12.

Sie war nicht einmal mehr im Wald, sondern stand auf dem Weg, zwei Schritte vom Waldrand entfernt, der jetzt wieder ein ganz normaler Wald war, keine schwarze Wunde in der Wirklichkeit mehr. Die Tür in die Welt der Alpträume war wieder zugeschlagen.

Und jetzt kam auch die Angst.

Liz' Hände und Knie begannen so heftig zu zittern, daß sie für Sekunden einfach stehen blieb, reglos und ohne zu atmen. Ihre Gedanken drehten sich hektisch im Kreis, schlugen Purzelbäume, begannen sich zu verwirren. Sie stöhnte, öffnete die Augen und registrierte ohne Überraschung, aber voller Entsetzen, daß sie wieder auf dem Hof war, gleich neben Carrys Hütte, dort, wo dieser entsetzliche Alptraum begonnen hatte. Langsam, mit erzwungen ruhigen Bewegungen drehte sie sich herum und ging zum Schuppen hinüber. Trotzdem war sie schweißgebadet, als sie den Schuppen erreichte. Auch hier drinnen war es nicht viel kühler als draußen, aber sie war wenigstens nicht mehr unter freiem Himmel, war in einem Haus, in Sicherheit, im Schutz seiner Wände und - was vielleicht das wichtigste war - in der Nähe eines Menschen. Durch ein Dutzend großer und ein paar hundert kleiner Löcher im Strohdach fiel heller Sonnenschein in Streifen herein und verwandelte den Boden in ein fleckiges Muster aus braunem Lehm und goldenen Lichttümpeln, in denen kleine halb vertrocknete Strohhalme und Dreckklümpchen schwammen. Es roch angenehm nach Heu und Holz, nach trockenem Staub und Hühnermist, nach Wärme und Sonnenlicht und heißem Maschinenöl. Sie liebte den Geruch von Benzin und Öl. Ganz instinktiv suchte sie den Traktor. Das rostrote Ungetüm stand aufgebockt und ohne seine Räder auf vier ungleich hohen Holzpflöcken. Die Motorhaube war hochgeklappt, was ihn ein bißchen wie einen großen rostigen Eisenkäfer aussehen ließ, der die Flügel zum Abflug gespreizt hatte.

Sie fand Peter bei dem alten Traktor. Peter steckte bis zu den Schultern im Inneren der Maschine und bemerkte sie erst, als sie ganz dicht hinter ihm stand. Liz war ganz sicher, kein verräterisches Geräusch gemacht zu haben, aber Peter schien ihre Nähe einfach zu spüren, denn er fuhr so abrupt herum, daß er sich den Kopf an der Motorhaube an stieß, und lächelte verlegen. »Morgen, Ma'am.« Für einen Moment sah er aus wie ein verängstigtes Tier, das nach einem Fluchtweg suchte und keinen fand. In seinen Augen stand derselbe erschrockene Ausdruck wie vorhin, als er Liz zugenickt hatte. Aber das war auf sichere Entfernung geschehen. Jetzt - ja, dachte Liz verstört, er hatte wirklich sehr viel von einem gejagten Tier an sich - jetzt war die Fluchtdistanz unterschritten. Er hatte Angst.

Ganz instinktiv wich sie wieder einen Schritt zurück und versuchte so unverfänglich wie möglich zu lächeln.

»Guten Morgen, Peter.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Wrack des Traktors. »Sie interessieren sich für Technik?«

Er nickte. »Ein bißchen.« Sein Blick flatterte unstet durch den Raum, wie ein kleiner verängstigter Vogel, der verzweifelt nach einem Ausweg suchte und keinen fand. »Das Ding ist ziemlich ruiniert, nicht?« fragte sie. Es interessierte sie nicht wirklich, aber die Situation begann auch für sie allmählich mehr als unangenehm zu werden. Sie wünschte, sie wäre nicht hergekommen. Was, zum Teufel, sollte sie ihm sagen? Daß sie hierher geflohen war, weil sie Angst vor ein paar Schatten und einem DING im See gehabt hatte? Lächerlich!

»Nein«, antwortete Peter. Seine Augen leuchteten auf. »Er läuft nicht, aber ich denke, ich krieg ihn wieder hin. Ich muß nur ein paar Ersatzteile aus der Stadt haben. Aber das wird nicht so teuer«, fügte er mit einem raschen, verlegenen Lächeln hinzu. »Wirklich? Ich... das wäre herrlich.« Die Vorstellung, sich auf den Sattel des Traktors zu schwingen und damit über die Wiesen und Felder zu fahren, gefiel ihr. »Ich habe immer gedacht, das Ding wäre total hin, so wie er aussieht.« Sie betrachtete das verrostete Wrack kopfschüttelnd. Der Teil der Motorhaube, gegen den Peter beim Herumdrehen gestoßen war, war herunter geklappt, so daß der Traktor nun nicht nur wie ein rostiger, sondern noch dazu verstümmelter Eisenkäfer aussah. Der größte Teil seiner gußeisernen Eingeweide war herausgerissen und in heillosem Chaos auf dem Boden verteilt. Zehn Jahre altes Öl tropfte aus einem Schlauch wie schwarzes Blut aus einer abgerissenen Arterie, und je länger sie hinsah, desto mehr erinnerte sie die offene Motorklappe an eine schreckliche rechteckige Wunde.

Sie bemerkte, daß sich die Wirklichkeit schon wieder zu verzerren begann. Sie sah Dinge, wo andere waren. Sie würde irgendwann den Verstand verlieren, wenn sie nichts gegen diese Entwicklung unternahm. Beinahe hastig konzentrierte sie sich wieder auf den rein praktischen Aspekt dessen, was sie sah.

Es erschien ihr immer noch unmöglich, daß jemand aus diesem Haufen Schrott wieder eine funktionierende Maschine machen konnte. Andererseits - Ohlsberg hatte gesagt, daß Peter sehr geschickt wäre. Und er würde nicht lügen, nur um sich interessant zu machen.

»Das wird schon, Ma'am«, sagte Peter, dem ihr zweifelnder Gesichtsausdruck keineswegs entgangen war. Er fuchtelte mit einer ölverschmierten Hand in der Luft herum. »Ist nur äußerlich. Die Leute, die ihn vorher gehabt haben, haben wohl nichts von Maschinen verstanden. Sie werden sehen, wenn ich damit fertig bin, läuft er wieder wie neu. Ist ein guter Traktor. Sieht nur nicht gut aus, aber Sie werden sehen, er ist besser als die Dinger, die sie heute bauen.« Er klopfte mit der Hand auf die offen stehende Motorhaube, was einen tiefen, satten Klang erzeugte, der sonderbar lang ein der leer stehenden Scheune widerhallte.

»Sie kennen moderne Traktoren?« fragte Liz.

»Nur vom Sehen«, antwortete Peter. »Aber ich mag sie nicht. Sie sind zu groß. Zu laut.« Er lächelte verlegen, drehte ein paar mal den Kopf nach rechts und links, als wisse er plötzlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick, und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu, so plötzlich, als wäre ihm erst jetzt wirklich klar geworden, was er tat und daß es überdies etwas Verbotenes war.

Liz beobachtete ihn eine Weile. Er hantierte mit einem Geschick an der Maschine, das sie ihm gar nicht zugetraut hätte. Plötzlich erschien es ihr gar nicht mehr so unglaublich, daß er den Traktor wieder zum Leben erwecken würde. Seine Finger bewegten sich mit einer schon fast unheimlichen Geschicklichkeit, und während sie es taten, veränderte sich auch sein Gesichtsausdruck: Es war beinahe unheimlich, vielleicht vor allem, weil es so schnell ging.

Eine sichtbare Spannung breitete sich auf seinen Zügen aus; von einer Sekunde zur anderen verwandelte er sich in einen völlig anderen Menschen. Aus dem trotz allem noch kindlichen, irgendwie unfertigen Gesicht eines Beinahe-Idioten wurde das eines ganz normalen, gut aussehenden jungen Mannes, der sich völlig auf seine Aufgabe konzentrierte. So sehr, daß er alles andere rings um sich herum zu vergessen schien; selbst sie, obwohl er noch vor Sekunden mit ihr gesprochen hatte. Er war... unheimlich, dachte Liz. Es war das zweite Mal, daß sie glaubte, ihn ganz anders zu sehen, als er war, und obgleich er sich diesmal nicht in ein Ungeheuer mit einem Gorgonenhaupt und furchtbaren gelben Augen verwandelte, war der Effekt kaum weniger erschreckend als beim ersten Mal. Sie schauderte. Ein Gefühl eisiger prickelnder Kälte breitete sich auf ihren nackten Unterarmen aus. Als sie an sich her absah, stellte sie fest, daß sie eine Gänse haut hatte.

Liz drehte sich mit einer so abrupten Bewegung herum, daß selbst Peter einen Moment in seiner Arbeit inne hielt und stirnrunzelnd aufsah, machte einen Schritt zur Tür hin und blieb wieder stehen. Nein - sie konnte nicht hinaus. Noch nicht. Es war noch dort draußen, was immer es auch war, lange nicht mehr so intensiv und drohend wie vorhin, als sie hierher eingeflohen war, aber noch immer präsent. Sie blieb stehen, sah Peter weiter schweigend bei seiner Arbeit zu und kam sich immer alberner vor.

»Was war eigentlich mit dem Hund los?« fragte sie nach einer Weile. »Mit Carry? Er hat gebellt wie ein Irrer.«

Peters Kopf tauchte aus den Eingeweiden der Maschine auf. Über seinem linken Auge glänzte ein kleiner Ölfleck, der vorher nicht dagewesen war. »Weiß nicht, Ma'am«, antwortete er - jetzt wieder mit der monotonen, leicht schleppenden Stimme. Er war wieder er, der Dorftrottel, der Beinahe-Idiot, der Spion, den Ohlsberg zu ihnen geschickt hatte. Sie hatte den Zauber zerstört, dachte sie, und empfand ein absurdes, heftiges Gefühl von Schuld dabei.

»Er muß irgend etwas gewittert haben. Vielleicht ein Kaninchen.«

Liz schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie überzeugt. »Das war kein Kaninchen. Auch kein Fuchs. Ich kenne Carry. Es muß schon etwas Großes sein, wenn er so durchdreht.«

Peter überlegte einen Augenblick. »Früher gab es Wölfe hier in der Gegend«, erzählte er. »Aber die letzten sind vor fünfzig Jahren geschossen worden.«

»Wölfe?« wiederholte Liz ungläubig. »Hier?«

Peter nickte heftig. »Ja, bestimmt. Ich hab' natürlich keinen mehr gesehen, war ja damals noch gar nicht auf der Welt, aber mein Vater hat erzählt, daß er noch einen gesehen hat, mit eigenen Augen.«

Aber hier? dachte sie. Das war kurz vor dem Krieg. Wölfe? Wölfe?

»Es gibt eine Menge komischer Sachen hier«, sagte Peter.

»Dinge, die es anderswo vielleicht nicht mehr gibt. Ohlsberg sagt das auch. Und es stimmt. Hab' selbst ein paar Sachen gesehen, die komisch waren.«

»Sachen?« fragte Liz rasch. »Was für Sachen?«

»Komische Dinge eben«, erwiderte Peter ausweichend. Sie spürte, daß er schon wieder an dem Punkt angelangt war, an dem er nicht weiter sprechen wollte und bereits bedauerte, überhaupt geantwortet zu haben. »Besser, man spricht nicht darüber.« Dinge wie einen Schrei, der kein Schrei gewesen war, dachte Liz schaudernd. Laut sagte sie: »Mein Mann meint, es könnte ein Fuchs sein. Aber das... glaub' ich nicht.«

»Sicher. Füchse gibt es viele hier. Manche haben die Tollwut. Besser, man geht ihnen aus dem Weg. Und Wildschweine. Aber die trauen sich nicht so weit aus dem Wald heraus. Jedenfalls nicht am Tag.«

»Bären gibt es ja wohl nicht zufällig auch noch hier, oder?« fragte Liz scherzhaft. Ihr war noch immer kalt. Der Scherz kam ihr selbst lahm und dumm vor. Peter reagierte nicht darauf. Er sah Liz einen Atemzug lang an, ehe er sich erneut über die Maschine beugte und an irgend etwas herumzuschrauben begann. Diesmal verwandelte er sich nicht. Er tat nur so, als arbeite er, aus dem einzigen Grund, nicht mehr mit ihr reden zu müssen. Sie spürte, wie sehr er dar aufwartete, daß sie endlich ging.

Peter antwortete nicht, und plötzlich begriff sie, das er auch nicht weiter reden würde. Und wahrscheinlich wußte er ja auch gar nichts.

»Ich ... ich mache gleich das Essen«, sagte sie schließlich. »Sie kommen dann rüber, wenn ich rufe, ja?«

Er nickte, ohne von seiner Arbeit auf zusehen. Eine Schraube entglitt seinem Finger, prallte mit einem glasklaren Plink vom Motorblock ab und rollte davon, um von den Schatten gefressen zu werden.

»Gut. Ich - gehe dann.« Sie drehte sich um und verließ zögernd die Scheune. Diesmal hatte sie keine Angst. Aber sie spürte ein leichtes Bedauern - sie hätte sich gerne noch ein wenig mit Peter unterhalten. Der Mann, war bestimmt nicht halb so verrückt, wie Ohlsberg behauptet hatte. Er war nur scheu, introvertiert, eine Verhaltensweise, die von den einfachen Leuten hier oben vielleicht als verrückt ausgelegt wurde. Allenfalls ein bißchen verhaltensgestört. In der Stadt, aus der Stefan und sie gekommen waren, hätte man ihn zu einem guten Psychotherapeuten geschickt, und er wäre nach ein paar Sitzungen geheilt. Vielleicht - wäre er auch erst gar nicht so geworden, wie er war; Liz zweifelte jetzt immer weniger daran, daß Ohlsberg und die anderen - wer immer diese anderen auch sein mochten - ihn sechsunddreißig Jahre lang geduldig zu dem gemacht hatten, was er jetzt war. Und vielleicht, fügte sie in Gedanken spöttisch hinzu, war das Land leben dem in der Stadt nicht in allen Punkten überlegen.

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