23.

Peter ging ihnen auch am nächsten Morgen noch aus dem Weg. Sein Platz am Frühstückstisch, den sie für ihn gedeckt hatte, blieb leer, und Stefan antwortete auf ihre entsprechende Frage nur mit einem Achselzucken und einem in-den-Bart-gemurmelten-irgend-etwas. Er war brummig und schlechter Laune wie fast jeden Morgen, und Liz war ihm nicht besonders gram, als er nach kaum zehn Minuten aufstand und in sein Zimmer hinauf schlurfte. Manchmal war es etwas stressig, mit einem Morgenmuffel verheiratet zu sein.

An diesem Tag jedoch empfand sie es eher als angenehm,nicht mit ihm reden zu müssen. Sie hatte das sehr sichere Gefühl, daß Stefan alles andere als einverstanden gewesen wäre, hätte er ihren Plan gekannt, unbeschadet dessen, was er gestern selbst gesagt hatte. Und sie hatte das fast ebenso sichere Gefühl, daß es vielleicht besser wäre, noch einen weiteren Tag mit seiner Realisierung zu warten - sie war übermüdet, überreizt und verkatert, alles in allem keine besonders gute Voraussetzung, zum Gegenangriff anzusetzen.

Aber sie wußte auch ebenso sicher, daß sie es wahrscheinlich gar nicht tun würde, wenn nicht heute.

Sie wartete, bis sie sicher war, daß Stefan in seinem Arbeitszimmer angelangt war und auch für die nächsten Stunden nicht herauskommen würde, dann schüttete sie den Rest ihres längst kalt gewordenen Kaffees hinunter, ging ins Wohnzimmer und nahm das Telefonbuch von Hamburg aus der Schublade.

Eine dreiviertel Stunde, vier Telefonate und eine halbe Schachtel Zigaretten später verließ sie das Haus und ging in die Scheune hinüber, um Peter zu suchen. Wie immer, wenn sie ihm nichts Dringenderes aufgetragen hatte, arbeitete er an dem alten Traktor. Es war unschwer zu erkennen, daß er Spaß an dem rostzerfressenen Gefährt gefunden hatte. Vielleicht weil es das erste Mal war, daß er etwas ganz allein tun durfte, überlegte Liz, nur für sich und ohne daß ihm jemand jeden Handgriff vor schrieb.

Ganz flüchtig mußte sie lächeln. Peter war noch keine Woche auf dem Hof, aber sie dachte schon so selbstverständlich an ihn, als wäre er seit Ewigkeiten hier. Ein gutes Zeichen.

Sie hörte ihn schon von draußen in der Scheune hantieren, und als sie durch das Tor trat, steckte er wie üblich bis zu den Schultern unter der aufgeklappten Motorhaube. Eine flackernde Petroleumlampe hellte die Dämmerung auf, die sich hier drinnen noch ein wenig gehalten hatte, und schuf einen behaglichen Dom gelben Lichts in der Mitte des riesigen, halb verfallenen Raumes. Der Jaguar stand im hinteren Teil des Schuppens, und gegen den wuchtigen radlosen Traktor kam er Liz winzig und deplaciert vor. Die flache rote Kühlerhaube erinnerte sie an das blutige Maul eines Hais, der hier gestrandet war, um zu sterben.

Sie verscheuchte den Gedanken, straffte sich und trat mit festen Schritten auf Peter zu. Ein ganz kleines bißchen hatte sie Angst vor dem, was sie tun wollte, und ihr Gewissen meldete sich. Sie ignorierte beides, ging schneller und blieb auf Armeslänge hinter Heyning stehen. Er hatte den Traktor mittlerweile vollkommen auseinander gebaut und die Einzelteile in säuberlich geordneter Unordnung auf die umliegenden fünf Quadratmeter verteilt. Liz war ein wenig erstaunt, aus wie vielen Einzelteilen das Fahrzeug bestand. Sie fragte sich, wie um alles in der Welt er das wieder zusammenbekommen wollte. Ganz kurz kam ihr zu Bewußtsein, daß der Lack der alten Maschine ganz genau den Farbton von eingetrocknetem Blut hatte, und etwas sagte ihr, daß diese Erkenntnis wichtig war, aber der Gedanke entglitt ihr, ehe sie danach greifen konnte.

»Peter?« sagte sie.

Er sah auf, legte den Schraubenschlüssel, mit dem er gearbeitet hatte, aus der Hand und wischte seine ölverschmierten Hände an der Hose ab. »Ma'am?«

Sie lächelte, trat näher an die geöffnete Motorhaube des Traktors und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in den aufgebrochenen Leib der Maschine zu werfen. Normalerweise erfüllte sie jedwedes technische Gerät, das mehr als einen Knopf oder Schalter hatte, mit einem natürlichen Mißtrauen, und das Innere des Traktors erschien ihr wie ein einziges, unentwirrbares Chaos. Aber sie heuchelte wenigstens Interesse. »Kommen Sie voran?«

Peter nickte. Er war nervös. Er hatte ganz deutlich Angst vor ihr. »Es geht«, antwortete er stockend. »Ich ... ich weiß, ich sollte nicht daran herum basteln. Es ist noch eine Menge anderer Arbeit da, aber...«

Liz unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln. »Unsinn«, sagte sie. »Die läuft Ihnen nicht davon, oder? Und wir brauchen den Traktor.« Was natürlich ausgemachter Quatsch war. Sie brauchten einen Traktor so dringend wie Hagel im August, aber sie war schließlich nicht hier, um Peter zur Rede zu stellen, sondern um ihn als Verbündeten zu gewinnen - ob er wollte oder nicht. Und Peter durchschaute die Lüge nicht, denn sein Gesicht hellte sich auf, wenigstens für einen Moment. »Ich kann ihn in ein paar Tagen wieder flott kriegen«, sagte er, »wenn ich die Ersatzteile habe. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten, die nicht sehr viel kosten«, fügte er hastig hinzu.

»Schreiben Sie auf, was Sie brauchen. Wenn wir das nächste Mal in die Stadt fahren, bringen wir es mit.« Liz lehnte sich gegen die Flanke der mächtigen schwarz roten Maschine, zeichnete mit der Finger spitze die Maserung des vom Rost aufgebrochenen Lacks nach und sah sich unschlüssig um. Das Schweigen begann schon nach Sekundenbruchteilen unbehaglich zu werden. Peter war Stefan und ihr nicht umsonst den ganzen gestrigen Tag über aus dem Weg gegangen. Der Grund dafür lag auf der Hand: Ihr Streit mit Ohlsberg. Peter war nicht nur Zeuge dieser häßlichen Auseinandersetzung geworden - was für sich allein schon schlimm genug gewesen wäre -, nein, wahrscheinlich glaubte er sogar, unmittelbar schuld an ihr zu sein, denn schließlich war Ohlsberg an diesem Morgen einzig und allein seinetwegen nach Eversmoor gekommen. Plötzlich begriff sie, daß der arme Kerl den ganzen Tag über wahre Höllenqualen erlitten haben mußte - und wahrscheinlich noch litt.

»Wie gefällt Ihnen der Hof, Peter?« fragte sie.

»Gut, Ma'am.« Peter schluckte nervös. »Es ist... ein schönes Anwesen«, fügte er hinzu. Sein Blick flackerte. Plötzlich schien er nicht mehr zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte.

»Das meine ich nicht«, antwortete Liz. Mit einem Male begriff sie, daß er ihre Worte ganz gut als Vorbereitung zu einem Rausschmiß oder zumindest einem gehörigen Rüffel auffassen konnte. Dabei waren sie nichts anderes als Ausdruck Ihrer eigenen Unsicherheit. Verdammt, was war nur mit ihr los? Es war doch sonst nicht ihre Art, nicht die richtigen Worte zu finden!

»Wie... wie gefällt Ihnen die Arbeit. Bis jetzt, meine ich? Beschweren Sie sich, wenn sie zu hart ist.«

Peter schüttelte hastig den Kopf. »Sie ist nicht schwer, Ma'am, bestimmt nicht. Wo ich vorher war, mußte ich härter arbeiten«, versicherte er. Er versuchte vergeblich, ihrem Blick standzuhalten. Seine Finger spielten nervös an dem zerfransten Strick, den er anstelle eines Gürtels durch die Schlaufen seiner groben Arbeitshose gezogen hatte. »Nun, dafür müssen Sie es hier mit zwei Verrückten aushallen«, sagte Liz scherzhaft. Sie beobachtete Peter bei diesen Worten genau, aber auf seinem Gesicht war keine sichtliche Reaktion zu erkennen. Sie war sich nicht ganz schlüssig, ober sich nun wirklich so gut in der Gewalt hatte oder ob ihn einfach die Furcht lahmte. Aber das blieb sich im Ergebnis ohnehin gleich, zumindest im Augenblick. Sie seufzte, fuhr mit der Hand über den schmutzverkrusteten Kotflügel des Traktors und verrieb stirnrunzelnd ein wenig Staub zwischen den Fingern. Wie beiläufig schob sie den Jackenärmel hoch und sah auf ihre Armbanduhr. Wie immer, wenn sie getrunken hatte, war sie sehr früh wach geworden. Sie hatten sehr zeitig gefrühstückt, und ein bißchen konnte sie Stefans Unmut verstehen - es war noch nicht sieben, aber die durchwachte Nacht und ihr erbärmlicher seelischer Zustand sorgten dafür, daß sie sich fühlte, als wäre es irgendwann lange nach Mitternacht.

Für einen Moment zweifelte sie, ob ihre Idee, die ihr gestern Nacht so spontan gekommen war, heute wirklich noch zu realisieren wäre. Der Hof dieser Starbergs war mehr als zehn Kilometer von Eversmoor entfernt, und in ihrem momentanen Zustand würde sie nirgendwo mehr hinfahren;aller höchstens vor den nächsten Baum. Und trotzdem - wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie es nie tun. Verdammt, sie hatte schon Schlimmeres durchgestanden. Ein paar Tassen starker Kaffee und ein paar Zigaretten, und sie würde auch diese wenigen Kilometer noch überstehen. »Wissen Sie was, Peter?«, sagte sie. »Wir fahren jetzt gleich in die Stadt. Sie und ich.«

»Ich?« Heyning zuckte überrascht zusammen, betrachtete seine ölverschmierten Finger und sah sich dann beinahe hilfesuchend in der Scheune um. Sein Blick tastete über den Jaguar und blieb drei, vier Sekunden lang daran haften, als habe er Angst davor. »Ich ... ich habe hier noch so viel zu tun«, sagte er. »Das Dach muß repariert werden, und...«

Er sprach nicht weiter - wozu auch? Liz und er wußten, daß weder das reparaturbedürftige Dach der Scheune noch sonst irgendeine andere unaufschiebbare Arbeit der wirkliche Grund waren.

Der wirkliche Grund hieß Ohlsberg. Peter hatte Angst, ihm zu begegnen, und Liz konnte diese Angst nur zu gut verstehen. Verdammt, warum war es ihr einfach nicht möglich, ihm klar zu machen, daß sie auf seiner Seite stand?

»Unsinn«, sagte sie, laut, aber so freundlich, wie sie konnte. Sie lächelte, drehte sich halb herum und ließ die flache Hand auf die lang gezogene Motorhaube des Traktors klatschen. Es gab einen sonderbar dumpfen, sehr lang nachhallenden Ton. Fast wie eine Glocke, die sie angeschlagen hatte. »Das hat Zeit. Ich möchte, daß Sie dieses Wrack hierin Schuß bringen, und wenn Sie Ersatzteile brauchen, dann ist es das beste, Sie besorgen Sie selbst, nicht wahr?« Sie lachte leise. »Ich bringe garantiert das Falsche mit.«

Peter nickte zögernd. Sein Blick heftete sich erneut auf den Jaguar. Wahrscheinlich dachte er an die letzte Fahrt, die er in diesem Wagen unternommen hatte. Und es waren sicherlich keine guten Erinnerungen.

»Die gibt es sowieso nicht in Beldersens Laden«, sagte er plötzlich. Er klang deutlich erleichtert.

»Aber er kann sie bestellen, oder?« Liz machte eine fast befehlende Handbewegung, als Peter widersprechen wollte. »Außerdem wäre es eine gute Gelegenheit für Sie«, fügte sie nach einer genau bemessenen Pause und in betont beiläufigem Tonfall hinzu, »Ihre Tochter zu besuchen. Sie haben Sie doch eine ganze Weile schon nicht mehr gesehen, oder? Mindestens, seit Sie bei uns sind.« Was genau vier Tage waren,sagte eine spöttische Stimme hinter ihrer Stirn. Aber das schien Peter gar nicht aufzufallen. Und vermutlich hatte sie mit ihrer blind abgeschossenen Bemerkung ins Schwarze getroffen, denn der Ausdruck von Schrecken auf seinen Zügen wuchs noch mehr. Einen Moment lang fürchtete sie, daß er die Frage nach Andy wieder überhören würde, so wie gestern, aber er nickte auch widerstrebend.

»Das stimmt«, sagte er halblaut Liz konnte deutlich sehen, wie unangenehm ihm die Situation war. Aber sie dachte nicht daran, jetzt locker zulassen. »Ich... wollte zu ihr, aber Herr Ohlsberg meinte, der Moment wäre nicht gut, und...«

»Sie verstehen immer noch nicht, Peter«, sagte Liz seufzend. »Es spielt absolut keine Rolle mehr für Sie, was Ohlsberg meint oder nicht. Sie sind ein freier Mann, und Sie können tun und lassen, was immer Ihnen beliebt.«

Peter wand sich wie unter Schmerzen. »Frau Starberg wird... ich meine, ich bin nicht angemeldet, und...«

»Papperlapapp«, unterbrach ihn Liz. »Seit wann muß sich ein Vater anmelden, wenn er sein Kind besuchen will? Sie werden keinen Ärger bekommen, Peter, das verspreche ich Ihnen. Ich komme gerne mit. Wenn Sie nichts dagegen haben, heißt das.« Sie beobachtete ihn bei diesen Worten sehr genau. Sein Gesicht spiegelte Unsicherheit, Verwirrung, auch eine gehörige Portion Angst - aber all das hatte sie erwartet. Bisher schien er noch nicht gemerkt zu haben, worauf sie wirklich hinaus wollte. Ganz kurz kam ihr zu Bewußtsein, daß sie sich nicht sehr viel anders benahm als Ohlsberg: Auch sie benutzte Peter, ohne daß er es überhaupt merkte. Aber verdammt, welche andere Wahl hatte sie schon, wenn sie sich gegen diesen alten Tyrannen wehren wollte? Und es war ja letztendlich sogar zu Peters Vorteil. »Ich würde mich wirklich freuen, Andy einmal kennenzulernen«, fügte sie vorsichtig hinzu.

»Ich habe nichts dagegen«, sagte Heyning nach sekundenlangem Schweigen. »Aber Frau Starberg wird es nicht erlauben, Sie werden sehen. Sie ist... eine sehr strenge Frau, wissen Sie? Eine gute Frau, aber sehr streng.«

»Das werden wir sehen. Ich denke schon, daß ich sie überreden kann, uns zu Ihrer Tochter zu lassen.«

»Aber Herr Ohlsberg...«

»Wird gar nichts davon erfahren«, unterbrach ihn Liz. »Und wenn doch, so werde ich auch mit ihm fertig.« Sie lächelte böse. »Ich verrate Ihnen wohl kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß ich ihn nicht besonders mag. Aber ich glaube, er mich auch nicht.«

»Sie sind noch immer wütend, nicht wahr?« murmelte Peter.

»Wütend?«

»Wegen gestern morgen. Ich hätte... ich hätte ihn nicht hereinlassen dürfen, solange Sie nicht zu Hause sind.«

»Das war nicht Ihre Schuld.« Liz machte eine wegwerfende Handbewegung. Tatsächlich war sie nur wenige Augenblicke wütend auf ihn gewiesen - wenn es ihr kaum gelang, Ohlsberg Widerstand zu leisten, wie konnte sie dasselbe dann von einem Mann wie Peter erwarten? »Was wollte er?«

Peter druckste einen Moment herum, aber nicht sehr lange; er hatte begriffen, daß sie nicht eher lockerlassen würde, ehe er ihre Fragen beantwortete.

»Nichts Bestimmtes. Er hat... nach allem eben gefragt«, sagte er stockend. »Was Sie tun, was Sie so reden...« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Er macht sich Sorgen.«

»Sorgen?« Liz lachte, aber es klang nicht einmal in ihren eigenen Ohren echt. »Um Sie und Ihren Mann, um...« Peter seufzte. Sein Blick wirkte jetzt beinahe gequält. »Um alles eben. Er sagt, Sie rühren an Dinge, an die man nicht rühren sollte.« O ja, dachte Liz böse. An seine Macht zum Beispiel. Ihre anfängliche Verwirrung wich einer immer stärker brodelnden Wut. Wahrscheinlich war es das erste Mal seit langem, daß es jemand wagte, Ohlsberg so offen Widerstand zu leisten, wie sie es tat. Plötzlich war alles ganz klar, und plötzlich begriff sie auch, warum Ohlsberg so massiv gegen sie vorging. Sie waren nicht einfach zwei verrückte Stadtleute, die einen alten Hof gekauft hatten und hier das alternative Leben probten. Das waren sie allenfalls für ihre Freunde, für Gabi und Rainer und Stefans Familie, die kein Hehl dar ausgemacht hatten, daß sie diese Idee für leicht hirnrissig hielten - nein, für Ohlsberg waren sie eine Gefahr, eine direkte unmittelbare Gefahr. Sie wußte bis heute nicht genau, welchen Rang Ohlsberg hier eigentlich bekleidete, aber er mußte so etwas wie der unumschränkte Herrscher von Schwarzenmoor und seiner Umgebung sein - er konnte es einfach nicht hinnehmen, daß sie - eine Fremde, und noch dazu eine Frau! - sich ihm so offen widersetzte. Bisher war es nicht einmal zu einem wirklichen Streit zwischen ihnen gekommen, und Liz war trotz allem nicht sicher, ob sie au seiner ganz offenen Konfrontation wirklich als Siegerin hervorgehen würde - aber allein die Tatsache, daß sie es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen, war zu viel. Ohlsberg spürte ganz instinktiv, daß sie ihm gefährlich werden konnte, und er reagierte ganz instinktiv darauf.

Aber gut - es war ihr schon einmal gelungen, seine Pläne zu durchkreuzen, und jetzt war sie am Zug.

Dann, ganz plötzlich, kamen ihr Zweifel. Zweifel, ob das, was sie vorhatte, wirklich richtig war. Hatte sie überhaupt das Recht, sich einzumischen? Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, mochte das, was mit Peter und seiner Tochter geschehen war, unmenschlich sein, aber letztlich war es sein Leben, und sie war nicht mehr als eine Fremde, ein Eindringling, der aus der fernen kalten Welt der Städte gekommen war und die jahrhundertealte Ruhe und Ordnung des Lebens hier draußen störte. Vielleicht tat sie das alles gar nicht so sehr um Peters und des Mädchens willen, wie sie sich einzureden versuchte, sondern aus purem Egoismus und nur, um einen Vorwand für ihre ganz private Rache an Ohlsberg zu haben.

Sie schob den Gedanken mit einem ärgerlichen Achselzucken beiseite und machte eine auffordernde Handbewegung.

»Also?« Obwohl es wie eine Frage klang, ließen ihr Blick und die begleitende Geste auf den Wagen keinen Zweifel, daßes ein Befehl war. Sie hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Wenn sie Peter zu seinem Glück zwingen mußte - gut. Peter nickte. »Ich muß ... mich noch waschen«, sagte er. »Es dauert nicht lange.« Liz atmete innerlich auf, als Peter sich herumdrehte und zudem Wasserfaß neben der Tür ging, um sich zu waschen. Die erste Hürde war genommen, sogar leichter, als sie zu hoffen gewagt hatte. Was hätte sie getan, wenn er einfach nein gesagt hätte? Oder wenn er - wie Stefan halb im Ernst, halb scherzhaft bemerkt hatte - seine Tochter vielleicht gar nicht bei sich haben wollte!

Nun gut, sie würden es sehen. Der schwierigere Teil lag ohnehin noch vor ihr. Er hatte bisher weniger ihren Argumenten als vielmehr seinem Respekt vor ihr gehorcht. Aber gut - auch der Rest würde sich ergeben, irgendwie. Schlimmstenfalls würde sie einfach auf ihr Improvisationstalent bauen, das sie noch nie im Stich gelassen hatte. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie wirklich vorgehen wollte, aber sie spürte ganz instinktiv, daß das, was Ohlsberg als Druckmittel gegen Peter benutzte, sehr leicht umzudrehen war. Möglicherweise hatte er den Kampf bereits verloren, ehe er wirklich begonnen hatte.

Sie stieg in den Wagen, ließ den Motor an und schaltete die Scheinwerfer ein. Die großen Halogenlampen stachen zwei grelle Bahnen aus Licht in die Scheune, und sie merk teerst jetzt, wie dunkel es hier drinnen noch war.

Sie schnallte sich an und ließ das Faltdach aus dem Heck des Jaguars hoch klappen. Sie wäre lieber offen gefahren - es war zwar kühl, aber nicht direkt kalt -, aber sie wollte mit Peter reden, und das wäre bei einer Fahrt mit offenem Verdeck kaum möglich gewesen.

Ihre Finger spielten nervös am Lenkrad, während sie ungeduldig darauf wartete, daß Peter sich endlich fertig gewaschen hatte und zurück kam. Er ließ sich mehr Zeit als nötig und zögerte die Abfahrt offensichtlich hinaus. Wieder spürte sie ein flüchtiges Gefühl von Mitleid mit ihm, und wieder machten sich nagende Zweifel in ihr breit. Aber wie zuvor vertrieb sie sie.

Schließlich legte sie den Gang ein und ließ den Wagen langsam so weit vor rollen, bis sie direkt neben ihm war. Sie kuppelte aus, beugte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf.

»Sie sind sauber genug, Peter«, sagte sie. »Steigen Sie ein.« Ihre Worte hatten scherzhaft klingen sollen, und ihr fiel zu spät ein, daß sie auf einen Menschen wie Peter wohl eher verletzend wirkten. Sie lächelte entschuldigend, wartete, bis er eingestiegen war, und fuhr langsam los. Der Jaguar rollte nahezu lautlos über den Hof. Sie gab absichtlich kaum Gas, um Stefan nicht zu alarmieren. Erst als sie ein gutes Stück aus der Einfahrt heraus und schon halbwegs im Wald war, fuhr sie schneller.

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