31.

Warum kam das Böse immer nachts?

In fast allen Geschichten, Filmen, Büchern, die sie gehört und gesehen und gelesen hatte, war das Unheimliche, Fremde und Bedrohliche stets nach Einbruch der Dunkelheit gekommen. Sie hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht - warum sollte sie auch -, so wie sie niemals auf die Idee gekommen war, daß es einmal etwas geben könnte, was in ihr geregeltes, behütetes Leben einbrach. Das Faszinierende an Schauergeschichten war, daß man sich gruseln konnte, ohne wirklich in Gefahr zu sein. Man konnte sich einen Film anschauen und den größten Schrecken seines Lebens erleiden, aber hinterher stand man auf und ging sicher nach Hause. Nicht hier. Sie war mitten drin in dieser Horrorgeschichte, aber sie würde nicht weggehen können. Sie mußte es durchstehen. Aber sie war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, daß sie es auch konnte.

Liz fand keinen Schlaf mehr in dieser Nacht, trotz des Alkohols und der beiden Tabletten, die sie auf Stefans Drängen hin genommen hatte, ehe sie wieder nach oben gegangen waren. Stefan hatte sich hingelegt und nach Augenblicken wieder zu schnarchen begonnen, aber sie hatte stundenlang wach gelegen. Ein paar mal war sie kurz eingeschlafen, aber nur um bereits nach wenigen Minuten schweißgebadet und mit klopfendem Herzen wieder aufzuwachen, die dumpfe Erinnerung an einen Alptraum im Schädel und einen Geschmack wie nach Blut und Erbrochenem im Mund. Es war bereits schlimmer, als sie zuzugeben bereit war. Sie hatte schon Angst davor, einzuschlafen.

Jetzt war es vier Uhr. Bald würde es hell werden. Die - wievielte? Die - dritte Nacht ohne Schlaf. Der Moment, an dem sie einfach zusammenbrechen würde, war nicht mehr weit. Und was immer dann geschah, wenn sie diesem schauderhaften Nachtmahr schutzlos ausgeliefert war - es würde entsetzlich sein.

Sie schlug die dünne Bettdecke zurück, blieb noch einen Moment reglos liegen und stand dann auf. Es war kalt im Zimmer. Auf unangenehme Weise kalt; nicht erfrischend, sondern einfach nur eisig. Selbst für diese Uhrzeit ungewöhnlich, denn es war Juni.

Stefan bewegte sich unruhig, aber er wachte nicht auf. Und aus irgendeinem Grund hatte sie fast Angst davor, daßer erwachen konnte, auch wenn sie sich gleichzeitig davor fürchtete, allein zu sein. Sie betrachtete ihren schlafenden Mann, aber sie fühlte kaum etwas dabei. Die Zärtlichkeit, die sie immer bei seinem Anblick verspürt hatte, dieses sanfte, unaufdringliche Gefühl der Liebe, war verflogen. Fort, als hätte es sie niemals gegeben. So, wie sich vieles geändert hatte, seit... ja, seit was eigentlich geschehen war?

Sie streifte ihren Morgenrock über, griff nach den Zigaretten und ließ ihr Feuerzeug aufschnappen. Die kleine, gelbe Flamme zauberte eine verschwommene Kugel aus gelbem Licht in die Luft und warf schwarze, grotesk verzerrte Schatten gegen die Wände. Graue Schatten mit peitschenden Tentakelarmen, die Schatten von Dingen mit zu vielen Fingern und Gorgonenhäuptern. Sie löschte die Flamme, und die Vision verschwand.

Zumindest hatte die durch wachte Nacht ein gutes: Sie hatte Zeit gefunden, zu denken. Und ein bißchen - nicht völlig, nicht einmal annähernd - hatte sie zu ihrer gewohnten, überlegenen Art des Nachdenkens zurückgefunden.

Liz hatte nie etwas um übernatürliche Dinge gegeben, und sie mochte auch diese Pseudo-Psychologie nicht, die besonders bei ihrer Generation so beliebt war. Nein - sie hatte immer von sich behauptet, ein Mensch zu sein, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität stand. Manchmal, wie Stefan behauptete, schon zu fest. Und vielleicht, überlegte sie, war gerade das der Grund, aus dem sie so überspitzt auf die Ereignisse der letzten Tage reagiert hatte. Es war nichts, was sie auf Anhieb erklären konnte; weder rational noch gefühlsmäßig. Es waren vielmehr Dinge gewesen, die ihr streng logisch aufgebautes Weltbild erschüttert hatten. Und wahrscheinlich, diagnostizierte sie, neigte sie deshalb dazu, mehr hineinzugeheimnissen als nötig. Es lag in der Natur des Menschen, vor allem Fremden und Unbekannten zu erschrecken. Was immer draußen war - und es war dort! - es würde sich eine logische Erklärung finden.

Es mußte.

Es mußte einfach!

Sie drückte die kaum angerauchte Zigarette in den Aschenbecher, stand auf und ging langsam zum Fenster.

Sie war nicht einmal erstaunt, als Carry wieder zu bellen begann, wieder auf diese entsetzliche, hysterische Art, in der nichts Aggressives lag, nichts von all der ungeheuren Kraft und Wildheit dieses riesigen Hundes, sondern pures Entsetzen! Sie hatte gewußt, daß es wieder dort draußen auf sie wartete. Aber sie war entschlossen, sich der Bedrohung zustellen, das zu tun, was sie ihr ganzes Leben lang in Situationen wie dieser getan hatte: zu kämpfen. Sie hatte es zweimal mit Erfolg getan, und sie würde es auch ein drittes und ein viertes und, wenn es sein mußte, ein zwanzigstes Mal tun.

Langsam, zögernd, öffnete sie das Fenster. Silbernes Mondlicht drang herein, veränderte die Schatten des nächtlichen Zimmers und erweckte die Dunkelheit zu flüsterndem Leben.

Und obwohl sie wußte, was sie erwartete, traf sie der Anblick wie ein Hammerschlag. Der Hof lag unter ihr; ein dunkles, asymmetrisches Rechteck voll schmieriger Schwärze, durchsetzt mit Tümpeln aus kaltem, abweisendem Licht. Dahinter der Wald, eine schweigende Wand steinerner Riesen. Flach und tiefen los, keine Wand, sondern einfach eine willkürlich gezogene Trennlinie, hinter der die Welt aufhörte, als hätte - wer immer sie geschaffen hatte - einfach vergessen, sie an dieser Stelle weiterzuformen. Vielleicht war es so.

Sie zwang sich hinunter zusehen, der Gefahr zu begegnen. Sie würde ihr die Bedrohung nehmen. Sie würde sich nicht vom Schock gefangennehmen lassen wie beim ersten Mal. Es war nicht eigentlich die Erscheinung gewesen, sondern mehr das Unerwartete an ihr, das sie getroffen hatte.

Aber Liz begann bereits zu spüren, wie wenig ihr logisch trainiertes Denken gegen das schweigende Grauen dort draußen half. Sie zwang sich, den Blick weiter über den Hof wandern zu lassen, über die Scheune, den buckeligen Umriß des Misthaufens, den Zaun, die Ruine, den...

... Schatten ...

... den Schatten des Hauses. Unbeschädigt.

Klein. Massig und drohend.

Es ist ein Phänomen, versuchte sie sich einzureden. Eine Laune der Natur, die zu erklären ist... irgendwie.

Minutenlang - stundenlang, wie es ihr vor kam - starrte sie den verzerrten Schatten des Gesindehauses an. Eine kaum merkliche Wellenbewegung schien über das Bild zu laufen, als betrachte sie es durch schnell fließendes, klares Wasser, in dem nur hier und da blasse graue Schlieren waren.

Ihr Blick saugte sich an dem dunklen Rechteck dort unten fest. Es war Bewegung in dem Bild. Bewegung, die kein Recht hatte, dort zu sein.

In ihrem Gehirn schien irgend etwas auszusetzen. Ihre Gedanken begannen zu schwingen, wie eine Bogensaite, die schnell und hart bis zum Zerreißen angespannt wird. Ein heller Umriß erschien im Schatten des Hauses. Die... Tür. Der dreieckige Lichtkeil, der aus dem Inneren des Phantomhauses auf den Hof fiel, die... die Gestalt, die darin erschien. Die Gestalt eines Mannes ...

Ein würgender, halb erstickter Laut entrang sich ihrer Kehle und ging in Carrys hysterischem Bellen unter. Der körperlose Schatten dort unten machte einen Schritt, dann noch einen, bis er den hellen Umriß der Tür verließ, mit dem Schatten des Hauses verschmolz und weiterging, weiter und weiter...

Schließlich hatte er den Schatten des Hauses durchquert, wurde wieder sichtbar und stand auf dem Hof, ein körperloser dunkler Fleck ohne Licht und Leben. Sie sah seine Umrisse, jede winzige Kleinigkeit, die kleinen, nervösen Bewegungen seiner Hände, das Rucken, mit dem sein Kopf in den Nacken flog, als würde der vor dreißig Jahren verbrannte Körper, zu dem er gehörte, sie - sie! - ansehen.

Sie stand einfach gelähmt da, unfähig, sich zu rühren, in Bann geschlagen von der unheimlichen Erscheinung, hypnotisiert vom Blick seiner unsichtbaren Augen, die sie zwar nicht sehen, dafür aber um so deutlicher spüren konnte.

Dann, irgendwann nach Sekunden oder Tagen oder Jahrhunderten - es blieb sich gleich, denn ihr Zeitgefühl war ebenso erloschen wie alles andere, und es gab nur noch sie und dieses schreckliche, schwarze Ding dort unten -, bewegte sich der Schatten weiter, wandte sich mit einem lautlosen, unsichtbaren Lachen um und ging weiter auf das Wohnhaus zu.

Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Ihre Kehle war zugeschnürt, und in ihrem Inneren begann etwas heranzuwachsen, das jenseits aller Furcht war, das... Der Schatten ging weiter, verschwand im toten Winkel unterhalb des Fensters und näherte sich mit lautlosen Schritten dem Haus. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie spürte, wie er näher kam, näher und näher, auf das Haus zuging, eine unsichtbare Hand ausstreckte...

Irgendwo, tief unter ihr, fiel eine Tür ins Schloß.

Dann kam der Schrei wieder. Er erwachte jenseits des Waldes dort draußen, wehte zu ihr herüber, ein helles, kaum wahrnehmbares Wimmern zuerst, das stärker und stärker wurde, bis das ganze Zimmer ausgefüllt schien, von jener unglaublichen Sinfonie des Grauens, bis die Luft in ihren Lungen, bis jede Faser ihres Körpers in einem ungeheuren, mißtönenden Orkan aus Lärm versank.

Bansheeeeee...........

Sie hörte nicht einmal, wie Stefan leise neben sie trat.

Der Schrei war alles. Er verschluckte Carrys Bellen, durchdrang das Zimmer, ihre Sinne, ihr Ich, reduzierte ihre Persönlichkeit auf ein jämmerliches Nichts. In ihrem Denken war für nichts weiter mehr Raum als für Schmerz, Schmerz, Angst und Verzweiflung. Die Welt um sie herum zerbarst, zersprang zu Millionen und Abermillionen winziger Bruchstücke, aus denen ihr Angst und Panik entgegensprangen.

»Lizl«

Sie hatte Mühe, Stefans Stimme zu erkennen. Plötzlich war sein vertrauter Baß für sie nicht mehr Trost, sondern nur noch eine Folge bedeutungsloser Laute. Das Gefühl der Sicherheit, das sie immer in seinen großen, starken Armen verspürt hatte, war nicht mehr da.

Sie wirbelte herum, schlug in sinnloser Wut mit den Fäusten auf ihn. Sie traf sein Gesicht, seine Brust, wieder sein Gesicht und spürte, wie er ihre Handgelenke packte und festhielt.

»Siehst du es jetzt!« schrie sie. »Siehst du es?«

»Was?«

»Du mußt es sehen!« keuchte sie verzweifelt. »Du mußt!« Sie riß sich los, packte ihn mit der Kraft, die ihr die Verzweiflung verlieh, und stieß ihn wuchtig gegen das Fensterbrett. »Siehst du es jetzt? Siehst du es? Sag, daß du es siehst!

Sag es!!« Er mußte es sehen. Sie war doch nicht verrückt! Er mußte einfach! Nach einer Ewigkeit nickte er.

Aber allein die Art, in der er es tat, war bereits eine Lüge. Sanft, beinahe zärtlich, löste er ihre Hand von seinem Arm und richtete sich auf. »Natürlich sehe ich es«, sagte er. »Natürlich.« Seine Stimme war leise, monoton und ruhig;ausdruckslos. Der besänftigende Tonfall, in dem man mit einem tobsüchtigen Kind sprach - oder mit einer hysterischen Frau.

»Du lügst!« schrie Liz. Sie fuhr zurück, trommelte erneut mit den Fäusten gegen seine Brust und sank schließlich wimmernd zu Boden.

»Bitte«, schluchzte sie. »Bitte, sag, daß du es gesehen hast. Du... du mußt mir glauben. Bitte... sag... sag, daß ich nicht verrückt bin, daß ... bitte ...« Ihre Stimme versagte. Die Worte gingen in einem krampfhaften Schluchzen unter.

»Aber ich habe es doch gesehen, Kleines«, sagte er leise. Er gab sich nicht einmal Mühe, glaubhaft zu klingen. Sie spürte kaum, wie er sie hoch hob und auf das Bett legte. Erging zum Fenster zurück, schloß es und machte dann Licht. Aber der trübe gelbe Schein konnte die dräuenden Schatten nicht vertreiben. Er hielt sie zurück, bremste ihren Vormarsch, aber sie waren noch da, lauernd und bereit.

»Beruhige dich erst einmal«, murmelte Stefan. »Und dann erzählst du mir in aller Ruhe, was passiert ist.«

»Aber du... du hast es gesehen ...«, wimmerte sie. »Du mußt es einfach gesehen haben! Bitte...«

Stefan nickte. In seinen Augen lag ein besorgter Ausdruck, aber es war nicht die Sorge eines Mannes um seine Frau, sondern eher der Blick eines Arztes, der sich einem interessanten - und hoffnungslosen - Fall gegenübersieht.

Nicht der Blick des Mannes, der sie liebte.

»Ich werde Doktor Swenson anrufen«, sagte er.

Liz richtete sich kerzengerade auf. »Nein!«

»Aber...«

»Nicht den Arzt«, flehte sie. »Bitte nicht, Stefan.« Ihre Stimme war plötzlich ganz ruhig.

Er überlegte einen Augenblick, dann nickte er. »Gut. Wenn du nicht willst. Aber du mußt mir versprechen, dich zu beruhigen.«

Schritte.

Auf der Treppe waren Schritte.

Sie schrak zusammen, blickte sekundenlang zur Tür und dann wieder in Stefans Gesicht. Sein Blick war leer.

Er hörte es nicht, dachte sie entsetzt. Er hörte die Schritte nicht! Aber sie waren doch da! Sie hörte sie deutlich, die langsamen, bedächtigen Schritte eines Mannes der aus dem Erdgeschoß die Treppe heraufkam; langsam, aber unerbittlich. Peter oder Andy, dachte sie verzweifelt. Aber gleichzeitig spürte sie, daß das nicht stimmte. Die Schritte waren zu schwer für die eines Mädchens und zu leicht für Peters; zu regelmäßig. Peter humpelte.

Ihr Blick saugte sich an der Tür fest, während die Schritte näher kamen, den Treppenabsatz erreichten, langsam und schwer auf den knarrenden Fußbodenbrettern polterten, näher und näher... Sie wollte es Stefan sagen, aber sie wagte es nicht. Er würde ihr zustimmen und sie für völlig verrückt halten.

Die Schritte erreichten die Tür, verstummten für einen Moment und...

Liz warf sich mit einem verzweifelten Schluchzen an Stefans Brust und klammerte sich fest.

»Beruhige dich, Schatz«, murmelte er. »Es ist nichts, überhaupt nichts.« Er streichelte über ihr Haar, berührte ihre Schulter, ihr Gesicht. Und wieder spürte sie, daß in seiner Berührung kein Trost lag, daß seine Hand mit der gleichen Beiläufigkeit auf ihr ruhte, mit der er einen Stein oder den Kotflügel seines Wagens berührt hätte. Er teilte ihren Schmerz nicht. Er verstand ihn nicht einmal; mehr noch, er versuchte nicht einmal, ihn überhaupt verstehen zu wollen. »Bitte, Stefan ... ich ...«

»Ja?«

Sie stockte.

Sie hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde, spürte den kühlen Luftzug, als die Tür auf schwang. Aber sie wagte es nicht, auf zusehen.

»Ich möchte weg«, wimmerte sie. »Weg hier, Stefan.«

»Weg?«

»Weg von hier. Laß uns hier weggehen. Bitte!«

»Jetzt?« Seine Stimme klang beinahe spöttisch. »Es ist vier Uhr früh, Liebling.«

»Ich möchte nach Hamburg. Du ... hast es selbst vorgeschlagen«, stieß sie hervor. »Es war deine Idee. Du hast es selbst gesagt.«

Der Schatten war da! Er war hier, im Zimmer, direkt hinter ihr. Sie spürte ihn, spürte sein Lachen, sein lautloses, höhnisches Lachen...

Stefan nickte. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber in Seinen Augenwinkeln glomm plötzlich ein winziges, böses Feuer auf. »Natürlich habe ich es vorgeschlagen. Aber doch nicht mitten in der Nacht.« Er stand auf, löschte das Licht und blieb sekundenlang neben dem Bett stehen. An der gleichen Stelle, an der der Schatten stand... ... gestanden hatte.

Er war verschwunden. Und trotzdem war das Böse noch da, hier im Zimmer, direkt neben ihr.

Nein, dachte sie.

Nicht das! Nicht Stefan! Bitte nicht Stefan!

»Du hast doch selbst gesagt, daß du dich nicht vertreiben lassen willst, oder?« fragte er, während er neben ihr unter die Decke schlüpfte und sich auf die Seite rollte. »Ja, aber...«

»Kein Aber. Wir reden später noch einmal darüber, wenn du dich beruhigt hast.« Seine Stimme klang plötzlich dumpf, als er sich die Decke über den Kopf zog. »Und nun laß mich bitte in Frieden. Ich brauche meine Ruhe, wirklich. Du weißt, daß ich noch zu arbeiten habe. Schlaf jetzt.«

Ein Schlag ins Gesicht hätte sie nicht härter treffen können. Sie rang mühsam nach Worten, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und starrte den Umriß neben sich an. Wie konnte er schlafen? Wie konnte er jetzt schlafen?

»Aber... der Hund...« Sie fuhr hoch, packte Stefan an der Schulter und schüttelte ihn mit aller Kraft. »Hör doch !Carry!«

»Was soll damit sein?« murmelte Stefan.

»Er... er bellt. Hör doch, wie er bellt! Er wittert etwas!«

»Ja«, drang Stefans Stimme dumpf unter der Decke hervor. Sie klang - großer Gott, sie klang nicht nur so, es war so! Als wäre er bereits wieder eingeschlafen. »Ein Kaninchen, vermutlich. Oder deine Banshee. Und jetzt laß mich verdammt noch mal endlich schlafen!«

Für den Bruchteil einer Sekunde starrte Liz ihren schlafenden - SCHLAFENDEN! - Mann noch entsetzt an, dann fuhr sie herum und hoch, sprang aus dem Bett und war mit einem Satz wieder beim Fenster.

Alles war unverändert. Der Schatten des Gesindehauses stand da, unverändert, so wie er vor dem Brand vor drei Jahrzehnten ausgesehen haben mußte, und vom Wald her griff Nebel mit dünnen grauen Fingern auf den Hof. Carrys Bellen steigerte sich zu einem irrsinnigen Heulen, und gleichzeitig sprang er auf die Füße und zerrte wie rasend an seiner Kette. Selbst auf die große Entfernung konnte sie das dumpfe, wütende Knurren hören, das sich unter sein Bellen mischte. Der Hund war halb verrückt vor Angst, tobte jetzt wie ein Irrer. Sie verfolgte seine Bewegungen voller Angst und zugleich morbider Faszination; ein kleiner, pelziger Ball, der am Ende seiner Kraft auf und ab hüpfte und den schweigenden Wald und den grotesk verzerrten Schatten dort unten ankläffte.

Liz schrie gellend auf und rannte aus dem Zimmer. Stefan sah nicht einmal hoch. Erst als sie das Erdgeschoß erreichte, begriff sie wirklich, was sie tat, und blieb abrupt stehen. Ihre Knie begannen zu zittern, so stark, daß sie sich gegen den Türrahmen lehnen mußte. Sie war wahnsinnig! Es war Wahnsinn, dort hinauszugehen, sich diesem Was-auch-immer zu stellen, das dort draußen auf sie wartete, diesem Etwas, das entsetzlich genug war, einen Hund wie Carry in den Irrsinn zu treiben, aber es war auch Wahnsinn, hier zubleiben und weiter die Augen vor der Wahrheit verschließen zu wollen.

Zitternd sah sie sich um. Das Haus war dunkel und still, und ganz plötzlich fiel ihr der Traum ein, mit dem all dies begonnen hatte. Dies hier war der Korridor aus ihrem Traum: von ihrer Position aus wirkte die Treppe riesig, alle Proportionen schienen auf geheimnisvolle Weise verzerrt und falsch, das Schwarz schien zu glänzen wie matter Chrom.

Und draußen wartete die Bestie auf sie.

Dann regte sich Zorn in ihr. Vielleicht nur ein letztes Aufbegehren, aber es war stark, stark genug, selbst die Panik für einen Moment zu verjagen. Sie drehte sich um, trat zitternd an die Tür und blickte durch die beschlagene Scheibe nach draußen. Carry bellte noch immer wie von Sinnen, aber das Geräusch erschien ihr sonderbar fremd und fern, wie ein Laut, der aus einer anderen Welt herüber wehte und hier keinerlei Bedeutung hatte.

Was sie sah, erschien ihr auf den ersten Blick beinahe absurd normal: Vom Waldrand her trieb noch immer Nebel über die Wiese. Es war kühl, einer jenen feucht kalten, klammen Morgen, wie sie in diesem Teil des Landes selbst in der wärmsten Jahreszeit anzutreffen sind, und die Fenster waren beschlagen, so daß der Nebel noch dichter erschien, als er ohnehin schon war.

Die wabernden Schwaden ließen alles grau und trist erscheinen, und die Kälte, die beharrlich durch die Fenster und die kaum isolierten Wände kroch, trug noch dazu bei, die ungemütliche, kalte Atmosphäre des Augenblicks zu vertiefen.

Sie schauderte.

Zum ersten Mal, seit sie hier hergekommen war, erschien ihr dieses Land abweisend und feindselig, nicht irgendetwas in ihm, nicht seine Menschen, keine körperlosen Monster aus sumpfigen Seen, sondern das Land selbst. Der Nebel wogte wie eine graue, auf geheimnisvolle Art von Leben erfüllte Wand jenseits des Zaun es. Die Bäume dahinter waren nichts mehr als graue, zitternde Schatten, die immer wieder hinter treibenden Nebelfetzen verschwanden und so die Illusion von Bewegung und Leben aufkommen ließen.

Sie hob die Hand und berührte das Glas. Es war eisig und feucht, und sie spürte, wie es zitterte; regelmäßig und dumpf zitterte, ein böser, flüsternder Rhythmus wie das Schlagen eines ruhigen Herzens.

Sie fuhr mit einer abrupten Bewegung zurück und ballte die Fäuste, so heftig, daß die kaum verkrustete Wunde in ihrer Linken wieder aufbrach und ihr improvisierter Servietten-Verband feucht und dunkel wurde. Der Schmerz riß sie in die Wirklichkeit zurück. Sie atmete tief und bewußt ein, schüttelte ein paar mal heftig den Kopf und zwang sich, das Bild vor dem Fenster kühl und sachlich zu betrachten. Es war schwer, aber es ging. Sie sah einen Hof, der in schlechtem Zustand war. Dahinter eine Wiese, unter schwerem feuchtem Nebel verborgen und von einem Wald begrenzt. Mehr nicht.

Die Schatten dort draußen waren Schatten, der Nebel, Nebel, ganz normaler, ordinärer Nebel. Mehr nicht.

Mehr nicht, hämmerte sie sich ein. Es gab nichts, wovor sie Angst zu haben brauchte, es hatte nie etwas gegeben und würde nie etwas geben. Stefan hatte recht. Sie war überarbeitet, überreizt. Ihr Körper hatte sich an das harte Leben hier draußen gewöhnt, aber ihr Geist schien länger für die Umstellung zu brauchen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.

Es gibt keine geheimnisvollen Mächte, dachte sie angestrengt. Keine Geister oder Dämonen. Keine Banshees. Es gab sie nicht und hatte sie nie gegeben. Nie, nie, nie! Sie streckte die Hand nach der Klinke aus und zögerte erneut. Sie hatte Angst, fürchterliche, panische Angst wie nie zuvor in ihrem Leben, eine Angst, die vom schrillen Heulen des Hundes noch geschürt wurde, und trotzdem hatte sie sich entschlossen, dort hinauszugehen und sich der Bedrohung zu stellen. Sie würde jetzt hinausgehen und die Sache klären, ein für allemal.

Sie hatte kaum die Kraft, die Klinke herunter zudrücken. Ein plötzlicher Windstoß tauchte über den Hof, riß den Nebel für einen flüchtigen Moment auseinander und drückte die Tür mit unsichtbaren Fäusten nach innen.

Liz trat einen halben Schritt aus dem Haus und blieb fröstelnd stehen. Drinnen war es kühl gewesen, aber hier draußen war es eisig; viel zu kalt für die Jahreszeit, eine Luft, die klar und durchsichtig war und nach Arktis roch, nach Schnee und Kälte und Nebel, der aus Sumpf löchern stieg. Sie widerstand der Versuchung, die Arme um den Körper zu schlingen und sich wie ein verängstigtes Kind in sich selbst zu verkriechen. Der Wind flaute ab, genauso rasch, wie er aufgekommen war, und zurück blieb eine fast unheimliche Stille. Sie drehte sich um und sah, daß der Nebel dichter geworden war und sich auch das Haus in einen massigen, dunklen Schatten verwandelt hatte. Wieder kroch Furcht in ihr empor, und diesmal war es keine Welle brüllender Panik, gegen die sie sich mit ihrer Willenskraft stemmen konnte, sondern eine schleichende, lautlose Angst, die die Barriere um ihren Geist nicht durchbrach, sondern unterlief und wie ein heimtückisches Gift in ihr Bewußtsein tröpfelte. Sie wollte schreien, aber sie tat es nicht. Der Nebel wogte stärker, bildete bizarre Formen und Umrisse, Grimassen und dünne, viel fingerige Hände, die nach ihr zu greifen schienen. Sie wußte, daß all dies nicht wirklich da war, daß die amorphe graue Masse nicht mehr als eine Leinwand war, auf die ihr Unterbewußtsein die Schrecken projizieren konnte, die es verbarg. Aber dieses Wissen nutzte erstaunlich wenig.

Sie schloß die Augen, ballte die Fäuste und versuchte, einen Schritt auf die Nebelmauer zu machen. Sie wollte es nicht. Sie wollte sich umdrehen und weglaufen, rennen, ganz egal, wohin, nur rennen, rennen, rennen, um nie wieder stehen zubleiben, aber gleichzeitig wußte sie auch, daß damit alles nur viel schlimmer würde. Sie mußte diesen Schritt tun, nur einen einzigen Schritt, mit dem sie sich der Konfrontation stellen, sie bekämpfen konnte. Aber ihre Glied erschienen ihren Befehlen plötzlich nicht mehr zu gehorchen.

Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, war es vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, durch eine gigantische unsichtbare Glasscheibe zu fallen.

Dann...

Der Nebel wurde wieder zu Nebel, die Schatten zu Schatten, und die Kälte ließ jetzt nur noch ihren Körper frösteln.

Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können.

Sie hatte gewonnen. Sie hatte sich der Konfrontation gestellt, und sie war als Sieger daraus hervorgegangen. Es...

Carrys Bellen steigerte sich plötzlich zu einem irren Kreischen, um dann in ein helles Jaulen überzugehen - und abzubrechen.

Sie erstarrte. Auf seine Art war das Schweigen, das jetzt über dem Hof lastete, noch bedrohlicher als das Kläffen des Hundes. Es war nicht bloß Stille. Etwas war dort draußen. Etwas anderes. Finsteres. Etwas ungeheuer Böses, das...

Sie schüttelte ihre Angst ab und rannte los. Die Hoftür flog mit lautem Krachen und dem Klirren zerberstenden Glases gegen die Mauer, als sie aus dem Haus stürmte. Der Hund war tot.

Sie sah es im gleichen Moment, als sie das Haus verließ.

Er lag am Ende seiner Kette, ein zusammengestauchtes, verdrehtes Bündel Fell und Knochen. Rings um ihn herum war der Boden aufgewühlt, und an seinen Pfoten klebten noch Spuren des Lehms, in dem er wie irr getobt hatte.

Einen Atemzug lang blieb sie stehen, ehe sie mit steifen, widerwilligen Schritten weiterging und sich dem leblosen Körper des Tieres näherte.

Carry war nicht bloß tot.

Liz wurde plötzlich klar, daß es Unterschiede gab, daß Tod nicht gleich Tod war, sondern daß auch dieser Begriff differenziert werden konnte und von sanftem Entschlafen über die ganze Skala des Grauens hinweg reichte.

Und noch ein Stückchen weiter.

Carrys Beine waren verdreht und gebrochen. Sein breites, gutmütiges Hundegesicht war zu einer breiten Masse zerschlagen, in der weiße Knochensplitter und hellrotes Blut glitzerten. Sein Fell war zerschunden, ganze Bündel wie von einer ungeheuerlichen Kraft herausgerissen, so daß darunter die blutige, nackte Haut sichtbar war.

Eine endlose Sekunde lang betrachtete Liz den Körper des Hundes mit einer fast wissenschaftlichen Neugier, und ihr Denken wurde allein von der Frage ausgefüllt, welcher Gegner einen so riesigen Hund wie Carry in wenigen Sekunden derart zurichten konnte. Und dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, schlug das Grauen über ihr zusammen. Sie brach in die Knie, warf sich über den zerfetzten Körper des Hundes und schrie, schrie, schrie...

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