4.

Das grelle Mittags licht blieb hinter ihr zurück, als sie den Dorfkrug betrat. Wieder war sie für einen Moment fast blind, und nach der Hitze draußen empfand sie die kühle, nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch riechende Luft beinahe als unangenehm.

Der Dorfkrug war so typisch wie Beldersens Laden: es gab eine uralte, von Brandflecken und Ringen übersäte Theke deren Holz fast schwarz war, ein gewaltiges Flaschenregal und eine überraschend moderne Zapfanlage aus blitzendem Chrom und Messing. Nicht zum ersten Mal, seit sie in Schwarzenmoor war, schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, wie sehr hier alles ganz genau so aussah, wie man es in einem Dreihundert-Seelen-Dorf fünf Meter vor dem Ende der Welt erwartete. Fast, als gebe sich jedermann hier Mühe, ganz genau nicht unbedingt dem Durchschnitt, aber den Klischees zu entsprechen, die man dafür halten mochte. Oder nicht aufzufallen ...

Sie entdeckte Stefan zusammen mit Ohlsberg und einem dritten Mann in der hintersten Ecke des trapezförmigen Raumes, bestellte im Vorbeigehen ein Bier und schlängelte sich in einem geschickten Slalomkurs durch das geordnete Durcheinander aus Stühlen und Tischen, das im Moment allerdings verwaist war.

»Frau König.« Ohlsberg schenkte ihr ein knappes Nicken und sog an seiner Pfeife. »Ihr Mann hat Ihnen sicher schon erzählt... ?« Er machte sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen oder ihr mehr als einen flüchtigen Blick zu gönnen, als sie den Tisch erreichte. Er mochte Liz nicht besonders, aber das störte sie nicht, denn es war ein Gefühl, das durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

Sie nickte. »Ja. Sie haben jemanden gefunden, der bei uns arbeiten kann?« Sie wandte den Kopf und sah den dritten Mann an. »Sie, vermute ich.« Sie richtete die Frage ganz bewußt nicht an Ohlsberg, obwohl sie bezweifelte, daß er die kleine Spitze überhaupt bemerkte.

»Ja.«

Der Mann war klein, kleiner noch als sie und unglaublich schmal. Er war auf die hier übliche Art gekleidet - schwere, große Baumwollhosen in einem undefinierbaren Farbton irgendwo zwischen Blau und Schwarz, ein dunkelgrünes Hemd, über dem sich abgewetzte Hosenträger spannten. Auf der Lehne seines Stuhles hing eine dazu passende Jacke mit zahllosen Taschen, die aussah, als wöge sie mindestens einen Zentner. Aber er schien all diese Sachen von einem mindestens fünfzig Pfund schwereren großen Bruder geerbt zu haben, denn das Hemd schlabberte um seine schmalen Schultern, und unter der Hose, deren Beine ein Stück zu kurz waren, kamen unglaublich dünne (und unglaublich schmutzige) Beine zum Vorschein. Wäre sein bärtiges, zerfurchtes Gesicht nicht gewesen, hätte sie im Halbdunkel des Raumes geglaubt, einem Halbwüchsigen gegenüberzusitzen. Aber die abgearbeiteten, starken Hände, die vor ihm auf der Tischplatte lagen und nervös mit einem Bieruntersetzer spielten, sagten ihr, daß der Mann kräftig zupacken konnte. Er mochte schmal sein, aber er war zweifellos sehr zäh; und wahrscheinlich war er sehr viel stärker, als sein Aussehen vermuten ließ. Seine Augen waren dunkel und lagen tief zurückgezogen unter buschigen Brauen, die in der Mitte fast zusammengewachsen waren. In ihrem Blick war etwas, das Liz gleichermaßen faszinierte wie ab stieß.

Stefan schob den Stuhl zurück und machte eine einladende Geste. »Das ist Peter«, erklärte er aufgeräumt, nachdem sie sich gesetzt hatte. »Peter Heyning. Er kann gleich mitkommen. Er ist sofort frei. Ist das nicht herrlich?«

»Sofort?« wiederholte Liz überrascht.

»Sofort.« Es war Ohlsberg, der antwortete, nicht ihr Mann oder Peter, wie Liz mit einem leisen Anflug von Ärger feststellte. Sie versuchte, ihn zu ignorieren, und zwar möglichst so, daß er es bemerkte.

Der Wirt kam und brachte ihr Bier; Liz nahm das Glas dankend entgegen und trank langsam, während sie Heyning über den Rand hinweg unverhohlen musterte. Heyning wich ihrem Blick aus, aber das war nichts Ungewöhnliches - schließlich kannten sie sich nicht, und sie war seine zukünftige Dienstherr in und außerdem eine der beiden Fremden, die in die Stadt gekommen waren und denen hier sowieso jedermann mit Mißtrauen begegnete. Und außerdem hatte sie das sehr sichere Gefühl, daß Heyning ohnehin nicht unbedingt einer der Hellsten war. Aber das war es nicht, was sie irritierte. Sie konnte sich natürlich täuschen, aber Heyning schien über die Aussicht auf ihrem Hof zu arbeiten, nicht besonders erfreut zu sein. Und er gab sich auch kaum Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Einen Herzschlag lang trafen sich ihre Blicke, und Liz konnte ein ganzes Sammelsurium von Gefühlen in den Augen des anderen erkennen: Angst... (Angst? Aber wovor denn ?) Mißtrauen. Widerwillen und - Mitleid? »Du solltest unserem neuen Mitarbeiter guten Tag sagen, Schatz«, sagte Stefan. In seiner Stimme lag ein leichter Tadel. Liz schrak ein ganz kleines bißchen zusammen, als ihr klar wurde, daß sie Heyning länger als eine halbe Minute wortlos und durchdringend angestarrt haben mußte.

Sie gab sich einen Ruck. »Guten Tag«, sagte sie steif. Heyning erwiderte den Gruß mit einem stummen Kopfnicken.

Ohlsberg nahm seine Pfeife aus dem Mund und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Sein borkiges Gesicht verzog sich zu einer Miene, die sowohl ein Lächeln als auch etwas ganz ganz anderes sein konnte. Für einen Moment hatte Liz den Eindruck, einen Schauspieler vor sich zu haben, der seinen Text vergessen hatte und nun durch eine nicht besonders gekonnte Mimik versuchte, Zeit zu gewinnen. Er räusperte sich und warf Stefan einen schnellen, verstohlenen Blick zu. »Sie dürfen es ihm nicht übel nehmen, wenn er manchmal etwas wortkarg erscheint«, sagte er. Seine Stimme erschien ihr tiefer und grollender, als sie sie in Erinnerung hatte. »Er ist ziemlich scheu, wissen Sie.«

»So?«

»Nun...« Ohlsberg zog an seiner Pfeife und blies eine graublaue Rauchwolke in ihre Richtung. Sie hustete demonstrativ, ohne daß Ohlsberg sichtlich Notiz davon nahm. »Er hat zehn Jahre lang auf einem Hof auf der anderen Seite des Moores gearbeitet. Die Leute sind gestorben, die Frau vor drei Jahren und letzte Woche der Mann. Sie waren...« Er zögerte und begann neu. »Sie würden sie vielleicht seltsam nennen. Sie haben nicht viel geredet, wissen Sie. Und sie waren ziemlich menschenscheu. Das hat natürlich auch auf Peter abgefärbt. Aber er wird sich schon auf Ihrem Hof einleben. Er ist ein guter Arbeiter. Ich habe schon alles mit Ihrem Mann geklärt. Geld, Urlaub und so.«

Liz schenkte Ohlsberg einen feindlichen Blick. Die Art, wie der Bürgermeister über Heyning sprach, gefiel ihr nicht besonders. Sie hatte es noch nie leiden können, wenn man über Menschen wie über Dinge sprach, erst recht nicht in deren Gegenwart. Heyning selbst schien das alles nichts auszumachen, aber das vertiefte ihren Zorn eher noch.

Mit einem Mal fühlte sie sich verletzt, an Heynings Stell ein ihrer Menschenwürde gekränkt und lächerlich gemacht durch die Art, in der Ohlsberg über ihn sprach. Und sie war fast sicher, daß Ohlsberg dies ganz genau wußte. Möglicherweise galt dieser Angriff nur ihr.

Sie setzte zu einer scharfen Entgegnung an und verstummte im letzten Moment, als sie Stefans warnenden Blick bemerkte.

Er schüttelte unmerklich den Kopf und machte mit dem Zeigefinger eine Geste, als wolle er ihn über die Lippen legen. Liz' Zorn stieg fast noch mehr. Nicht genug, daß dieser impertinente eingebildete alte Trottel auf der anderen Seite des Tisches ihr ein Verhalten vorführte, das eher ins Mittelalter als ins zwanzigste Jahrhundert paßte - nein, Stefan mußte auch noch seine Partei ergreifen und ihr mehr oder weniger offen in den Rücken fallen!

Wenn Ohlsberg etwas von dem stummen Duell zwischen ihnen bemerkt hatte, so ließ er sich nichts anmerken. Er drehte schwer fällig den Kopf und sah Heyning an.

»Hol uns noch eine Runde Bier, Peter.« Die Worte waren in freundlichem Tonfall hervorgebracht, aber es bestand kein Zweifel daran, daß sie ein Befehl waren. Heyning stand auf, schnell, fast hastig, und lief zur Theke. Liz begriff plötzlich, daß dieses Verhalten weit über den normalen Respekt eines einfachen Landarbeiters gegenüber dem Dorf ältesten hinausging. Er benahm sich wie ein... Sklave. Ja - Sklave und Herrscher, das waren sie.

»Da ist noch etwas, was Sie wissen sollten«, sagte Ohlsberg, nachdem Heyning außer Hör weite war. »Ich habe es Ihrem Mann schon gesagt, aber ...« Er nahm die Pfeife aus dem Mund, verzog das Gesicht und tippte sich mit dem Mundstück gegen die Schläfe. »Wissen Sie, Peter ist... nicht ganz richtig hier, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Sie meinen, er ist verrückt«, sagte Liz böse. Ihre Stimme war so voller unverhohlener Aggressivität, daß sie beinahe selbst erschrak.

Ohlsberg schüttelte den Kopf. »Nein. Verrückt ist er bestimmt nicht. Vielleicht etwas zurückgeblieben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er ist ein lieber, netter Kerl, ein guter Arbeiter, wie ich bereits gesagt habe, aber er ist wie ein kleines Kind. Sie dürfen nicht zu viel von ihm verlangen, wissen Sie. Hier, meine ich.« Er tippte sich wieder gegen die Stirn. »Wenn Sie ihm sagen, was er zu tun hat, dann wir der es tun, nur mit dem Denken ist es nicht allzu weit her bei ihm. Aber er ist vollkommen harmlos.«

»Ich verstehe«, murmelte Liz. »Man schickt uns den Dorftrottel, nur damit wir endlich still sind.« Sie sprach ganz bewußt so leise, daß Ohlsberg nicht sicher sein konnte, ob die Worte wirklich ihm galten oder ob sie ein Selbstgespräch führte. Und diesmal sah sie, wie der Pfeil traf. Ohlsberg starrte sie an. In seinen Augen blitzte es zornig auf.

»Sie... irren sich, Frau König«, sagte er, jetzt nur noch mühsam beherrscht. »Weder Peter noch ich sind das, wofür Sie uns zu halten scheinen. Sie selbst«, fügte er kühl hinzu, »übrigens auch nicht, glaube ich.«

Ganz plötzlich mußte sie mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, ihr Bier zu nehmen und es Ohlsberg ins Gesicht zu schütten. Wenn er noch ein Wort sagte... Aber der Alte sprach nicht weiter, als Heyning wiederkam und ein Tablett voller Gläser vor ihnen auf dem Tisch absetzte.

Liz beobachtete ihn dabei mit der gleichen, unverblümten Offenheit wie zuvor, aber jetzt sehr viel freundlicher. Ohlsbergs Art, über Heyning zu reden, machte ihn ihr unwillkürlich sympathischer. Deine Feinde sind automatisch meine Freunde, dachte sie sarkastisch. Aber sie sah auch, daß Ohlsberg zumindest in einem Punkt recht hatte - Peter war ausgesprochen geschickt. Schon die Art, wie er das Tablett und die Gläser handhabte, verriet ihr viel mehr als alle umständlichen Erklärungen. Sie konnte sich ihn gut au feinem Bauernhof wie dem ihren vorstellen.

»Wie alt sind Sie, Peter?« fragte sie.

Heyning zuckte zusammen, obwohl die Frage nun wirklich harmlos war. »Ich bin... äh... sechsunddreißig, Madam«, stotterte er. »Ja. Sechsunddreißig.«

»Und Sie wollen bei uns arbeiten?« fuhr sie behutsam fort. »Ich meine, wollen Sie es wirklich? Herr Ohlsberg hat Ihnen gesagt, daß wir jemanden für die schweren Arbeiten suchen, nicht?«

»Sicher. Ihr Mann... Herr König... hat mir alles erklärt...«

»Wenn Sie auf einem Hof gearbeitet haben, dann wissen Sie ja, daß es dort schwere Arbeit gibt«, bohrte Liz weiter. Das war eine Feststellung, die ungefähr so intelligent war wie die, daß Wasser naß sei, dachte sie spöttisch. Aber Heyning antwortete mit großem Ernst.

»Oh, das macht nichts... Ich bin stark, Madam. Auch wenn das nicht so aussieht. Aber ich kann alles tun, was es an Arbeit gibt. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich bin gesund. Und ich habe den Hof meines ... Herrn die letzten Jahre fast allein geführt.«

»Ihres Herren!« wiederholte Liz betont. Sie schüttelte den Kopf. »Den können Sie vergessen, Peter«, sagte sie, mit einem zuckersüßen Lächeln in Ohlsbergs Richtung. »Wir halten keine Sklaven.«

Peter blickte sie nun vollends verwirrt an, und auch zwischen Ohlsbergs Brauen entstand eine tiefe Falte, während er die Pfeife aus dem Mund nahm. Er setzte dazu an, etwas zusagen, und allein sein Gesichtsausdruck sagte Liz, daß es nichts allzu Freundliches sein würde. Aber Stefan kam ihm zuvor. »Was soll das?« fragte er scharf - und auf französisch, wie sie erst nach einigen Augenblicken begriff. »Willst du ihn vergraulen, oder was? Ich bin froh, daß Ohlsberg jemanden gefunden hat. Hör endlich auf.«

Er machte eine rasche, befehlende Handbewegung, drehte sich um und wandte sich wieder an den Bürgermeister. »Ich denke, wir sind uns einig. Ich bringe nur rasch meine Frau zurück zum Hof. Dann komme ich wieder und hole Peter ab.« Liz' Finger krampften sich so fest um das Bierglas, daß die Knöchel weiß hervortraten. Sie spürte, daß sie gleich explodieren würde. Stefans Verhalten hatte die Grenzen des Erträglichen erreicht. Sie konnte zur Not noch verstehen, daß Ohlsberg sich so benahm - schließlich mußte sie ihm zugute halten, daß er ein Idiot war. Aber Stefan... begriff er eigentlich nicht, wie sehr sein Benehmen - schon allein dieser ganz offene Wechsel zu einer fremden Sprache, der Heyning mehr verletzen mußte, als wenn er die Worte verstanden hätte - die Würde dieses Menschen mit Füßen trat?

Ohlsberg winkte ab. »Das ist nicht nötig. Er hat noch einen Teil seines Gepäcks auf dem Hof, den muß er sowieso erst holen.«

»Das kann Stefan mit dem Wagen machen«, sagte Liz.

Ohlsberg überging den Einwurf. »Das Zeug paßt sowieso nicht alles in Ihren kleinen Wagen. Ich denke, er kann die paar Kilometer ganz gut zu Fuß gehen.«

»Es sind fünf Kilometer, nicht ein paar!« protestierte Liz. »Stefan kann zweimal fahren, wenn es nötig ist. Zu Fuß ist man ja den ganzen Tag unterwegs.«

»Sie machen sich entschieden zu viel Umstände«, sagte Ohlsberg ruhig. »Peter kann ganz gut zu Fuß kommen. Er ist es gewöhnt, nicht wahr, Peter?«

Heyning nickte, eine Spur zu hastig, wie Liz fand. »Sicher, Madam. Morgen früh bin ich bei Ihnen, bestimmt. Es... es macht mir nichts aus, zu Fuß zu gehen. Ich bin das gewohnt, wirklich.«

»Ich muß sowieso noch einmal kommen«, sagte Liz. »Ich muß noch ein paar Dinge aus Beldersens Laden holen, die nicht mehr in den Wagen passen.«

»Er kommt zu Fuß«, sagte Ohlsberg bestimmend.

Liz wandte sich hilfesuchend an Stefan. Aber ihr Mann sah weg.

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