»Warum hast du das zugelassen?« fragte Liz. Sie saßen wieder im Wagen und waren auf dem Heimweg. Schwarzenmoor fiel in der Mittagsglut rasch hinter ihnen zurück, und Stefan fuhr wie immer viel zu schnell. Aber diesmal achtete Liz nicht auf das Stampfen und Schütteln des Wagens. Ihr Zorn saß so tief, daß er selbst die Furcht überdeckte, die sie sonst jedes mal ergriff, vor allem wenn sie auf dem Rückweg waren, auf dem Stefan immer sehr viel schneller fuhr.
»Was?« fragte Stefan mit einiger Verspätung. Er schaltete. Der Jaguar machte einen Satz, schoß über eine bei normalem Tempo kaum spürbare Anhöhe hinweg und verlor für Bruchteile von Sekunden mit allen Rädern den Kontakt zum Boden. Der Schlag, mit dem er wieder aufsetzte, ließ eine der Tüten auf Liz' Schoß platzen; eine Mehltüte, Dosen mit püriertem Tomatenmark, Zigaretten und eine Anzahl Soßenwürfel quollen heraus und verteilten sich auf ihrem Rock. Der Anblick machte sie noch wütender.
Sie schürzte wütend die Lippen, riß mit einer unnötig heftigen Bewegung die Sonnenblende herunter und begann sich die Wangen zu pudern, eine Angewohnheit, in die sie immer verfiel, wenn sie nervös oder besonders aufgeregt war. »Du weißt ganz genau, was ich meine«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme.
»Du meinst, daß Heyning zu Fuß kommt?«
»Genau das meine ich!« antwortete sie zornig - nein, sie schrie fast. »Was ist so schlimm daran, den Weg noch einmal zu fahren?«
»Nichts«, begann Stefan, »aber...«, er warf ihr einen raschen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Aber war es wirklich nötig, Ohlsberg gleich den Krieg zu erklären?« Liz tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört.
»Wenn es dir wirklich so viel ausgemacht hätte, hätte ich es getan«, fauchte sie aufgebracht. »Aber darum geht es gar nicht, nicht wahr? Und das weißt du genau. Ganz genau.«
Stefan antwortete nicht. Aber sie sah, wie sich seine Wangenmuskeln spannten. Ihre Worte hatten getroffen, und sie fühlte mit einem Mal ein fast sadistisches Vergnügen daran, tiefer in der Wunde zu bohren und das Messer genüßlich herumzudrehen. Ein paar mal. »Du fährst doch so gerne Auto!«
»Ein reines Vergnügen ist es nun auch wieder nicht«, maulte Stefan. »Diese Scheißstraße ...«
»Weich mir nicht aus«, fuhr Liz auf.
»Ich weiche dir nicht aus«, sagte Stefan mit einer Ruhe, die sie noch wütender machte. »Aber du spielst die Sache unnötig hoch. Peter ist kein verweichlichter Großstädter wie du und ich. Wir würden doch noch mit dem Wagen ins Schlafzimmer fahren, wenn das ginge. Es macht ihm nicht viel aus, ein paar Kilometer zu Fuß zu gehen.«
»Es sind nicht nur ein paar Kilometer«, entgegnete Liz angriffslustig. »Und es ist mir auch vollkommen egal, ob es Heyning etwas ausmacht oder nicht. Mir macht es nämlich etwas aus, wenn mir irgend so ein da hergelaufener Dorftrottel vorschreibt, wie ich mein Personal zu behandeln habe. Und es macht mir noch mehr aus«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, in der sie nicht nur einen neuen Pfeil aus dem Köcher nahm, sondern ihn noch dazu genüßlich vergiftete, »ob mir mein Mann bei einer Auseinandersetzung mit besagtem Dorftrottel in den Rücken fällt oder nicht.«
»Ich bin dir nicht in den Rücken gefallen«, gab Stefan ruhig zurück. »Und überdies ist Ohlsberg bei den Leuten hier gut angesehen. Er ist alles andere als ein Dorftrottel.« Er ging mit dem Tempo herunter und sah sie an. »Oder vielleicht doch«, sagte er plötzlich. »Verdammt, ja, vielleicht hast du tatsächlich recht, und Ohlsberg ist wirklich der eingebildete alte Idiot, für den du ihn hältst. Aber zum Teufel, mußt du es ihm so deutlich zeigen?« Liz antwortete nicht, und Stefan fuhr, in fast flehendem Tonfall, fort: »Siehst du, Schatz, das ist einer der Gründe, warum du mit den Leuten hier bisher nicht so richtig warm wirst. Man muß sich anpassen. Kompromisse schließen.«
»Kompromisse«, zischte sie. »Das, was du unter einem Kompromiß verstehst, ist nichts anderes als ein anderes Wort für Feigheit!«
»Das ist es nicht«, sagte Stefan überzeugt. »Du willst es nur so sehen - das ist alles.«
»Ach, glaubst du?« sagte sie. »Vielleicht irre ich auch, vielleicht ist es keine Feigheit, sondern Bequemlichkeit. Aber ich weiß nicht, was schlimmer ist. Nenn es, wie du willst, es kommt auf eins raus.«
»Du bist ungerecht«, sagte Stefan. »Ich ...«
»Ungerecht!« Liz lachte schrill auf. »Ich bin ungerecht, ja, natürlich! Und wieso, bitteschön? Weil ich es nicht gut finde, von meinem eigenen Mann in aller Öffentlichkeit heruntergeputzt zu werden, nur weil er zu feige ist, sich gegen diesen schmierigen alten Mann durchzusetzen? Aber es ist ja viel leichter, sich mit seiner Frau auseinanderzusetzen als mit Ohlsberg, nicht wahr? Was zwischen uns geschieht, sieht ja keiner. Hauptsache, du wahrst dein Gesicht in der Öffentlichkeit. Dein sogenannter Kompromiß ist nichts als feige Kriecherei. Anpassen - ha! Was kommt als nächstes? Willst du deinen Wagen verkaufen und dir statt dessen ein Pferd anschaffen? Mir das Rauchen in der Öffentlichkeit verbieten?« Sie griff mit zitternden Fingern in die Jackentasche, zog eine Zigarette aus der zerknautschten Packung und versuchte das Feuerzeug anzuschnippen, aber der Fahrtwind blies die Flamme immer wieder aus. Stefan beugte sich vor und drückte den Zigarettenanzünder. Liz funkelte ihn an und schleuderte die Zigarette in hohem Bogen aus dem Wagen. »Demnächst wirst du von mir verlangen, daß ich mich so kleide wie diese Dorfschlampen, in der Öffentlichkeit nicht mehr rauche und kein Bier mehr trinke!« fauchte sie.
»Du wirst albern«, stellte Stefan fest - womit er sogar recht hatte. Aber gerade das ärgerte sie noch mehr. »Du mußt einfach einsehen, daß Ohlsberg hier der Boß ist. Die Leute tun, was er sagt, und das allein zählt. Wenn wir uns mit ihm gut stehen, dann haben wir gewonnen. Ist es wirklich so viel verlangt, in der Öffentlichkeit ein bißchen Theater zu spielen?« Hätte er angehalten und sie ins Gesicht geschlagen, hätte sie nicht schockierter sein können. Sie starrte ihn fassungslos an, suchte sekundenlang nach Worten und sah schließlich irritiert weg. Das war nicht der Stefan, den sie kannte. Aber sie wollte jetzt nicht mit ihm streiten, nicht noch mehr, als sie es ohnehin schon getan hatte, und darauf wäre es hinausgelaufen, wenn sie jetzt weitergemacht hätte.
Wahrscheinlich lag es sowieso an ihr, versuchte sie sich einzureden. Den ganzen Tag über war sie gereizt und überempfindlich gewesen, und auch das vorzügliche Mittagessen, das sie in dem kleinen Lokal zu sich genommen hatten, hatte daran nichts ändern können - auch das beste Essender Welt schmeckt schal, wenn man es schlecht gelaunt in sich hinein stopfte und genau das hatte sie getan.
Sie überlegte, ob ihr Erlebnis von heute morgen vielleicht irgendwie damit zu tun hatte.
Es war möglich. Sogar wahrscheinlich. Sie war von jeher Realistin gewesen und eine Pragmatikerin dazu. Wenn es in ihrer Umgebung etwas gab, was sie sich nicht erklären konnte, dann machte sie das nervös. Und überdies war sie mittlerweile soweit, ihr unerklärliches Erlebnis endgültig unter dem Begriff Traum abzuhaken. Träume, das wußte sie, konnten unglaublich realistisch sein.
Aber trotzdem schwieg sie während des gesamten Rückweges. Als sie den Hof erreicht hatten, half sie Stefan, die Sachen ins Haus zu bringen. Dann bat sie ihn um die Wagenschlüssel.
»Du willst noch einmal weg?« fragte er überrascht.
»Ja.«
»Wohin?« fragte Stefan, nachdem er eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, daß sie es von sich aus sagte.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Er würde es sowieso merken - wahrscheinlich ahnte er es ohnehin schon -, aber sie hatte keine Lust, sich schon vorher mit ihm zu streiten. Die Szene, die er ihr hinterher machen würde, war genug. Mehr als genug.
»Zum See«, log sie. »Ich möchte noch baden.«
»Jetzt?« Stefan legte überrascht den Kopf in den Nacken und blinzelte demonstrativ in den Himmel. »Es ist in einer Stunde dunkel. Spätestens«, fügte er hinzu. »Ich habe gesagt, daß ich noch baden möchte«, sagte sie gereizt. »Ich habe nicht gesagt, daß ich draußen übernachte.«
Stefan zuckte mit den Achseln und gab ihr die Schlüssel. Einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke, und für diesen Moment war sie fast sicher, daß er genau wußte, was sie vorhatte - aber er sagte kein Wort, sondern zuckte nur noch einmal die Achseln und drehte sich um, um ins Haus zurückzugehen.
Sie stieg ein, wendete den Wagen und verließ das Grundstück. Stefan hatte recht - es würde in spätestens einer Stunde dunkel sein. Aber der Wagen war schnell, und auf den letzten Kilometern war die Straße noch einigermaßen in Ordnung, so daß sie Zeit gewinnen konnten. Sie gab Gas und preschte los. Der Jaguar schlingerte wie ein kleines Boot auf stürmischer See. Die Reifen kreischten protestierend, als sie auf den Waldweg hinaus jagte. Erdreich und Schlamm spritzten in hohen braunen Fontänen unter den Kotflügeln hervor, und von Zeit zu Zeit kratzte ein tief hängender Ast über das Blech. Blätter peitschten wie nasse grüne Hände gegen die Windschutzscheibe. Aber Liz war eine ausgezeichnete Fahrerin. Bereits nach wenigen Minuten hatte sie den eigentlichen Wald erreicht. Die Bäume bildeten hier ein stummes Spalier, einen hohen, schweigenden Dom, der selbst während der hellen Mittagsstunde den größten Teil des Sonnenlichts aus filterte. Jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung...
... vor Einbruch der Dämmerung? Aber...
... war es hier bereits dunkel. Sie schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr weiter, so schnell es der Zustand des Weges und das schwächer werdende Licht erlaubten. Der Wagen brach wie ein brüllender Schemen aus rot lackiertem Blech und Chrom in den Wald ein und vertrieb mit seinem Lärm und dem grellen Weiß seiner Halogenscheinwerfer alles Leben in weitem Umkreis.
Sie fuhr schnell und konzentriert. Wie viel Kilometer konnte ein Mensch in sieben, acht Stunden zurücklegen? Sie war nie ein großer Fußgänger gewesen, aber sie schätzte, daß es nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig sein konnten. Sie würde Heyning also wahrscheinlich irgendwo auf der Hälfte des Weges auflesen, denn er war noch einmal zurückgegangen, um sein Gepäck zu holen.
Einen Moment lang fragte sie sich, was sie tun würde, wenn sie ihn nicht irgendwo unterwegs traf - was, wenn er noch nicht zurück in Schwarzenmoor war oder einen anderen Weg nahm, vielleicht quer durch die Wälder? Sie wußte ja nicht einmal, wo der Hof lag, auf dem er bisher gearbeitet hatte. Sie wußte so erbärmlich wenig über alles hier - die Stadt, ihre Geschichte, ihre Gesetze, ihre Menschen - vor allem ihre Menschen. Plötzlich verspürte sie ein unbändiges Verlangen nach einer Zigarette. Sie nahm etwas Gas weg, beugte sich über den Beifahrersitz und wühlte eine Zeitlang hektisch im Handschuh fach herum, bis sie Feuerzeug und Zigaretten gefunden hatte. Die Packung war zerknittert und enthielt nur noch eine einzige verbogene Zigarette. Sie steckte sie sich zwischen die Lippen, strich sie mit Zeige- und Mittelfinger glatt und ließ das Feuerzeug aufschnappen. Die kleine blaue Gas flamme brach sich im Spiegel und ließ sie aufsehen. Ihr eigenes Gesicht erschien ihr seltsam fremdartig. Das flackernde Licht der winzigen Gas flamme überzog ihr Spiegelbild mit einem verwirrenden Spiel von Schatten und hellen und dunklen Flecken und ließ sie Falten und Linien erkennen, wo keine waren. Für einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl, in die Augen einer Fremden zu blicken. Aber der Gedanke entschlüpfte ihr, ehe sie ihn richtig fassen konnte.
Sie war sich darüber im klaren, daß sie sich im Grunde nicht anders als ein trotziges Kind benahm. Genau die Art von Trotz, die sie an Stefan so haßte und ihm bei jeder Gelegenheit vor hielt, dachte sie spöttisch. Es war nur Trotz - und die Reaktion auf die Befremdung, die Stefans Verhalten in ihr ausgelöst hatte; fast schon ein Schock. Sie kannte ihn seit sechs Jahren, und trotzdem hatte sie plötzlich das Gefühl gehabt, neben einem Fremden zu sitzen. Aber Entfremdung war ein Prozeß, der sich über Monate und Jahre da hinzog - oder?
Aber wenn es das nicht war - was war dann in den wenigen Minuten geschehen, die Stefan mit Ohlsberg und Heyning allein gewesen war?
Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette, schnappte sie mit einer wütenden Bewegung aus dem Wagen und beobachtete den winzigen Glutpunkt sekundenlang im Rückspiegel, ehe er erlosch.
Sie war jetzt seit fast zehn Minuten unterwegs. Aber es dauerte noch einmal Minuten, ehe ihr die Veränderung auffiel.
Der Wald hatte sich verändert.
Der Gedanke schien absurd, im ersten Moment, aber es war so: Das war nicht mehr der Wald, den sie vom Fenster ihres Schlafzimmers aus sehen konnte.
Das war nicht der freundliche Märchenwald aus ihrer Kindheit, in dessen Schatten Träume und Märchen geboren wurden, in dem Einhörner und Feen ihre neckischen Spiele spielten, in dem die Tiere sprechen konnten und selbst die Dunkelheit freundlich war und in dem kleine lustige Gnome darauf warteten, mit ihren Wünschen Ball zu spielen. Sie hätte beinahe aufgeschrien, als sie die Veränderung bemerkte. Sie hatte sich nicht eingeschlichen, war nicht wie ein Alptraum oder das Produkt ihrer überreizten Nerven auf leisen Sohlen in ihre Gedanken gekrochen, sondern kam warnungslos, abrupt und mit der Wucht eines Hammerschlages, der sie vom Bruchteil einer Sekunde auf die andere in dieses alptraumhafte Etwas schleuderte. Der friedliche Wald von Schwarzenmoor war so übergangslos verschwunden, als habe irgendwo jemand irgendwo über (oder unter?)ihr einen gigantischen Hebel umgelegt, ihn einfach abgeschaltet.
Dieser Wald hier war anders.
Böse.
Hart.
Dunkel.
Die Stämme der Bäume beiderseits des Weges wirkten seltsam glatt und hart, Bäume aus Stahl und mattschwarzem Chrom, wie aus einem fremdartigen, lichtschluckenden Material gegossen, und die dunklen, verfilzten Kronen über ihr bildeten einen undurchdringlichen Schirm, durch den nichts, absolut nichts hin durchkam.
Sie schüttelte ein paar mal heftig den Kopf, krampfte die Hände um das Lenkrad und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Aber es ging nicht. Im Gegenteil. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Instinktiv trat sie das Gaspedal weiter durch. Der Motor heulte auf. Der Wagen machte einen Satz und preschte mit wahnwitziger Geschwindigkeit los. Bäume und Unterholz flogen vorüber, wurden zu huschen den, grauen Schemen. Die Bäume kamen ihr mit einem Mal niedriger vor, gedrungener und stärker. Keine... Bäume mehr, sondern Alptraumriesen, vom Fluch einer bösen Fee zu etwas anderem, unsagbar Bösem geworden, lauernd, noch regungslos, aber bereit. Ihre Äste schienen jetzt tiefer zuhängen. Gierigen Armen gleich, die nach dem winzigen Wagen tasteten. Herrgott, wie tief war dieser Wald? Wie lange fuhr sie jetzt schon? Eine Stunde? Ewigkeiten mußten vergangen sein, seit sie den Wagen bestiegen und den Hof verlassen hatte, verdammte Närrin, die sie war. Und der Weg nahm kein Ende.
Sie spürte, daß er sich noch weit, weit, unendlich weit vor ihr erstreckte, Hunderte von Kilometern, Lichtjahre, geradewegs in die Ewigkeit führend. Und sie spürte, wie die Finsternis sich zu verdichten begann, nicht mehr die bloße Abwesenheit von Licht bedeutete, sondern Masse, Materie wurde, ein eigenständiges, von pulsierendem Leben erfülltes Etwas, das sich schwarz und kriechend enger und enger um den Wagen zusammen zog, dunkle Tentakel aus Finsternis nach ihr ausstreckte, die mit Geräuschen wie bleiche Knochenfinger über das Blech des Jaguars kratzten. Sie schrie auf, drückte den Knopf, der das automatische Verdeck hoch fuhr, aber der kleine Elektromotor blieb stumm. Statt dessen leuchtete auf dem Armaturenbrett eine winzige rote Lampe auf. Verdammt! Warum mußte dieses Ding ausgerechnet jetzt kaputtgehen! Zufall? Nein. Es gab keine Zufälle. Der Wunsch zu schreien wurde übermächtig. Die Scheinwerfer strahlen vor ihr fraßen zwei weiße asymmetrische Lichtsplitter aus der Finsternis, aber das grelle Halogenlicht schien die Dunkelheit eher noch zu verstärken. Irgend etwas rührte sich in der Schwärze dahinter, eine wogende, ungreifbare Bewegung, die eine ungeheuerliche Drohung zu beinhalten schien. Ein wesenloses Etwas, das immer dichter vor dem rasenden Lichtpfeil dahin preschte. Sie stieß ein leises, kaum hörbares Wimmern aus, das im Brüllen des Motors und dem Rauschen der Nacht verklang, und gab noch mehr Gas. Wieder versuchte sie das Verdeck hochzufahren, preßte so fest zu, daß Blut unter ihrem Fingernagel hervorquoll. Die tote Mechanik rührte sich nicht, aber der grelle Schmerz riß sie in die Wirklichkeit zurück; wenn auch nicht ganz und nicht für lange. Einen Atemzug lang überlegte sie, ob sie umkehren und nach Hause fahren sollte. Es wäre das klügste. Heyning würde sicherlich nicht in dieser stockfinsteren Nacht durch den Wald marschieren. Und wenn doch, dann würde er wahrscheinlich nicht diesen Weg nehmen, sondern über irgendeine Abkürzung kommen. Vielleicht war er schon lange draußen bei der Farm, während sie sich wie eine Idiotin benahm und hier draußen vor den entfesselten Ungeheuern ihrer Phantasie davon lief. Ja - es wäre das klügste, anzuhalten und zurückzufahren. Aber das würde bedeuten, daß sie den Wagen stoppen mußten, daß sie für einen Augenblick stillstehen mußte, den Wagen abbremsen, den einzigen Schutz, den sie hatte, ihre Bewegung, aufgeben, zurücksetzen, zweimal, dreimal, ehe sie auf dem schmalen Weg gewendet hatte. Der Gedanke war ihr unerträglich. Eine Szene aus ihrer Kindheit fiel ihr ein. Sie war einmal allein durch den dunklen Park hinter dem Haus ihrer Eltern gegangen, und damals hatte sie sich genauso gefühlt wie heute. Sie war gerannt, nur gerannt, ohne sich umzusehen, wohl wissend, daß das Schreckliche, das hinter ihr her war, sie nur dann erreichen konnte, wenn sie sich umsah. Und es war genau die gleiche Furcht, nichts Ähnliches, nichts in dieser Art sondern die gleiche, absurde Angst. Das Ungeheuer war ihr gefolgt, das Monster, das sonst nur Kinder sehen können, war hier, hockte in diesem Wald, verbarg sich hinter jedem Busch, lauerte in den Schatten, seine schrecklichen Krallen gewetzt die großen gelben Augen trüb vor Mordlust. Nein - sie konnte nicht anhalten, um keinen Preis - Geschwindigkeit, Bewegung waren die einzigen Waffen gegen das Grauen. Liz schrie gellend auf, als die Gestalt im Scheinwerferlicht auftauchte. Instinktiv trat sie mit aller Kraft auf die Bremse. Der Jaguar ging in die Knie und kam in einer Wolke aus hochspritzendem Schlamm und feuchtem totem Laub zum Stehen, keine zwei Meter vor der gigantischen Erscheinung.
Eine unendliche, quälende Sekunde lang starrte sie auf die riesenhafte Gestalt, unfähig, sich zu rühren, zu schreien oder auch nur zu atmen.
Die Gestalt war gigantisch, riesig, schwarz und flach, ein Schatten, der zu entsetzlichem Leben erwacht war, breitschultrig, mit mehr als zwei Armen, einem Schädel wie ein Gorgonenhaupt, umgeben von schwarzem peitschendem Haar, das gar kein Haar war, sondern ein Bündel haarfeiner schwarzer peitschender Tentakel, jeder einzelne von entsetzlichem eigenem Leben erfüllt, und schrecklichen, grauenerregenden Krallen, die sich gierig nach ihr ausstreckten und... Dann ließ der Mann die Arme sinken, und der Schrecken fiel von ihr ab wie ein Mantel.
Seine Dimensionen schrumpften auf ein normales Maß zurück. Gleichzeitig schien die Finsternis ringsum ihren Schrecken zu verlieren und wurde wieder zu einer ganz normalen Dunkelheit, die nicht einmal besonders intensiv war. Es war vorüber. Was immer es gewesen war, es zog sich zurück, öffnete die Spalten und Lücken im Blattwerk wieder, die es zuvor eifersüchtig mit einem Schleier aus Schwärze verschlossen hatte. Sie konnte wieder sehen. Und sie erkannte die Gestalt, die vor ihr auf dem Weg stand Es war Heyning.
Peter Heyning, der Mann, den sie abholen wollte. Ihr neuer Mann für den Hof. Kein Ungeheuer. Nur Heyning.
Und plötzlich merkte sie, wie unendlich albern sie sich benommen hatte. Wie ein kleines Kind hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, und wie ein solches hatte sie sich mehr und mehr in diese Angst hinein gesteigert.
Sie seufzte, sehr tief und unendlich erleichtert, ließ sich zurücksinken und schloß für einen Moment die Augen. Ihr Herz raste, so schnell und schmerzhaft, daß sie die Pulsschläge bis in die Fingerspitzen spüren konnte. Ihre Hände hatten sich um das Lenkrad gekrampft, und obwohl sie es mit aller Macht versuchte, war es ihr im ersten Moment nicht möglich, den Griff zu lockern; die Angst hatte ihre Muskeln hart werden und in einer Art schmerzlosem, Krampf erstarren lassen, der sich nur allmählich löste. Eiskalter Schweiß lief zwischen ihren Schulterblättern herab. Als sie ihr eigenes Gesicht im Spiegel sah, erschrak sie. Sie war schneeweiß geworden - nicht blaß oder bleich, sondern schneeweiß, was ihre Augen und Lippen viel dunkler erscheinen ließ als normal war. Als sie den Mund öffnete, war der Kontrast so stark, daß sie im ersten Moment glaubte, Zunge und Zahnfleisch wären voller Blut.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Tachometer, dann auf die Uhr, und ein neuerlicher kalter Schauer durchfuhr sie, als ihr klar wurde, welche Entfernung sie in den wenigen Minuten zurückgelegt hatte. Nicht nur Angst konnte töten, sondern auch ein Baum, vor den der Jaguar mit achtzig Stundenkilometern setzte. Sie hatte sich wirklich wie eine Närrin benommen. Wäre Heyning nicht aufgetaucht, hätte sie sich an einem der nächsten Bäume den Schädel eingefahren. Ihre Hände, die noch immer das Lenkrad umklammerten, zitterten plötzlich. Aber sie konnte sie wenigstens bewegen.
Sie kuppelte ein, fuhr zwei Meter weiter und hielt direkt vor Heyning an. »Steigen Sie ein«, sagte sie. Sie wunderte sich ein wenig, wie ruhig und gelassen ihre eigene Stimme in ihren Ohren klang. Dabei zitterte sie noch immer so heftig, daß sie Mühe hatte, sich zur Seite zu beugen und den Riegel zu ziehen. Die Tür sprang mit jenem leisen, saugenden Geräusch auf, das das wirklich teure Auto verriet. Sie hoffte inständig, daß Heyning nichts von ihrem Zustand bemerkte.
Heyning blinzelte sie nicht verstehend an und rührte sich nicht von der Stelle. Liz öffnete die Tür, stieg aus und klappte den Kofferraumdeckel hoch. »Hier. Tun Sie Ihr Gepäck hinein. Und beeilen Sie sich«, sagte sie. Als er immer noch zögerte, fügte sie ungeduldig hinzu: »Es ist spät.«
Heyning glotzte nur unverstehend - und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Es war nicht spät.
Es war früher - sehr früher - Nachmittag gewesen, als sie Schwarzenmoor verließen, und trotz der schlechten Straße und allem anderen war aller höchstens eine Stunde vergangen seither. Die Sonne am Himmel hatte kaum den Zenit überschritten. Aber Stefan hatte doch gesagt, es würde in höchstens einer Stunde dunkel. Und sie hatte die Nacht gesehen, die wie ein schwarzes Leichentuch vom Himmel gefallen war, die Dunkelheit, die den Wagen einschloß wie ein schwarzer Kokon und die Ziffern auf ihrer Uhr, der an ihrem Handgelenk und der im Armaturenbrett und... Verstört, aber absolut nicht gewillt, sich über dieses neue Rätsel auch nur eine weitere Sekunde den Kopf zu zerbrechen, drehte sie sich um, ließ sich hinter das Lenkrad sinken und gestikulierte Peter unwillig, neben ihr Platz zunehmen.
Heyning gehorchte widerwillig. Er sprach kein Wort, auch dann noch nicht, als er die Tür zugezogen hatte und Liz den Wagen wendete. Für Minuten mußte sie ihre ganze Konzentration darauf verwenden, den Wagen auf dem schmalen Pfad zu wenden, ohne vom Weg abzukommen. Sie fuhr den Weg zurück, langsamer diesmal. Wesentlich langsamer. Die Schrecken waren verflogen und hatten sich dorthin zurückgezogen, wo sie hingehörten. Aber es war eine gute Lektion gewesen, dachte sie, trotz allem. Das Grauen wird nicht kleiner, wenn man weiß, daß man es sich nur einbildet.