44.

Der Wagen explodierte, als sie zwei Schritte vom Haus entfernt war. Ein dumpfer, sehr trockener Knall wehte zu ihr herüber und ließ sie mitten im Schritt verharren. Sie drehte sich herum, hob schützend die linke Hand vor das Gesicht und sah, wie der ganze Schuppen wie unter einem unheimlichen, inneren Licht aufzuglühen begann. Kalk weißes, schattenloses Licht quoll durch alle Ritzen und Öffnungen des altersschwachen Gebäudes, ein Licht, das gar nicht aussah wie Feuerschein, sondern fast wie Kunst licht; eine Zehn-Millionen-Watt-Birne, deren Schatten das Gebäude durchscheinend wie ein Röntgenbild werden ließ, nur für den Bruchteil einer Sekunde, ehe es vollends explodierte.

Es war ein morbid-schöner Anblick, voll aller Ästhetik, die Feuer und explodierende Bewegung und Gefahr auszustrahlen vermochten. Das ganze, tonnenschwere Dach der Scheune hob sich, von einer Riesenfaust aus Flammen getroffen, drei, vier Meter weit in die Höhe, brach auseinander und kippte in verschiedene Richtungen zur Seite. Weiße und gelbe Flammen züngelten gegen die tief hängenden Wolken. Die Wände beulten sich aus, erbrachen Flammen und brennende Trümmerstücke und dehnten sich immer weiter. Das ganze Gebäude schien sich aufzublähen, wie ein bizarrer Luftballon aus Holz und gleißendem Licht, wuchs auf nahezu das Doppelte seiner Größe und fiel endlich zusammen wie ein Kartenhaus. Eine zweite, fast ebenso heftige Detonation zerriß die Trümmer noch einmal und überschüttete den Hof mit einem Hagelschauer aus brennendem Holz und Stroh und Milliarden und Abermilliarden weiß glühender Funken. Die Hitze war selbst hier, wo Liz stand, so intensiv, daß sie ihr abermals den Atem nahm, und ein einzelner, weiß glühender Funke senkte sich auf ihren Arm herab und brannte ein pfenniggroßes Loch in ihre nackte Haut.

Der beißende Schmerz erinnerte sie daran, daß sie noch immer in Gefahr war. Rings um sie herum regneten Trümmerstücke zu Boden.

Hastig zog sie den Kopf zwischen die Schultern und wich ins Haus zurück. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, wäre es einigermaßen lächerlich, jetzt von einem verkohlten Stück Holz erschlagen zu werden.

Sie schloß die Tür, lehnte sich mit einem erschöpften Seufzer dagegen und preßte die Hand gegen ihre Seite. Die Wunde blutete stark. Sie hatte zwar noch immer keine Schmerzen, aber jetzt wurde ihr übel. Das Schwächegefühl kehrte in ihre Arme und Beine zurück, und sie begann am ganzen Leib zu zittern. Ein dumpfes Hämmern wie von Fäusten, die gegen das Haus schlugen, drang in ihre Gedanken:Trümmerstücke, die auf das Dach prasselten. Vielleicht würde der ganze Hof abbrennen. Gut. Er hätte schon vor dreißig Jahren niederbrennen sollen, bis auf die Grundmauern. Wenn sie das hier überlebte, dann würde sie ihn niederreißen lassen, Denkmalschutz hin oder her.

Wenn sie es überlebte.

Der Messerstich in ihrer Seite war nicht tödlich, wahrscheinlich nicht einmal wirklich gefährlich, aber sie hatte ein Dutzend mehr oder weniger schwere Wunden, und sie würde schlichtweg verbluten, wenn sie nicht rasch Hilfe bekam. Es war ohnehin ein Wunder, daß sie noch am Leben war. Irgendwie hatte sie die Tatsache, das Monster besiegt zu haben, noch gar nicht begriffen. Konnte ein Mensch einen Gott besiegen?

Egal. Jetzt mußte sie telefonieren, irgend jemanden anrufen, die Feuerwehr oder die Polizei oder am besten gleich beide, und dann irgend etwas finden, um die Blutung zum Stillstand zu bringen, bis Hilfe eintraf.

Sie biß die Zähne zusammen, sammelte ihr letztes bißchen Kraft und taumelte los. Das Telefon im Wohnzimmer war zerstört. Sie sah es gleich, als sie die Tür auf stieß: Stefan hatte den Hörer abgerissen und den Rest des Apparates so gründlich zerschlagen, daß seine ursprüngliche Form kaum noch zu erkennen war. Er hatte den Rest der Einrichtung verwüstet. Da war nichts, was noch intakt gewesen wäre. Das Zimmer glich einem Schlachtfeld. Vielleicht hatte er damit gerechnet, daß sie ihm entkam und irgendwie um Hilfe telefonieren wollte.

Der Apparat oben! Sie hatten einen zweiten Anschluß in Peters Zimmer, einen zweiten Anschluß mit einer anderen Nummer, der vielleicht noch funktionierte!

Mühsam drehte sie sich herum, taumelte aus dem Raum und tastete sich an der Wand entlang auf die Treppe zu. Ganz instinktiv sah sie auf die Uhr. Es war sechs. Großer Gott, hatte es so lange gedauert?

Sechs... Diese Zahl bedeutete etwas. Da war noch etwas, etwas Wichtiges, das sie vergessen hatte, aber jetzt...

... sah sie es.

Liz blieb so abrupt stehen, als wäre sie vor eine gläserne Wand gelaufen. Die Treppe! Sie veränderte sich!

Sie wurde zu der Treppe aus ihrem Traum!

Gelähmt vor Schrecken stand Liz einfach da und starrte die Treppe an, die gleiche Treppe, die sie seit einem halben Jahr jeden Tag - zigmal hinauf- und hinuntergegangen war, ohne sich jemals an ihre ungleichmäßigen Stufen gewöhnt zu haben, und die sich nun veränderte, zu etwas... anderem, etwas Lebendigem wurde. Ein ächzender Laut erklang, eine entsetzliche Mischung aus dem Knarren von uraltem Holz und dem Stöhnen eines lebenden Wesens, und plötzlich hörte sie auch wieder den Schrei, der noch immer aus dem Wald herüber schallte, den Schrei der Banshee, der die ganze Zeit über angehalten hatte, ein hoher Dauerton wie von einer höllischen Sirene, nur daß er jetzt wie ein Lachen klang. Es war noch nicht vorbei. Und vielleicht begann es gerade erst!

Ihr Blick saugte sich an der Treppe fest. Die ganze Konstruktion zuckte und wand sich unentwegt. Holz und Lehm und Stein verbogen sich auf unmögliche Weise, versuchten in eine neue, schreckliche Form zu kommen, und dieser fürchterliche Laut wurde immer intensiver. Keine Stufe war mehr wie die andere: da waren winzige Absätze, flache Rampen, Wirbel, die es überhaupt nicht geben dürfte, aber auch meterhohe Wände, mit spitzen Dornen übersät, dazwischen schnappende Mäuler, etwas wie ein gewaltiges, eiteriges Auge und große Wunden, in denen es schwarz waberte.

Plötzlich fiel ihr die Wärme auf. Sie sah hoch, fuhr herum.

Und schrie.

Es war das Haus!!!

Nichts war mehr so, wie es gewesen war. Es war das Haus aus ihrem Traum. Sie hatte die Lösung die ganze Zeit über gewußt. Dieses ganze verdammte Rätsel hatte mit der Auflösung begonnen, aber sie hatte sie einfach nicht erkannt. Nicht, bis es zu spät war.

Das Haus lebte.

Der Korridor mit seinen vertrauten Formen und Farben war verschwunden. Vor ihr erstreckte sich ein langer, pulsierender Schlauch, schwarz und rot und feucht, dessen Wände und Boden mit dunklem glitzerndem Schleim bedeckt waren. Alles war noch da, die Türen, die Möbel, selbst die Lampe unter der Decke, aber alles auf gräßliche Weise verändert, weich, organisch, fließend, die Türen zu großen, blutig geriffelten Schließmuskeln geworden, schnappende Mäuler, die zu den gierigen Mägen dieses Hausungeheuers führten, die Möbel pumpende rote Organe, der Boden eine schwammige Masse, die gierig die dünne Bluts pur auf sog, die Liz' Weg markiert hatte. Die Luft war von einem Nebel mikroskopisch feiner Blutströpfchen erfüllt, und die Wärme, die sie spürte, war die Wärme, die im Inneren eines gewachsenen Organismus herrschte.

Wie in einer blitzartigen Vision sah sie, wie es gewesen sein mußte: Die Jahrtausendflut hatte es an Land gespült, in einer einzigen, sturmgepeitschten Nacht, und in diesem See gefangen gesetzt; es, das an die unendlichen lichtlosen Tiefen des Ozeans gewöhnt war und dem diese Welt so fremd und feindlich vorkommen mußte wie die Oberfläche eines anderen Planeten. Es hatte gewartet; Jahre, Jahrzehnte, schließlich Jahrhunderte. Mit der Geduld eines Wesens, für das ein Jahrtausend nur ein Lid zucken war, hatte es auf eine Wiederholung der Schreckensnacht von Rum hold gewartet, die es zurück in seine vertraute Umgebung tragen würde.

Aber diese Nacht war niemals gekommen, denn etwas war geschehen, was es in seinem winzigen Gefängnis nicht wissen konnte. Andere Wesen hatten begonnen, die Welt zu verändern. Sie waren klein, schwach und schlichtweg lächerlich, verglichen mit ihm, aber sie waren viele. Emsig, wie Ameisen begannen sie etwas zu tun, was selbst ihm in all seiner Macht niemals eingefallen war: sie veränderten die Welt. Sie bauten Städte, sie bauten Straßen, und, vor allem, sie bauten Dämme. Mit der Überheblichkeit von Wesen, die sich ihrer Kleinheit niemals bewußt geworden waren, trotzten sie den uralten Gesetzen der Natur. Sie befestigten die Küste und nahmen dem Meer seine Macht. Die Stürme kamen, aber die Schreckensnacht von Rum hold wiederholte sich nicht. Das Meer gelangte nie wieder zu jenem kleinen See, in dem es seinen Gefangenen abgeladen hatte. Und irgendwann begann dieser Gefangene, die Wahrheit zu ahnen.

Es dauerte lange, unendlich lange. Es, das ein Geschöpf des Wassers war, kannte nur diese eine Grenze. Sein Körper, der aufgedunsene schwarze Balg, den nie das Auge eines lebenden Wesens erblickt hatte, der Leviathan, der finster und dräuend wie ein Riesenkrake in den Tiefen des Meeres geboren worden war, konnte den See nicht verlassen, aber es konnte etwas anderes tun.

Liz sah, wie es begann, dünne schwarze Tentakel in den Schlamm des Seebodens zu versenken, pulsierende Nervenfäden, die in Baum wurzeln und Geäst drangen, die Pilze und Bodengetier berührten und veränderten. Mit einer Macht, die sie nicht einmal zu erahnen vermochte, begann es nun seinerseits seine Umgebung zu verändern; nachzuahmen, was es von den Bewohnern der Welt gelernt hatte, aber tausendmal geschickter. Der See, der Wald, jeder einzelne Grashalm war ES. Dann schuf es das Haus.

Vielleicht war es auch umgekehrt - in diesem Punkt war die telepathische Botschaft, die Liz empfing (denn um nichts anderes konnte es sich bei dieser Vision handeln) nicht ganz klar: vielleicht war das Haus auch schon da, und seine Fühler waren irgendwann darauf gestoßen, während sie auf der Suche nach Nahrung durch den Boden glitten. Es spielte keine Rolle. Es tat mit dem Haus, was es mit dem Wald getan hatte: es verwandelte es. Es mußte ein Jahrhundert gedauert haben, zahllose Jahrzehnte, in denen dünne glitzernde Nervenfäden die Wände des Hauses zu durchdringen begannen, geduldig Stein und Lehm und Stroh und Holz und Glas verwandelnd, ihr Aussehen perfekt nachahmend, vielleicht bis in die Molekularstruktur hinein. Jetzt, und nicht erst jetzt, sondern sicher schon seit einem Jahrhundert mehr, war dieses Haus selbst zum Ungeheuer geworden; Teil SEINES Körpers, wie eine Faust, die es weit aus seinem Versteck herausgestreckt hatte. Eine Falle. Eine perfekte, tödliche Falle, die auf ihre ahnungslosen Opfer wartete. An diesem Punkt endete die Vision, und Liz kehrte in die Wirklichkeit zurück. Aber sie wußte jetzt alles. Es war, wie das DING gesagt hatte: sie würde alles erfahren, im allerletzten Moment.

Die Falle war das Haus. Alles andere war Teil des Spiels gewesen: Andy, Ohlsberg, Stefan ... sie waren nur Figuren gewesen, an deren Fäden das Ungeheuer zog. Es war nicht so unglaublich gewesen, daß sie Andy getötet hatte und hinterher Stefan. Sie hatte es tun sollen. Selbst das war Teil seines grausamen Spieles: sie in dem Glauben zu wiegen, das Unmögliche geschafft zu haben, ihr im letzten Augenblick noch einmal Hoffnung zu geben, um sie dann um so härter treffen zu können.

Sie sah sich um.

Alles war wie in ihrem Traum: das entsetzlich verzerrte Haus, die schnappenden Mäuler, die in den Wänden waren, der wabernde Boden, der gierig ihr Blut soff, die Treppe, die keine Treppe mehr war. Was sie für schwarzen Chrom gehalten hatte, war glitzernder schwarzer Schleim, der an den Wänden herab lief. Nur etwas fehlte noch. Ein berstender Schlag traf die Haustür, zerschmetterte sie. Orangeroter Feuerschein ließ die zuckenden Wände des Dielen-Schlauches aufglühen. Sie spürte die Hitze, ehe das Licht ihr die Tränen in die Augen trieb, aber sie bewegte sich nicht. Es war völlig sinnlos, jetzt noch einmal fliehen zu wollen. Diesen letzten, allerletzten Triumph würde sie ihm nicht gewähren. Der brennende Mann erschien unter der Tür, eine zwei Meter große, schwarz verkohlte Gestalt, eingehüllt in einen Mantel aus Flammen und wabernder Glut. Er schrie, und seine Schreie vermengten sich mit dem Brüllen der Flammen und dem höhnischen Gelächter der Banshee zu einem irrsinnigen Geheul, einem Crescendo des Todes; vielleicht hörte sie jetzt zum ersten Mal seine Stimme.

Er kam näher, wankte, schon längst tot, zu einem Stück bröckeliger Holzkohle verschrumpelt, aber von irgend etwas noch immer aufrecht gehalten, wie ein Roboter, dessen Programmierung durcheinander geraten war. Seine Arme peitschten wild und zogen feurige Spuren durch die Luft. Wo die Flammen die Wände berührten, zog sich die zuckende lebende Masse zurück wie unter Schmerzen. ES war unsterblich, aber nicht nur verwundbar. ES tötete und konnte getötet werden, aber nicht von einem so lächerlichen Gegner wie ihr.

Liz blickte Stefan mit der Ruhe entgegen, die ihr die vollkommene Verzweiflung gab. Flucht war sinnlos. Es gab nichts mehr, wohin sie fliehen konnte. Beinahe interessiert betrachtete sie die flammenden Spuren, die seine Füße im Boden hinterließen, die Spuren aus ihrem Traum, kleine, mit grausamer Helligkeit gefüllte Tümpel aus Hitze und Licht. Das alles hatte sie gesehen, es schreckte sie nicht mehr. Was sie nicht gesehen hatte, war, was nun kommen würde: seine letzte, tödliche Umarmung, die Berührung seiner brennenden Hände, seiner hitzeverstrahlenden Arme. Sie hatte Angst vor Schmerzen. Gleichzeitig war sie fast erleichtert. Es würde schnell gehen. Endlich, endlich würde alles vorbei sein. Über ihr erscholl ein dumpfer, wummernder Knall. Etwas wie ein Schwarm winziger böser Hornissen fegte an ihrem Gesicht vorbei, und eine davon traf ihre Schulter und biß tief und schmerzhaft hinein, und plötzlich taumelte Stefan zurück, seine lodernden Arme hoben sich, die Hände griffen dorthin, wo das Gesicht hinter der Maske aus Feuer sein mußte. Er wankte.

Der dumpfe Knall wiederholte sich. Stefan taumelte stärker, prallte gegen die Wand und begann zusammenzubrechen. Die Flammen leckten zischend an der schwarz wog enden Masse empor, und plötzlich war die Luft vom Gestank verschmorenden Fleisches erfüllt. Trotzdem fing der Schlauch kein Feuer. Lebendes Gewebe brannte nicht so schnell. Stefan sackte in sich zusammen, aber noch immer war Bewegung in ihm. Seine verbrannten Hände tasteten über den Boden, suchten nach Halt, um sich wieder in die Höhe zu ziehen.

»Geh'n Sie zur Seite!«

Liz reagierte ganz automatisch. Sie trat von der Treppe fort, so nahe an die Wand, wie sie gerade noch konnte, ohne sie zu berühren, und sah nach oben.

Belderson stand da wie ein leibhaftig gewordener Racheengel. Sein Gesicht loderte rot im Widerschein der zuckenden Flammen, und in seinen Augen flackerte etwas, das jenseits aller Furcht war, ein Grauen, das nicht einmal Liz wirklich nachempfinden konnte. Aber seine Hände waren ganz ruhig, während er den Lauf des schweren Schrotgewehres herabknickte und zwei frische Patronen in die rauchende Öffnung schob.

Er schoß wieder. Die Schrotladungen hämmerten in Stefans Körper, mit einem Zischen, als schlügen sie in nassen Lehm, und wieder wurde er zurückgeschleudert. Und wieder. Und wieder.

Belderson schoß fast zwei Dutzend Mal auf ihn, ehe er endlich aufhörte, sich zu bewegen.

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