liz. »Und weil ich glaube, es ist besser, wenn wir es in Ruhe tun.« Sie sog an ihrer Zigarette, hustete und kurbelte hastig das Seitenfenster herunter. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, offen zu fahren. Frische, sehr Sauerstoffreiche Luft strömte in den Wagen, die nach Wald und Morgen - aber auch ein ganz kleines bißchen nach abgestandenem Wasser - roch. Drei-, viermal hintereinander atmete sie tief und gezwungen langsam ein und aus, dann vergiftete sie den frischen Sauerstoff mit einem weiteren Zug aus ihrer Zigarette und drehte sich wieder zu Peter um.
»Habe ich... irgend etwas falsch gemacht?« fragte er stockend.
Liz schüttelte den Kopf. »Nein. Es geht nicht um Sie. Das heißt, nicht nur um Sie.« Sie beobachtete die Reaktion auf seinem Gesicht gespannt, aber seine Züge blieben ausdruckslos wie immer. Ausdruckslos und gleichzeitig auch ein wenig erschrocken, auch wenn es im ersten Moment absurd klang. »Es geht um Ihre Tochter, Peter«, fuhr sie fort, als klar wurde, daß Peter nicht von sich aus reden würde. »Um Andy. Wie heißt sie eigentlich wirklich?«
»Andy?« Jetzt klang seine Stimme eher entsetzt als erschrocken. »Was... was ist mit ihr?«
»Sie erinnern sich, was Sie mir am ersten Tag erzählt haben?« fragte Liz. »Daß Ohlsberg gedroht hat, Andy in ein Heim zu geben, wenn Sie nicht tun, was er von Ihnen verlangt?«
Er nickte. Seine Finger spielten nervös am Sicherheitsgurt. In seinem Blick lag jetzt eindeutig Furcht. Furcht und noch etwas, das sie im Moment noch nicht einordnen konnte.
»Und Sie erinnern sich auch, daß ich gesagt habe, Andy könnte vielleicht eines Tages zu uns kommen, wenn Sie wollen?« fuhr sie weiter fort. Peter nickte erneut, und sie sah, daß er ihre nächsten Worte voraus ahnte - was nicht sonderlich schwer war -, aber das Entsetzen in seinem Blick wurde eher noch größer.
»Nun, ich habe mit meinem Mann gesprochen« - das war die Wahrheit -, »und er hat nichts dagegen.« Das stimmte nicht ganz. Genau genommen war Liz ziemlich sicher, daß Stefan in die Luft gehen wurde, könnte er sie jetzt sehen und viel mehr noch hören. Aber sie war schon immer eine gute Lügnerin gewesen, und so fuhr sie mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt fort: »Wenn Sie wollen, Peter, dann holen wir Andy ab. Sie kann bei Ihnen bleiben, wo sie hingehört.«
»Aber das...«, stammelte Peter, brach aber sofort wieder ab und schüttelte drei-, viermal hintereinander den Kopf. »Ich meine... jetzt? Jetzt gleich?«
»Ich meine es ernst, Peter«, fuhr sie eindringlich fort. »Und warum nicht jetzt gleich? Ich weiß, daß das alles ein bißchen überraschend für Sie kommen muß, aber... Stefan und ich sind sehr zufrieden mit Ihnen und Ihrer Arbeit, wissen Sie? Und ich glaube, Ihnen gefällt es auch ein bißchen bei uns, oder?«
Er nickte.
»Aber glücklich sind Sie nicht«, behauptete Liz. »Und ich kann Ihnen auch sagen, warum. Sie werden so lange unglücklich sein, wie Ohlsberg da ist und Sie Angst vor ihm haben müssen. Und Sie werden so lange Angst vor ihm haben, wie er etwas hat, mit dem er Sie unter Druck setzen kann.«
»Ich ... weiß«, antwortete Peter gequält. »Aber es ... es geht nicht. Wirklich, Ma'am.«
»Und warum nicht, Peter? Wollen Sie Andy nicht bei sich haben?« Das war unfair, und sie wußte es, aber er ließ ihr keine andere Wahl.
»Doch«, antwortete er hastig. »Aber... Herr Ohlsberg wird es nicht zulassen. Er... er ist...«
»Ein böser alter Mann, dem es Freude bereitet, andere seine Macht fühlen zu lassen«, fiel ihm Liz aufgebracht ins Wort. »Glauben Sie nicht, daß ich Sie nicht verstehe, Peter. Aber Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben. Nicht, solange Sie bei uns sind und er nichts hat, womit er Sie erpressen kann.«
Und später? fragte sein Blick. Was, wenn Sie nicht mehr da sind! Sie werden gehen, aber Ohlsberg wird bleiben. Laut sagte er: »Er wird es nicht zulassen. Niemals.« Liz lächelte mit einer Überlegenheit, die sie nicht einmal im Ansatz verspürte. »Ich wüßte wirklich nicht, was er dagegen unternehmen könnte«, sagte sie. »Die Vaterschaft wurde doch anerkannt, oder?«
»Ich ... ich verstehe nicht...«
»Ich meine, ob es eine Geburtsurkunde gibt, in der Sie als Vater des Mädchens erwähnt werden«, erklärte Liz. »Ich weiß, ich habe Sie das schon einmal gefragt, aber ich will sicher gehen. Es gibt dieses Papier?«
Peter überlegte einen Moment und nickte dann. »Und Sie haben niemandem das Sorge recht oder die Vormundschaft übertragen? Keine Dokumente unterschrieben? Irgendwelche Papiere?«
»Sie meinen, ob ich... Andy weggegeben habe? Für immer?« Liz nickte, und Peter schüttelte äußerst heftig den Kopf. »Die ... die Starbergs haben sich um sie gekümmert, seit sie auf der Welt ist«, sagte er. »Aber ich habe nichts unterschrieben. Das hat alles Herr Ohlsberg erledigt. Er hat immer gesagt, daß er sich um alles kümmert. Und das hat er ja auch getan.«
»Glauben Sie«, fragte Liz vorsichtig, »daß das Mädchen bei den Starbergs glücklich ist? Ich meine... immerhin ist sie dort aufgewachsen.« Das war es. Was, wenn er ja sagte? Sie hatte nicht das Recht, dieses Kind unglücklich zumachen, nur um sich an Ohlsberg zu rächen.
»Sie ist nicht glücklich«, antwortete Peter bestimmt. Seine Stimme klang überraschend fest und sicher. »Ich weiß das. Frau Starberg ist... keine gute Frau. Sie schlägt sie.« Das war so ungefähr das genaue Gegenteil dessen, was er noch vor weniger als einer Viertelstunde behauptet hatte, dachte Liz alarmiert. Was war das? Nun endlich die Wahrheit - oder hatte sie Peter so eingeschüchtert, daß er einfach alles gesagt hätte, nur um ihr nicht zu widersprechen?
»Das tun alle Eltern von Zeit zu Zeit«, sagte sie vorsichtig. »Die meisten jedenfalls.«
»Nicht so«, beharrte Peter, und diesmal spürte sie, daß er die Wahrheit sagte. Der Ton in seiner Stimme war kein Haß, aber doch etwas, das ihm sehr nahe kam. »Sie mag keine Kinder«, behauptete er. »Sie hat Andy nur genommen, weil Ohlsberg es wollte. Und sie muß viel arbeiten.«
»Dann«, sagte Liz, »sehe ich keinen Grund mehr, aus dem sie auch nur einen einzigen Tag länger dort bleiben sollte. Wir können sie direkt mitnehmen, wenn Sie wollen, Peter. Es wird zwar auf der Rückfahrt ein wenig unbequem«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, »aber es wird schon gehen.«
»Ohlsberg wird es nicht zulassen«, wiederholte Peter stur.
»Ohlsberg interessiert mich nicht«, gab Liz geringschätzig zurück. »Außerdem wird er von der ganzen Sache nichts merken, bevor es zu spät ist. Und wenn Andy erst einmal bei uns draußen auf dem Hof ist, dann wird er sich hüten, irgend etwas zu unternehmen.«
Peter schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Ma'am.«
»Warum nicht?« fragte Liz scharf. »Wollen Sie nicht?«
»Doch. Aber... aber Sie werden Ärger bekommen, Sie und Ihr Mann. Ohlsberg ist ein sehr mächtiger Mann. Ich weiß auch gar nicht, wie man mit einem Kind umgeht. Und ich... ich will nicht, daß Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen.«
»Vielleicht habe ich gerne Schwierigkeiten mit Ohlsberg«, sagte Liz achselzuckend. »Außerdem überschätzen Sie ihn, glaube ich. Sie kennen Stefan noch nicht richtig. Jemanden wie Ohlsberg verspeist er zum Frühstück, wenn es sein muß. Und um Andy kümmere ich mich schon. Schließlich ist sie kein Säugling mehr.«
»Trotzdem...«
»Und außerdem haben wir bereits genug Schwierigkeiten mit Ohlsberg, Peter. Daß er Sie praktisch als Spion in unser Haus geschickt hat, reicht ja wohl. Ich weiß, daß Sie niemals etwas tun würden, was uns schadet«, fügte sie hastig hinzu, als sie das Erschrecken auf seinem Gesicht sah, »aber Sie müssen auch einsehen, daß es so nicht weitergeht. Auch nicht für Sie. Er würde Sie niemals in Frieden lassen, Peter, nie. Nicht, solange er Andy hat.«
»Aber...«
»Kein Aber«, sagte sie kopfschüttelnd. Sie schnippte ihre Zigarette aus dem Fenster und griff zum Zündschlüssel. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir reden jetzt nicht weiter darüber, sondern fahren erst einmal zu den Starbergs. Ich werde mir Andy ansehen, und Sie denken in der Zwischenzeit in aller Ruhe darüber nach, was ich Ihnen vorgeschlagen habe. Wenn Sie einverstanden sind, brauchen Sie mir nur ein Zeichen zu geben. Es reicht, wenn Sie nicken. Alles andere erledige ich. Sie brauchen nichts zu tun. Vor allem brauchen Sie keine Angst zu haben. Vor niemandem. Okay?«
Peter hielt ihrem Blick eine halbe Sekunde lang stand, ehe er den Kopf senkte. Liz ließ den Motor an und fuhr los.