9.

An diesem Morgen wachte sie später auf als gewöhnlich. Sie hatte nicht geträumt - weder von Zimmern, die plötzlich um ein Jahrhundert alterten, noch von Riesen mit peitschenden Gorgonenhäuptern oder schwarz verchromten Treppen, die bluteten. Aber in ihrem Kopf war ein leichter, bohrender Druck, eher lästig als wirklich schmerzhaft, und das grelle Sonnenlicht, das durch die weit geöffneten Fenster her einströmte, stach unangenehm in ihre Augen. Auf ihrer Zunge war ein schlechter Geschmack, als hätte sie gestern abend zu viel getrunken.

Sie hatte es nicht, aber als sie sich bewegte, machte sich ein deutliches Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn bemerkbar, und im Magen verspürte sie ein deutliches Unwohlsein. Kein Zweifel - sie hatte einen Kater. Konnte man von zwei Brandys einen Kater bekommen? überlegte sie. Nun, es mußte wohl so sein. Sie blieb noch einen Moment liegen, ließ das Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn verebben und richtete sich auf, fuhr sich schlaftrunken mit der Hand über das Gesicht und gähnte herzhaft. Vom Hof drang das leise Bellen Carrys herauf, unterbrochen von einem rhythmischen, metallisch hellen Klappern, das ihr irgendwie störend - oder jedenfalls neu - vor kam. Sie war sicher, es noch nie hier gehört zu haben. Was war das?

Sie schlug die Bettdecke zurück, stand auf und ging zur Tür, noch halb im Schlaf, die Hände tastend nach beiden Seiten ausgestreckt und unsicher. Als sie die Hand auf die Klinke legte, prallte sie zurück. Sie erwachte schlagartig.

Vom Bett her erklang ein leises, amüsiertes Lachen. »Du bist also auch drauf reingefallen.«

Liz drehte sich um. Stefan saß auf der Bett kante, komplett angezogen, und rauchte eine Zigarette. In ihrem Schlafzimmer. Sie haßte es, wenn er im Schlafzimmer rauchte. »Gar nicht so leicht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir nicht mehr allein im Haus sind«, sagte er spöttisch. »Nicht?«

Sie sah, wie seine Zigarette nasche auf den Teppich fiel, war aber noch immer viel zu benommen, um auch nur mit einem Wort darauf zu reagieren. Und er hatte recht. Sie war nackt, wie sie aufgestanden war, zur Tür gegangen. Das tat sie jeden Morgen. Seit sie hier draußen lebten und vollkommen allein waren, hatte sie sich angewöhnt, sich erst nachdem Duschen anzuziehen. Aber natürlich ging das jetzt nicht mehr, wo Peter im Haus war.

»Du kannst ruhig ins Bad gehen«, sagte Stefan. »Peter ist im Schuppen. Hörst du ihn hämmern?«

»Ja. Was - was macht er?« Wieder fiel ihr das Hämmern und Klingen auf. Es hörte sich an, als hätte Mime der Schmied mit einer ganzen Kompanie Gesellen auf ihrem Hof Quartier bezogen.

Stefan zuckte mit den Achseln, ließ sich hintenüber aufs Bett sinken und gähnte ausgiebig, wobei die glühende Spitze seiner Zigarette bedrohlich nahe ans Kopfkissen geriet. Liz nahm sich vor, ihn auf der Stelle zu lynchen, wenn er ein Loch in ihre kostbare Damast-Wäsche brannte.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand er. »Aber er ist schon den ganzen Morgen wie ein Berserker beschäftigt.«

Liz runzelte die Stirn, gähnte und ließ sich müde gegen die Tür sinken. »Ich dachte, er wollte sich den Hof erst einmal ansehen.«

»Das hat er getan«, nickte Stefan. »Er war schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen, glaube ich.«

»Und wieso bist du schon wach?« Eine schwache Spur von Mißtrauen machte sich in Liz breit.

Stefan grinste anzüglich. »Wieso auch nicht«, antwortete er. »Es ist nach elf.«

»Was?« Erschrocken sah sie auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Elf Uhr fünfzehn - kein Zweifel.

Stefan feixte. »Es tut richtig gut, daß ich dir jetzt einmal vorhalten kann, verschlafen zu haben.«

»Na, das kannst du ja auch im Kalender rot anstreichen«, erwiderte sie lahm. Sie war verwirrt. Wieso hatte sie so lange geschlafen?

»Habe ich getan.« Er stand auf und deutete auf den Wandkalender neben der Tür. »Siehst du?«

Sie folgte seiner Bewegung. Er hatte wirklich das heutige Datum mit einem roten Kringel versehen. Liz mußte unwillkürlich lachen.

»Der Kaffee ist schon seit einer Stunde fertig«, sagte Stefan. »Zieh dir was über, dann können wir frühstücken. Wie hast du überhaupt geschlafen?«

Liz antwortete erst nach kurzem Zögern. Sie war sich nicht darüber im klaren, wie sie geschlafen hatte. Sie erinnerte sich bloß daran, nicht geträumt zu haben. Es war nicht das normale Gefühl, sich nicht an einen Traum oder die Tatsache, überhaupt geträumt zu haben, zu erinnern, sondern etwas vollkommen Neues und Beunruhigendes - eine Art absurdes, positives Gefühl, nichts, überhaupt nichts geträumt zu haben.

Aber konnte man sich an nichts erinnern?

»Besser«, sagte sie trotzdem, wenn auch ohne rechte Überzeugung. »Viel besser als gestern.«

Und das stimmte sogar. Keine Träume. Kein Schrei. Nicht dieses absurde Gefühl des Erwachens.

»Keine Alpträume mehr?« fragte Stefan lächelnd.

Sie schüttelte den Kopf und bückte sich nach ihren Sachen. »Nein.«

Das Hämmern, das die ganze Zeit über vom Hof heraufgeschallt war, brach ab und wurde von einem dumpfen Krach ersetzt, als wäre etwas Schweres, Wuchtiges auf den Boden gefallen. Carry begann wie ein Irrer zu bellen. »Dieser Hund treibt mich noch in den Wahnsinn«, stöhnte Stefan mit komisch übertriebener Verzweiflung. »Er bellt schon den ganzen Morgen, ohne auch nur einmal zwischendurch nach Luft zu schnappen. Wie macht er das?«

»Er wittert Peter. Immerhin ist er ein Fremder.«

»So?« Stefan war ans Fenster getreten und winkte sie mit einer Kopfbewegung heran. »Dann sieh dir einmal das da an«, sagte er.

Liz schlüpfte in Unterrock und Morgenmantel, schloß den Gürtel und trat neben ihn ans Fenster, um hinauszublicken. Stefan rückte ein kleines Stück zur Seite, um ihr Platz zumachen.

Peter stand neben dem Hund. Er schien mit leiser, beruhigender Stimme auf ihn einzureden, ohne daß sie die Worte verstehen konnte, aber Carry bellte trotzdem weiter, als wäre er von Sinnen. Selbst über die große Entfernung konnte sie erkennen, daß seine Zähne gefletscht und das Nackenfell gesträubt waren, was ihm das Aussehen eines großen stelzbeinigen Wolfes verlieh. Seine kräftigen Pfoten hatten tiefe Narben in den Boden gewühlt, obwohl der festgetretene Lehm dort unten so hart wie Beton war. Das seltsame war, daß er nicht Heyning anbellte. Er war weit aus seiner Hütte herausgekommen, so weit es die Kette erlaubte, und seine Schnauze war nach Westen gerichtet, auf den Wald und den dahinter liegenden See hin.

»Ich möchte wissen, was dieser Köter hat«, murmelte Stefan.

»Er wittert etwas.«

Stefan nickte. »Vermutlich. Vielleicht«, er stockte und sah sie abschätzend an, »deinen Fuchs?«

Liz unterdrückte im letzten Moment einen leisen, erschrockenen Aufschrei. Vielleicht waren es Stefans Worte, vielleicht Carrys fast hysterisches Bellen, vielleicht beides - aber von einer Sekunde auf die andere war die Furcht vorn vergangenen Morgen wieder da. Irgend etwas war dort draußen, etwas, das unsichtbar und lautlos war und doch bedrohlich genug, den Hund zur Raserei zu treiben.

»Vielleicht sollten wir ihn losmachen«, überlegte Stefan. »Könnte sein, daß sich dort draußen im Wald ein streunender Köter herumtreibt.«

Liz schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich - ich will ihn nicht verlieren.« Sie sprach, ohne auch nur zu denken, sprach einfach aus, was ihr in diesem Moment durch den Kopf schoß. Sie würde Carry nicht wiedersehen, wenn sie ihn jetzt losließ, das wußte sie einfach. Was immer dort draußen im Wald (oder im See?) war, würde ihn töten.

Stefan lachte leise. »Liebling! Carry ist ein schottischer Schäferhund, kein Dackel. Muß ich dich daran erinnern, daß ich ein Exemplar der größten Hunderasse der Welt gekauft habe, um mein ängstliches Weibchen zu beschützen? Noch dazu ein wahres Prachtexemplar?« Er lachte wieder, und es klang jetzt nicht nur spöttisch, sondern durch und durch verletzend. »Ich glaube nicht, daß es dort draußen irgendein Tier gibt, das ihm gefährlich werden kann.«

Er drehte sich abrupt vom Fenster weg, drückte ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn und ging zur Tür. »Beeil dich. Wenn wir gefrühstückt haben, möchte ich dir das letzte Kapitel aus meinem Buch vorlesen. Ich glaube, es wird dir gefallen.« Liz antwortete nicht, und zu ihrer Erleichterung schien Stefan das auch gar nicht erwartet zu haben. Wenn sie jetzt versucht hätte zu sprechen - wenn sie auch nur den Mund aufgemacht hätte, das wußte sie ganz genau -, dann hätte sie angefangen zu schreien.

Sie wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Dann drehte sie sich wieder zum Fenster und sah hinaus. Peter schien es gelungen zu sein, den Hund wenigstens einigermaßen zu beruhigen. Er bellte immer noch, aber sein Bellen klang jetzt weniger panisch, weniger hysterisch, und er begann sogar zaghaft mit dem Schwanz zu wedeln, während Heyning seine Ohren kraulte. Liz beugte sich vor und starrte aus zusammengekniffenen Augen zum Waldrand hinüber. Ihr Erlebnis vom vergangenen Abend fiel ihr wieder ein. Sicher - es war Einbildung gewesen, ihre überreizten Nerven hatten ihr einen bösen Streich gespielt - aber irgend etwas witterte der Hund. Und sie kannte Carry lange genug, um zu wissen, daß er sich nicht von einem streunenden Kaninchen derartig aus der Fassung bringen ließ.

In diesem Punkt hatte Stefan recht: Carry war ein typisches Ergebnis seiner Neigung zu Übertreibungen. Als sie hier herausgezogen waren, hatte Liz den Wunsch geäußert, einen Hund zu haben - zum einen, weil sie einfach der Meinung war, auf einen Hof wie diesen gehöre ein Hund, zum anderen auch aus ganz praktischen Erwägungen heraus. Stefan war oft unterwegs, manchmal für Tage, und Gut Eversmoor war ein einsamer Ort. Sie fühlte sich einfach beschützter mit einem Hund bei sich.

Nicht einmal eine Woche später hatte er Carry angebracht - einen Welpen von drei Monaten, der zu diesem Zeitpunkt schon so groß wie ein ausgewachsener Boxerhund war. Nein - unter der Größe eines Rhinozerosses gab es nicht sehr viel, wovor ein Hund wie Carry Angst hatte.

Sie würde Peter fragen, was los gewesen war, nachher. Der Mann schien sich gut mit Hunden auszukennen. Sie hätte es jedenfalls nicht gewagt, einen vollkommen fremden Hund, noch dazu einen solchen Bären, einfach zu streicheln. Schottische Schäferhunde waren im Grunde gutmütige, liebe Tiere, wie die meisten wirklich großen Hunde - aber sie konnten einen erwachsenen Mann in wenigen Augenblicken zerreißen. Oder ihm aus lauter Liebe einen Finger abbeißen, ohne es auch nur zu merken.

Aber Heyning schien nicht das kleinste bißchen Angst zu haben. Und Carry seinerseits schien mit untrüglichem Instinkt die Zuneigung zu fühlen, die Heyning ihm entgegen brachte. Er beruhigte sich zusehends, hörte schließlich ganz zu bellen auf und rieb seinen mächtigen Schädel an Heynings Seite. Liz beobachtete das Schauspiel noch eine Weile und wandte sich dann vom Fenster ab. In Gedanken schalt sie sich eine Närrin. Vielleicht hatte auch ein Hund dasselbe Recht wie sie - nämlich manchmal einfach hysterisch zu werden. Und wahrscheinlich war das noch geschmeichelt. Liz überlegte vergebens, was, zum Teufel, mit ihr los war. Sie sah Dinge, die es nicht gab, hatte Erinnerungslücken... Ihr sonderbarer Blackout vom vergangenen Tag fiel ihr ein. Es war Mittag gewesen, als sie Schwarzenmoor verließen und dann... ... fehlten ihr einfach ein paar Stunden. Jemand - etwas -, vermutlich sie selbst, irgendein außer Kontrolle geratener Teil ihres Unterbewußtseins, der ihr den totalen Krieg erklärt hatte, hatte ihr einen halben Tag gestohlen. Aber der Gedanke ärgerte sie mehr, als er sie erschreckte.

Sie seufzte tief, zog sich rasch an und ging in die Küche hinunter. Dort erwartete sie die zweite Überraschung des Morgens.

Sämtliche Schränke standen oder hingen an ihrem Platz, das Geschirr war aufgeräumt, und Stefan hatte sogar die gesprungene Scheibe in der Außentür ausgewechselt, über die sie sich seit dem ersten Tag geärgert hatte. Das war ganz entschieden nicht mehr ihre Küche, dachte sie verwirrt.

»Was - was ist denn hier passiert?« fragte sie entgeistert. »Bin ich im falschen Haus?« Stefan grinste und deutete auf den gedeckten Frühstückstisch. »Setz dich.«

»Bist du krank oder so was?« fragte sie, während sie Platz nahm, noch immer zögernd und ohne den Blick von der aufgeräumten Küche zu nehmen, als hätte sie Angst, das Bild könnte wie eine Seifenblase zerplatzen, wenn sie auch nur einmal weg sah. Tatsächlich war es genau das, was sie in diesem Moment befürchtete, ganz ernsthaft. Stefan biß in sein Brötchen und antwortete mit vollem Mund: »Um deine Frage zu beantworten, Liebling: Peter ist passiert. Bedank dich bei ihm.«

»Hat - er das getan?«

»Er besteht darauf, daß wir beide es getan haben.« Stefan lächelte flüchtig. »Aber ich muß zugeben, daß er den Hauptanteil der Arbeit gemacht hat. Ich glaube, einen besseren Mann hätten wir gar nicht bekommen können.«

Liz starrte noch eine geraume Weile auf das schier unglaubliche Bild, ehe sie sich mit einem spürbaren Ruck davon losriß und an ihrem Kaffee nippte. Er war lauwarm und viel zu stark. Aber Stefan hatte noch nie Kaffee kochen können. Nun ja - schließlich konnte man nicht alles verlangen.

»Ich muß sagen, du änderst deine Meinung ziemlich schnell«, murmelte sie. »Gestern abend hättest du ihn am liebsten an den Füßen aufgehängt und ausgepeitscht.«

»Nicht aufgehängt«, antwortete Stefan ungerührt. »Auspeitschen hätte mir völlig genügt. Ich bin rachsüchtig, das weißt du doch. Aber das war gestern.« Er zuckte mit den Schultern, als wäre dies Grund genug für seinen plötzlichen Stimmungswandel. »Ich habe mich heute morgen mit ihm unterhalten. Ziemlich ausführlich. Ich denke, er ist ein netter Kerl. Ich werde ihm eine Gehaltserhöhung geben.«

»Am ersten Tag?«

»Warum nicht? Er ist ein guter Mann.«

Liz lächelte verwirrt. Sie verstand immer weniger, was hier überhaupt vorging. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie überhaupt schon wach war oder vielleicht noch schlief und dies alles nur träumte. Dann nippte sie wieder an ihrer Tasse. Nein - dieser Kaffee war selbst für einen Alptraum zu schlecht. »Du neigst dazu, über das Ziel hinauszuschießen«, stellte sie fest.

Stefan zuckte abermals mit den Schultern. »Mag sein. Aber du solltest dir ansehen, was er mit dem Gemüsegarten angestellt hat.«

»Eh?« Liz richtete sich kerzengerade auf.

Stefan grinste, biß in sein Brötchen und schwieg.

Sie frühstückten rasch zu Ende. Stefan räumte das Geschirr ab und verstaute es mit mehr gutem Willen als Können und unter gewaltigem Scheppern und Klirren in der Spüle. »Wir waschen heute abend ab«, sagte er. »Ich habe jetzt zu tun.«

»So?«

Er nickte. »Ja. Ich will noch ein paar Seiten schreiben. Das war jetzt genug Familienidylle für einen Morgen. Der alltägliche Überlebenskampf ruft.« Liz sah ihn mißtrauisch an. »Woher diese plötzliche Arbeitswut?« fragte sie. »Normalerweise muß ich dich doch an deine Maschine prügeln.«

»Ich habe dir versprochen, daß wir wegfahren, oder?« gab er zurück, schon halb auf dem Weg zur Tür. Sie nickte. »Siehst du. Und je eher ich fertig bin, desto schneller können wir weg.« Er drehte sich um, warf die Tür hinter sich ins Schloß und war verschwunden.

Liz starrte die geschlossene Tür eine Zeit lang stirnrunzelnd an, ehe sie aufstand und die Küche verließ.

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