37.

Es wurde dunkel, ehe sie zurück auf den Hof kam, und Stefan war nicht zu Hause. Die Eingangstür stand offen, und seine Jacke hing nicht mehr am Haken. Im Haus brannte kein Licht. Sie ging hinauf in sein Arbeitszimmer, um nachzusehen, ob er eventuell eine Nachricht für sie hinterlassen hatte, aber auf dem überdimensionalen Schreibtisch fand sich nichts außer der gewohnten Unordnung und einem halben Dutzend Bücher, in denen er, den zwischen die Seiten gelegten Papierfetzen nach zu schließen, allem Anschein nach gleichzeitig zu lesen schien.

Einer der Bände erregte ihre besondere Aufmerksamkeit:der Atlas, in dem sie vergangene Nacht gelesen hatte. Liz verspürte eine schwache Regung ihres schlechten Gewissens, als sie die großen, bräunlich eingetrockneten Weinflecken auf den ausgebreiteten Seiten sah. Stefan war mit Recht zornig gewesen - das Buch hatte ein kleines Vermögen gekostet, und die Beschädigung steigerte seinen Wert nicht unbedingt. Außerdem sahen sie häßlich aus. Stefan hatte den Atlas auf der Fensterbank zum Trocknen ausgebreitet, und im schwachen Licht der kleinen Schreibtischlampe erinnerten die Flecken nun wirklich an eingetrocknetes Blut; sie hatten dem Buch eine Wunde geschlagen, die häßlich vernarbte.

Behutsam nahm sie das Buch zur Hand, blätterte um und stellte zu ihrer Erleichterung fest, daß der Wein das Papier nicht durchdrungen hatte; die Seiten klebten nicht aneinander. Glück im Unglück - oder Stefans schnelle Reaktion;der Schaden war auf die eine Doppelseite beschränkt, die die Ladung tatsächlich abbekommen hatte. Aber irgend etwas an den Flecken irritierte sie. Wie schon so oft in den vergangenen Tagen wußte sie nicht genau zusagen, was es eigentlich war, aber das Gefühl war sehr deutlich. Etwas an diesen Flecken... irritierte sie. Etwas mit ihrer Form, die ... kein Zufall war.

Ganz plötzlich begriff sie. Es war die ganze Zeit vor ihren Augen gewesen: der Fleck hatte eine ganz bestimmte Form, die so wenig zufällig entstanden war wie irgend etwas anderes, was sich in den letzten Tagen hier abgespielt hatte. Er zeichnete die Küste nach. Das bräunlich eingetrocknete Rot hatte das Blaßblau des gemalten Meeres ausgelöscht, aber es war über die Küstenlinie hinaus gekrochen, eine Daumennagelbreite landeinwärts, so willkürlich und unregelmäßig, wie Küstenlinien nun einmal verlaufen, ehe sie mit Deichen oder anderen Bauwerken korrigiert werden. Der Atlas war alt, aber er hatte ihr nichts genutzt, weil er nicht alt genug war. Der Weinfleck hatte sich sechshundert Jahre weit in die Küste hinein gefressen. Was sie jetzt in Händen hielt, war, wie es damals hier ausgesehen hatte. Damals, als Rumhold unterging.

Ihre Hände begannen zu zittern. Der Schleier des Geheimnisses lüftete sich um eine Winzigkeit mehr. An einer Stelle war der Sherry zu einem dicken, schwärzlichen Fleck eingetrocknet, der nun wirklich wie ein Bluts tropfen aussah:Rum hold, die Stadt, die das Meer in einem eiligen gigantischen Fausthieb von der Oberfläche dieses Planeten gefegt hatte. Aber das war nicht alles. Es gab einen zweiten, sehr viel kleineren Fleck, einen Spritzer, der ihr bisher entgangen war, ein kleines Stückchen landeinwärts.

Dort, wo Schwarzenmoor liegen mußte.

Ihr Hof.

Der See.

Alles war jetzt ganz klar; es war, als flüstere ihr eine Stimme die Wahrheit ins Ohr, die die ganze Zeit so offen hier gelegen hatte, ohne daß sie sie zu sehen vermochte. Es war eine ungeheuerliche Katastrophe gewesen, viel größer, als die Menschen heute glaubten, keine Jahrhundert - sondern eine Jahrtausendflut. Der Sturm hatte das Meer bis zu den Sternen hochgepeitscht, die Küste zerschmettert, Menschen und Tiere gefressen und die Stadt zermalmt, mit einem einzigen Hammerschlag aus Milliarden Tonnen Wasser.

Aber er hatte noch mehr getan. Er hatte den Ozean gespalten, ihn bis zum weichen weißen Fleisch seines Bodens aufgerissen, und er hatte irgend etwas an Land geschleudert, etwas, das nicht hierher gehörte, das seit einer Milliarde Jahren im ewigen Schwarz der Tiefsee gelauert hatte. Er hatte es mit seinem Wüten an Land getragen, in diese helle, für ihn tödliche Welt, und er hatte es zurückgelassen, als sich das Meer beruhigte.

So war es gewesen, dachte sie entsetzt, und es war keine Vermutung, es war Wissen, so sicher, als wäre es eine Urerinnerung, und vielleicht war es das. Lovecrafts Große Alte waren Realitäten, aber sie waren hundertmal entsetzlicher, als er geglaubt hatte. Der Grund, aus dem seine Geschichten um uralte und böse Dinge immer wieder solchen Erfolg hatten, war, daß die Menschen spürten, daß sie wahr waren. Es gab diese entsetzlichen finsteren Lebewesen, die in den Tiefen der Erde und des Meeres lauerten, es hatte sie immer gegeben, und es würde sie immer geben. Das Wissen um sie war in jedem Menschen, eine Information, die in ihren Genen einprogrammiert war und die nur aktiviert wurde, wenn man sie brauchte. Etwas war an Land gekrochen, damals. Etwas unsagbar Böses und Altes. Und es war noch hier, denn das zurückweichende Wasser hatte ihm den Weg abgeschnitten. Es war hier. Im See.

Aber das war noch nicht alles. Etwas fehlte noch, um das Bild komplett zu machen. Bald, dachte sie. Bald würde sie alles verstehen. Die einzelnen Teile des Mosaiks waren schon da, und es konnte nicht lange mehr dauern, bis sie sich zu einem Bild zusammensetzten.

Sie legte den Atlas auf die Fensterbank zurück, trat wieder an den Schreibtisch und blätterte eine Zeit lang in Stefans Notizen, ohne allerdings auch nur im mindesten schlau daraus zu werden. Ihr war nicht sehr wohl bei dem, was sie tat, und das mit Grund. Stefan mochte es nicht, wenn irgend jemand - und das galt auch für sie - in seinen Büchern las, bevor sie fertig waren, aber bei dem Chaos, das auf seinem Schreibtisch herrschte, würde er nichts merken.

Sie verstand nichts von dem Text, den sie las. Es waren scheinbar sinnlose, aus dem Zusammenhang gerissene Szenen. Trotzdem spürte sie so etwas wie einen sanften Schrecken, ein Gefühl der Befremdung, das mit jeder Zeile, die sie las, stärker zu werden schien. Stefans Texte waren manchmal recht eigenwillig; es war ihm nicht von ungefähr so schwer gefallen, sich durchzusetzen und eine Lesergemeinde zu erobern, die groß genug war, daß er davon leben konnte.

Aber das hier ...

Es fiel ihr schwer zu glauben, daß die Fragmente zu diesem Buch wirklich von ihm sein sollten. Sie hatte zu wenig gelesen, um wirklich zu begreifen, worum es überhaupt ging, aber es schien irgendeine Geschichte um dunkle Riten zu sein, Metaphysisches mit einem deutlichen Einschlag ins Morbide, Szenen, die sie schaudern ließen. Unter anderem auch, weil sie entsetzlich schlecht geschrieben waren. Wenn sie noch einen letzten Beweis für ihren Verdacht gebraucht hätte - sie hielt ihn in Händen.

Langsam, beunruhigt und verstört zugleich, legte sie die Blätter aus der Hand und trat vom Schreibtisch zurück. Unten im Haus wurde eine Tür zugeworfen, dann hörte sie Peters ungleichmäßige, schlurfende Schritte. Sie war erleichtert, nicht mehr allein im Haus zu sein. Rasch ging sie die Treppe hinunter und zu seinem Zimmer.

Die Tür stand offen. Die nackte Glühbirne unter der Decke verbreitete gelbes Schatten licht, das Flecken an die Wände zauberte, eine beunruhigend unangenehme Art von Licht. Sie schaukelte ganz leicht hin und her, als wäre Peter dagegen gestoßen, und wieder, wie beim ersten Mal, kam ihr der Raum winzig und schäbig vor, ein Loch, das zu schmutzig und klein für einen Menschen war, geschweige denn für zwei. Peter kramte mit schnellen, hastigen Bewegungen in seinem Rucksack, als sie das Zimmer betrat. Liz war sehr sicher, kein Geräusch gemacht zu haben, aber irgendwie bemerkte er sie doch - er zuckte zusammen, drehte sich mit einer hastigen Bewegung herum und lächelte nervös. Sein Blick flackerte, aber gleichzeitig las sie auch Erleichterung darin; er sah aus, als hätte er jemand anderen erwartet. Befürchtet. »Sie... Sie sind zurück?« fragte er, stockend und in einem Tonfall, als hätte er nicht damit gerechnet, daß sie überhaupt zurück kam.

»Überrascht Sie das?« antwortete Liz. »Es ist nicht so furchtbar weit bis Schwarzenmoor. Man bekommt Übung, wenn man den Weg oft genug fährt.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu, schloß die Tür hinter sich und zog sie in der gleichen Bewegung wieder auf. Unmöglich, die Tür zu schließen, wenn zwei Leute in diesem Loch waren. Wie konnten Peter und seine Tochter hier atmen?

»Sie... haben mit Ohlsberg gesprochen?« fragte Peter nervös. Warum, zum Teufel, wollte er das wissen?

Liz verzog säuerlich die Lippen. »Nein. Aber ich habe erfahren, was ich wissen wollte. Wo ist mein Mann?«

»Er ist fortgegangen«, antwortete Peter. »Schon vor einer Stunde. Aber er wollte bald zurückkommen. Ich... ich dachte, er wäre wieder da. Ich habe Licht in seinem Zimmer gesehen.«

»Das war ich«, sagte Liz. »Fortgegangen, sagen Sie? Zu Fuß?«

Peter nickte. »Gleich nachdem sie weggefahren waren. Er war ziemlich wütend.« Liz ignorierte die letzte Bemerkung. »Wohin ist er gegangen?«

»Er ist... mit Andy.«

Die Worte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht. Zusammen mit Andy? »Hat er gesagt, wohin?« fragte sie mühsam.

Peter nickte. »Er... er sagte, er wolle zum See hinunter. Er wollte Andy die Umgebung zeigen.«

Zum See. Zum Mitternachtssee! Großer Gott, er brachte das Mädchen zu ihm! Oder das Mädchen ihn. Liz' Gedanken überschlugen sich. Sie starrte Peter an, und er sie, und sie war sehr sicher, daßer in ihrem Gesicht las wie in einem offenen Buch. Gegen ihren Willen erinnerte sie sich wieder an den Vormittag, an Andy, die bei offener Tür in der Wanne gesessen hatte, und an die Schritte, die sie zu hören geglaubt hatte.

Quatsch, geglaubt. Sie hatte sie gehört, und sie war verdammt sicher, daß es Stefans Schritte gewesen waren. Aber das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Sie drehte sich um, blieb einen Herzschlag lang unter der Tür stehen und ging dann mit raschen Schritten aus dem Raum. Plötzlich ertrug sie Peters Nähe nicht mehr. Ihre Schuldgefühle wurden so stark, daß sie kaum mehr atmen konnte. Stefan und Andy, dachte sie. Andy und Stefan. Er und sie. Aber das war unmöglich. Das Mädchen war vierundzwanzig Stunden auf dem Hof; nicht einmal. Es war unmöglich. Nicht bei dem Stefan, den sie kannte. Sie wußte nicht, ob er sie jemals betrogen hatte; Gelegenheit dazu hätte er genug gehabt, auf seinen zahllosen Geschäftsreisen und Lesetourneen. Aber sie glaubte es nicht. Stefan war nicht der Typ dazu - und schon gar nicht mit einem Kind!

Sie stürzte aus dem Haus, rannte quer über den Hof und drang in den Wald ein, der sich wie eine schwarze Wand hinter ihr schloß.

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