27.

Am Nachmittag des gleichen Tages.

»Du hättest es mir wenigstens sagen müssen«, seufzte Stefan. Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und nippte geistesabwesend an seinem Glas. Es kam selten vor, daß er so früh am Tage bereits trank; ein sicheres Zeichen, daß es in seinem Inneren nicht so ruhig aussah, wie er sich vorzugeben bemühte.

»Was heißt hier sagen?« schnappte Liz. Sie war wütend, und sie gab sich nicht die geringste Mühe, dies zu verbergen. »Wir haben weiß Gott oft genug darüber gesprochen. Du warst damit einverstanden. Soviel ich weiß, war es überhaupt deine Idee, das Mädchen hierherzuholen.« Diese Bemerkung als übertrieben zu bezeichnen, wäre geschmeichelt. Aber zu ihrem Erstaunen reagierte Stefan nur mit einem weiteren, sehr tiefen Seufzen und dem ungefähr siebenhundertfünfzigsten vorwurfsvollen Blick des Tages.

Sie waren gegen Mittag zum Hof zurückgekommen. Die Fahrt zu dritt in dem winzigen Wagen war alles andere als bequem gewesen, selbst für sie, obwohl Peter das Mädchen auf den Schoß genommen hatte, und die Nervosität, die trotz allem in ihr brodelte, hatte sie zusätzlich fertiggemacht. Sie war aggressiv, aggressiv in einer Art, die sie bisher an sich selbst nicht gekannt hatte.

»Natürlich war es meine Idee«, murmelte Stefan nach einer Weile. »Ich hatte auch schon die Idee, alle Regierungen abzuschaffen oder das Geld, weißt du?« Er starrte an ihr vorbei auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter ihrem Rücken. Seine Finger glitten nervös über den Rand des Glases. »Du hättest vorher etwas sagen können. Was du heute morgen gemacht hast, war ziemlich dumm.«

»Ach?« machte Liz.

»Ach ja.« Stefan lächelte traurig. »Es war dumm«, wiederholte er. »Ich habe nie vorgeschlagen, Schwarzenmoor in einer Nacht-und-Nebel-Aktion anzugreifen und zu besetzen.«

»Und was hättest du getan?«

Stefan zuckte die Achseln. »Es ist sinnlos, darüber zureden, was ich getan hätte, nicht?« murmelte er. »Auf jeden Fall hätte ich vorher mit Ohlsberg geredet.«

»Ausgerechnet mit dem!« ereiferte sich Liz. »Du weißt genau, daß er nichts Besseres zu tun gehabt hätte, als das Mädchen sofort wegzuschaffen.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Stefan. »Vielleicht wird er es jetzt tun. Zumindest wird er uns Schwierigkeiten bereiten.«

»Er hat angerufen?« Das war eine ziemlich dumme Frage, wie sie sich selbst eingestehen mußte. Das Telefon hatte geschrillt, als sie mit Andy und Peter aus dem Wagen gestiegen war, und Stefan hatte eine geschlagene halbe Stunde gebraucht, ehe er aus seinem Zimmer gekommen war. »Natürlich.« Stefan nickte. »Obwohl ich mich frage, warum. So, wie er gebrüllt hat, hätte ich ihn auch ohne Telefon verstanden. Mir dröhnt jetzt noch das Ohr«, sagte er ernsthaft. »Er war ziemlich aufgebracht.«

»Ach?« machte Liz noch einmal.

Stefan schüttelte den Kopf, seufzte und leerte sein Glas mit einem Zug.

»Ich denke, daß ich ihn einigermaßen beruhigt habe«, sagte er. »Trotzdem wird er die Sache nicht auf sich beruhen lassen.«

»Er kann überhaupt nichts tun«, sagte Liz. Sie dachte an ihre zweifache Lüge vom Vormittag und kam zu dem Schluß, daß aller guten Dinge schon immer drei gewesen waren. »Außerdem habe ich vorher mit unserem Anwalt telefoniert, wenn es dich beruhigt. Die Rechtslage ist eindeutig. Peter ist der Vater; und er hat nie seine Einwilligung gegeben, das Mädchen...«

»Die Rechtslage«, unterbrach sie Stefan sanft, »interessiert mich in diesem Fall überhaupt nicht. Außerdem solltest du dir da nicht so sicher sein. Unsere Vormundschaftsgerichte entscheiden nicht immer nach den Buchstaben des Gesetzes. Immerhin hat das Mädchen fünfzehn Jahre bei diesen Leuten gelebt. Du hattest kein Recht, sie ihnen einfach zu entführen.«

»Ich habe sie nicht entführt.«

»Doch, das hast du. Ich kenne dich doch! Du bist nicht so harmlos, wie du tust. Wahrscheinlich hast du dieser Frau Starberg nicht die geringste Chance gelassen.«

»Natürlich nicht. Hättest du es getan?«

Stefan grinste. »Nein. Aber ich hätte diesen Wahnsinn gar nicht erst gemacht. Wir werden jetzt verdammten Ärger bekommen.«

»Mit wem?« fragte Liz spöttisch. »Mit Ohlsberg?«

»Unter anderem. Unterschätz ihn nicht. Er...«

»Jetzt halt bitte die Luft an und hör mir zu«, sagte Liz. »Ich weiß ganz gut, was ich getan habe. Er kann nichts gegen uns unternehmen, absolut nichts. Peter hätte seine Tochter niemals weggegeben, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, sich um sie zu kümmern. Diese Leute haben ihm das Kind praktisch gestohlen. Sie werden sich verdammt hüten, irgendwelchen Wirbel zu veranstalten, verlaß dich darauf. Und mit Ohlsberg habe ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen gehabt.«

Stefans linke Augen braue rutschte ein Stück nach oben. Aber er war noch immer so verdammt aufreizend ruhig, trotz allem. »Hast du es nur deswegen getan?« fragte er. »Um dich an ihm zu rächen?«

»Quatsch! Aber es ergab sich nun einmal daraus, und ich kann nicht behaupten, daß es mir leid täte.«

Wieder schwieg Stefan eine ganze Weile.

»Du machst einen fürchterlichen Fehler, Kindchen«, sagte er schließlich. Liz schürzte ärgerlich die Lippen. »Nenn mich nicht Kindchen«, schnappte sie. »Du weißt, daß ich das nicht mag.«

Stefan lächelte. »Aber du benimmst dich so. Schau mal, Liz - ich will gar nicht bestreiten, daß ich die Idee hatte, Andy zu uns zu nehmen. Irgendwann einmal. Und ich mache dir auch keine Vorwürfe, auch wenn mir die Art, in der du es getan hast, nicht gefällt. Ich hätte eben gründlicher mit dir reden sollen. Aber du bist dabei, einen Fehler zu begehen, vor dem ich dich warnen muß. Dieses Haus hier ist alles, was wir besitzen, Liz. Wir haben unser ganzes Geld hineingesteckt und noch mehr Geld, das wir noch gar nicht haben. Es ist kein Wochenendhaus, vergiß das nicht. Und die Leute hier sind keine flüchtigen Bekannten, von denen es uns gleich sein kann, was sie von uns halten. Wir wollen hier leben, nicht nur ein paar Monate, sondern für die nächsten Jahre, vielleicht den Rest unseres Lebens.«

»Ich verstehe«, sagte Liz dumpf. »Und du meinst, wir müssen uns ducken. Uns anpassen.«

»Nein«, sagte Stefan. »Anpassen ja, ducken nein. Aber es hat absolut nichts mit ducken oder Feigheit zu tun, wenn wir uns ein wenig am Riemen reißen. Ich weiß, daß du Ohlsberg nicht ausstehen kannst...«

»Das erste vernünftige Wort heute.«

»... und ich verlange auch gar nicht«, fuhr Stefan unbeeindruckt fort, »daß du ihm plötzlich die Füße küßt. Aber du tust dir keinen Gefallen, wenn du einen Privatkrieg gegen das ganze Dorf anfängst, Schatz.«

»Vielleicht doch«, widersprach Liz. »Im Gegensatz zu dir kann ich so nicht leben. Immer schön tun und die Faust in der Tasche, wie?« Sie lachte hart. »Ich hatte gehofft, daß du mir hilfst, Stefan. Aber ich schaffe es auch allein. Ich gebe dir Brief und Siegel, daß ich mit ihm fertig werde. Mit dir oder ohne dich.«

Stefan seufzte. Plötzlich sah er beinahe traurig aus. »Ich will nicht mit dir streiten«, sagte er. »Der Schaden ist nun mal angerichtet, und wir werden irgendwie damit fertig werden. Nur - sag mir das nächste Mal Bescheid, wenn du wieder einen Handstreich gegen Ohlsberg oder den Rest der Welt planst.« Er lächelte, stellte sein Glas ab und stand auf. »Und nun wollen wir unsere neue Hausbewohner in begrüßen. Hast du schon eine Ahnung, wo wir sie unterbringen?«

»Für die ersten Tage kann sie mit bei Peter schlafen. Vielleicht ist es ganz gut, wenn sie nicht gleich allein ist.«

»Und dann?«

Liz zuckte die Achseln. »Wenn du einverstanden bist, großer Boß«, sagte sie spöttisch, »dann gebe ich ihm zwei oder drei Tage frei. Er kann sich die beiden Gästezimmer herrichten. Falls du es dir nicht plötzlich anders überlegt hast.« Stefan verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort.

Sie verließen den Wohnraum und gingen zu Peters Zimmer hinüber. Stefan klopfte, wartete einen Moment und drückte dann die Klinke herunter.

Peter war nicht da, aber das Mädchen saß auf der Kante seines Bettes und blickte ihnen aus großen, ängstlichen Augen entgegen.

Liz gebot Stefan mit einer Handbewegung, stehen zubleiben, lächelte freundlich und trat einen halben Schritt auf Andy zu.

»Hallo«, sagte sie. »Dein Vater ist nicht da?«

Andy reagierte nicht. Aber damit hatte sie auch gar nicht gerechnet. Das Mädchen hatte den Schock, den dieser plötzliche Einschnitt in sein Leben zweifellos bedeuten mußte, sowieso erstaunlich gut verarbeitet, bis jetzt wenigstens. Aber wahrscheinlich hatte sie noch gar nicht richtig begriffen, was jetzt geschehen würde.

»Das ist Stefan, mein Mann«, sagte sie mit einer Geste auf Stefan. »Ich habe dir von ihm erzählt. Erinnerst du dich?«

Andy nickte. Ihr Blick heftete sich auf Stefans Gesicht.

Stefan lächelte ebenfalls. Für einen Moment erschien er verwirrt, vollkommen desorientiert. Dann ...

Liz konnte die Veränderung deutlich spüren. Irgend etwas ging in ihm vor. Der Zorn, der bis jetzt in ihm gebrodelt hatte, verschwand von einer Sekunde auf die andere. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde milder, sanfter und, war jetzt nicht mehr gekünstelt, sondern echt.

»Du bist also Andy«, murmelte er. Seine Stimme war weich, so weich, wie sie es noch nie an ihm gehört hatte. Erging auf das Mädchen zu, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und streckte zögernd die Hand aus. »Ich freue mich, daß du da bist«, sagte er leise. »Freust du dich auch?«

Sekundenlang starrte Andy ihn nur aus großen, scheuen Augen an. Dann ergriff sie seine Hand, drückte sie und nickte.

Liz unterdrückte einen überraschten Seufzer. Stefan hatte an sich noch nie sehr gut mit Kindern umgehen können, und sie hatte eher damit gerechnet, daß es Schwierigkeiten geben würde, ganz unabhängig von den äußeren Umständen, unter denen Andy hier hergekommen war.

Das Gegenteil war der Fall.

Es bedurfte keiner umständlichen Erklärungen, um zuerkennen, daß Stefan und Andy sich auf Anhieb verstanden. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick, wenn auch sicher nicht (das hieß, ganz sicher war sie sich da nicht einmal, aber sie vertrieb den Gedanken voller Schrecken) auf erotischer Ebene. Er mochte sie, und sie mochte ihn, so einfach war das.

Liz atmete erleichtert auf.

»Du solltest Peter suchen und ihm sagen, daß er die Zimmer für sich und die Kleine herrichten soll«, sagte Stefan. »In diesem Loch ist ja nicht einmal Platz für eine Person. Geschweige denn für zwei.« Dann wandte er sich wieder an Andy. »Und wir beide könnten uns inzwischen das Haus und den Hof ansehen, was meinst du? Wir haben eine Menge Platz hier. Es wird dir gefallen.«

Andy überlegte einen Moment. Dann stand sie auf, nickte und griff in einer unglaublich vertraut anmutenden Geste nach Stefans Hand.

Liz sah den beiden verblüfft nach, als sie das Zimmer verließen und die Treppe empor gingen. Von allem, was sie erwartet hatte, war das Unwahrscheinlichste eingetreten. Für einen Moment war sie sich über ihre eigenen Gefühle im unklaren. Sie war erleichtert, sicher, aber da war auch noch etwas... Neid? Eifersucht? Unsinn, dachte sie verärgert. Es gab keinen Grund für Neid oder gar Eifersucht. Was sie fühlte, war wohl nur gekränkter Stolz. Mit einem erschöpften, aber auch sehr, sehr erleichterten Seufzen wandte sie sich um und ging in die Küche zurück.

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