29.

Es war die Nacht, in der es wirklich begann, aber das wußte sie natürlich jetzt noch nicht. Trotz allem fiel es ihr schwer, einzuschlafen. Stefan - aber sonderbar erweise schockierte sie dies kaum noch, ja, es war sogar fast, als hätte sie es erwartet - war taktlos genug, mit ihr schlafen zu wollen, gab seine Bemühungen aber nach kurzer Zeit auf, als sie nicht reagierte, und drehte sich beleidigt zur Wand. Natürlich waren es in Wahrheit dann wohl nur noch Minuten, die sie sich ruhelos her umwälzte und abwechselnd gegen die Decke und die Wand neben dem Fenster starrte, bis sie schließlich doch einschlief, aber Liz kamen diese Minuten vor wie Stunden.

Und fast ebenso natürlich kam der Alptraum, kaum daß sie eingeschlafen war. Sie war wieder im Wald, dem gleichen Wald, durch den sie wie von Furien gehetzt gefahren war, dem gleichen Wald, in dem der Mitternachtssee lag und das Moor (Moor?) und das DING, das im Wasser und gleichzeitig auch in ihr lebte. Sie rannte, aber zumindest in dieser Beziehung war es ein ganz normaler Alptraum, denn sie rannte so schnell, daß sie Mühe hatte, ihre Bewegungen noch zu koordinieren, aber sie kam nichtsdestotrotz nicht von der Stelle: rings um sie herum war Wald, dichter, kompakter Wald, wie die Wände eines Tunnels, durch den sie hetzte, und trotzdem hatte es etwas vom Laufen auf einem Fließband an sich, denn der Boden schien so schnell unter ihr hinwegzugleiten, wie sie darauf lief. Dann begriff sie, daß es doch kein normaler Traum war, sondern die direkte Fortsetzung des Traumes aus der vergangenen Nacht, in dem sie schon einmal hier gewesen war. Indem sie das Ohlsberg-Ding getroffen hatte, diese Kreatur aus Pflanzen und Wurzelwerk, die mit dürren Dornenfingern nach ihr gegriffen hatte. Die Erinnerung ließ sie erscheinen. Nebel - vielleicht auch irgend etwas anderes? - ballte sich vor ihr auf dem Weg zusammen, sehr schnell und sonderbar undramatisch, und dann stand sie ihm gegenüber.

Es war Ohlsberg, und gleichzeitig war es etwas unsagbar Fremdes, Böses, anderes, wie in der vorangegangenen Nacht ein Ohlsberg, der aus Lehm und Schmutz und halb verfaulten Pflanzen teilen bestand. Aber sie konnte ihn jetzt deutlich ersehen, denn obwohl er mit beinahe dergleichen Geschwindigkeit vor ihr zurückwich, mit der sie rannte, kam er doch ganz langsam näher. Vielleicht glitt er auch einfach auf sie zu, und sie rannte wirklich, ohne von der Stelle zu kommen, wer wollte die verrückte Logik dieses Traumes schon deuten oder gar verstehen? Gleich wie, sie konnte ihn deutlicher erkennen, in allen entsetzlichen Einzelheiten. Es war doch nicht Ohlsberg, sondern das Ding, das ihn nachzuahmen versuchte, so perfekt wie möglich, aber eben doch nicht ganz genau: Sein Gesicht und seine Hände bestanden aus fleischfarbenem Morast, der jedoch eine weit flüssigere Konsistenz als menschliche Haut hatte, denn er floß und wabbelte hin und her, als wäre es nur ein dünnes Häutchen, unter dem sich Käfer oder Maden bewegten, seine Augen waren glänzende rote Beeren in der Farbe halb geronnenen Blutes, die trotzdem sehen konnten, seine Finger - er hatte mindestens ein Dutzend an jeder Hand - dürre abgestorbene Äste, die leise knisterten, wenn er sie bewegte, der Mund ein lippenloser Schlitz, hinter dem weder Zähne noch Zunge waren, sondern nur eine amorphe feuchte Masse, wie das Innere einer verfaulten Frucht. Sie wollte stehen bleiben und schreien, aber auch das konnte sie nicht, sie mußte sich bewegen, weiterlaufen auf das gräßliche Pflanzen-Ding zu, das Ohlsbergs Aussehen angenommen hatte (oder war es umgekehrt?) und jetzt die Arme ausbreitete, wie um sie zu umarmen. Sie würde sterben, wenn er es tat. Unter seiner Jacke - auch sie bestand aus haardünnen glitzernden Wurzeln, wie sie jetzt sah - bewegte sich etwas, ein formloser Klumpen, der hin und her kroch, und die gleichen formlosen Etwasse krochen unter seiner Hose entlang, glitten seine Beine hinab und verschwanden im Boden, denn sie sah jetzt auch, daß er keine Füße hatte, sondern direkt auf dem sumpfigen Untergrund her anwuchs.

Dann öffnete sich der Mund der Kreatur, aber wie in der Nacht zuvor kamen keine Worte heraus, sondern erneut dieses entsetzliche Geräusch, ein grauenhaftes, feuchtes Blubbern und Würgen, ein Laut wie von etwas Großem, Nassem, das sich durch halb erstarrten Morast bewegte, ein Gurgeln, als ersticke er an seinem eigenen Blut, und dann mischte sich ein schriller Ton in seine Un-Sprache, ein rhythmisches, fast schmerzhaftes helles Kreischen, nein, ein Schrillen, das so vollkommen fremd und anders war, daß sie davon erwachte.

Zweierlei geschah, dessen sie sich mit fast schmerzhafter Deutlichkeit bewußt war: Der Traum hatte sie aus gespien; sie war nicht einfach erwacht, sondern regelrecht hinaus katapultiert worden. Indem nicht existierenden Boden ihrer kleinen selbstgemachten Privat-Hölle hatte sich eine Klappe geöffnet, und sie war zurückgestürzt in die Wirklichkeit, die vielleicht nicht viel weniger schlimm als der Traum war. Sie war wirklich aus dem Traum her ausgefallen, glaubte sogar noch das leise Zittern des Bettes unter sich zu spüren, das den Sturz aufgefangen hatte. Das zweite war, daß sie geschrien hatte, so laut, daß ihre Kehle davon schmerzte. Verstört, zitternd vor Angst und mit rasendem Herzen, richtete sie sich auf die Ellenbogen hoch und sah sich um. Das Zimmer war dunkel, aber irgend woher nahm sie die absolute Gewißheit, daß sie noch nicht sehr lange geschlafen hatte; keine Stunde. Trotzdem lastete Schwärze wie eine materielose Decke auf ihr. Ihr Laken war feucht vor Schweiß, und ihre Beine fühlten sich von den Füßen abwärts klamm und kalt an.

Sie drehte den Kopf. Seltsam - Stefan schlief neben ihr wie ein Murmeltier. Im Schlaf hatte er sich wieder zu ihr herumgedreht, sie konnte sein Gesicht sehen, und der entspannte Ausdruck darauf und seine ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, daß er sehr tief schlief. Ihre Schreie - verdammt noch mal, sie wußte, daß sie gellend geschrien hatte! - hatten ihn nicht geweckt, ja, sie waren nicht einmal in seinen Schlaf gedrungen. Das Telefon schrillte.

Es dauerte einen Moment, bis Liz das Geräusch als das identifizierte, was es war. Im allerersten Augenblick war sie felsenfest davon überzeugt, daß der Irrsinn weiterging, daß das Ohlsberg-Ding die Tür zwischen den Welten aufgestoßen hatte und sie verfolgte, gleich aus den Schatten am Fußende des Bettes treten und seine dreizehn fingrigen Hände nach ihr aus stecken würde. Dann brach der Laut ab, einen Moment lang herrschte eine tiefe, mörderische Stille, und dann erscholl das Schrillen erneut; Liz erkannte es als das Lamentieren des Telefons.

Überrascht drehte sie sich herum, griff mit zitternden Fingern nach dem Wecker und hob ihn dicht vor die Augen, um die winzigen Leuchtziffern erkennen zu können. Es war kurz vor Mitternacht. Wer, zum Teufel, rief um diese gotteslästerliche Uhrzeit bei ihnen an?

Dann begriff sie...

...natürlich war es niemand anderes als Ohlsberg. Der alte Mistsack hockte jetzt wahrscheinlich grinsend an seinem Apparat und freute sich darauf, sie mit Vorwürfen und Angriffen überhäufen zu können, und er mußte sich sehr genau ausgerechnet haben, daß er sie aus dem ersten Nachtschlaf riß und sie nicht unbedingt darauf vorbereitet war, sich zu wehren.

Wütend schlug sie die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett.

Und erstarrte.

Es war dunkel im Zimmer, aber nicht so dunkel, daß sie es nicht sehen konnte. Durch das Fenster fiel helles Mond licht herein, so daß das Bett und ihre Beine wie von einem silbrigen Scheinwerfer beleuchtet wurden, ein blasses unwirkliches Licht, das alle Farben eliminierte, dafür abertausend neue Grautöne erschuf, so daß sie fast überscharf sehen konnte, wie auf einem sehr harten Schwarz-Weiß-Foto.

Ihr Bett war naß und ihre Beine von den Waden abwärts schmutzig.

Wo ihre Füße gelegen hatten, glänzte ein großer, schmierigschwarzer Fleck auf dem Laken. Ein leichter Geruch wie nach faulendem Wasser (Moor) stieg ihr in die Nase, und an ihren nackten Füßen klebte Schlamm in kleinen, feucht kalten Klümpchen. Eisiges Wasser lief träge zwischen ihren Zehen hindurch und tropfte auf den Teppich, wo es schwarze Flecken hinterließ.

Liz saß da wie gelähmt. Für einen kurzen Augenblick verlor sie wirklich den Verstand, trat hinüber in die Dimension des Wahnsinns, in der nichts Bestand hatte und der Schrecken zur Normalität wurde. Es dauerte nur einen Augenblick - Liz glaubte ein deutlich hörbares ›Klick‹ zuhören, mit dem irgendwo in ihrem Kopf eine Sicherung heraussprang, und kurz darauf spürte sie ebenso deutlich, wie sie (von wem eigentlich?) wieder her eingedrückt wurde. Vielleicht rettete ihr dieser kurze Augenblick des Wahnsinns im Endeffekt den Verstand.

Zitternd saß sie da, mit geschlossenen Augen, die Hände so fest in die Matratze gekrallt, daß ihre Fingerspitzen schon wieder zu bluten begannen, lauschte auf das monotone Schrillen des Telefons und betete darum, daß der entsetzliche Anblick nicht mehr da war, wenn sie die Augen wieder öffnete.

Er war da.

Die Kälte in ihren Zehen, das Gefühl der Feuchtigkeit, das langsam in ihren Waden empor kroch, und der schlechte Geruch verrieten es ihr, noch ehe sie die Augen wieder öffnete und den schwarzen Morast sah, der an ihren Füßen klebte und das Bett besudelte, das alles war da und das alles verriet ihr, daß sie nicht weiter träumte.

Aber sie war doch nicht verrückt! Sie war...

... eingeschlafen und wieder aufgestanden, ohne es zu merken, und wie eine Schlafwandler in nach unten und aus dem Haus gegangen, quer über den Hof und hinüber in den Wald. Daher auch ihr Traum von Bäumen und Dornen und Morast. Natürlich, das war eine Erklärung, und von allen zur Verfügung stehenden wahrscheinlich die logischste. Aber war das überhaupt möglich?

Sie hatte davon gehört, wie jedermann von Schlafwandlern, Mondsüchtigen hört, und sie hatte es - wie jedermann - geglaubt. Aber so etwas am eigenen Leibe zu erfahren war... entsetzlich. Sie hatte Angst, sie fror, und plötzlich wurde ihr übel. Und als ihr Blick auf den Teppich fiel, machte ihr Herz einen schmerzhaften Satz bis in ihre Kehle hinauf und verwandelte sich in einen bitteren stacheligen Klumpen, der sie zu erwürgen drohte.

Da waren keine Spuren.

Sie starrte ihre Füße an, das besudelte Bett und dann wieder den Teppich, der rein und weiß wie am ersten Tag da lag, ohne die geringste Schmutzspur.

Aber das war doch nicht möglich! Sie konnte doch nicht hinausgegangen und mit diesen Füßen wieder zurückgekommen sein, ohne auch nur einen Fleck auf dem Teppich zu hinterlassen !

Unter ihr gellte das Telefon erneut, und neben ihr bewegte sich Stefan im Schlaf. Liz fuhr zusammen, zog ganz instinktiv die Beine wieder an und die Decke darüber, gerade noch rechtzeitig, ehe Stefan mit einem verschlafenen Grunzen die Augen aufschlug und benommen zu ihr hoch blinzelte.

»Wasnlos?« nuschelte er. »Welcher Hirni ruft hier mitten in der Nacht an?« Er zog die Nase hoch, versuchte sich aufzusetzen und sank mit einem Stöhnen wieder zurück. »Bring dieses verdammte Ding zum Schweigen, ehe ich es aus der Wand reiße«, murmelte er undeutlich. »Selbst ich muß ab und zu einmal schlafen, zum Teufel noch mal.« Ersetzte sich im Bett auf, blinzelte, fuhr sich schlaftrunken über die Augen und ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen.

Liz regte sich nicht. Sie war gelähmt, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es war nicht so, daß sie sich nicht bewegen konnte - sie hatte nicht einmal mehr das bißchen Willen, sich bewegen zu wollen. Es begann erneut. Das Ungeheuer war wieder da, das DING aus dem Sumpf, die Moorhexe, die Banshee, der Wahnsinn, der sich nur eine kleine Atempause gegönnt hatte, um erneut und zehnmal heftiger nach ihr zu greifen - aber sie konnte nichts sagen. Ihre Stimmbänder waren so gelähmt wie der Rest ihres Körpers. Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich zu ihm herum zudrehen. Hilf mir! dachte sie verzweifelt. So hilf mir doch!

Stefan drehte sich wieder auf die Seite. »Bring dieses verdammte Scheißding zur Ruhe«, maulte er.

Sekundenlang starrte sie ihn an, versuchte verzweifelt, es ihm zu sagen, ihn um Hilfe anzuflehen. Aber sie konnte nicht.

Und selbst wenn - natürlich würde er ihr kein Wort glauben. Und gleichzeitig hatte sie Angst davor, daß er aufstehen und sie ansehen könne und daß für ihn alles ganz normal war. Daß sie doch wahnsinnig war.

»Bleib liegen«, sagte sie mühsam. »Ich gehe schon. Sicher... hat sich nur jemand verwählt.« Ihre eigene Stimme erschien ihr fremd, falsch und verzerrt vor Hysterie und beginnender Panik. Stefan schien es nicht einmal zu bemerken.

Noch vor ein paar Tagen hätte er diesen Vorschlag schlichtweg ignoriert und wäre aufgestanden, um Ohlsberg - oder wer immer da kurz vor Mitternacht bei ihnen anrief - ein paar Worte über das Thema nächtliche Ruhestörung zu erzählen. Jetzt drehte er sich nur mit einem ärgerlichen Grunzen wieder zur Seite, knuffte sein Kissen zusammen und schlief einfach weiter.

Sie mußte all ihre Kraft auf bieten, um aufzustehen. Alles in ihr sträubte sich dagegen hinauszugehen, die Geborgenheit des Zimmers zu verlassen, aber sie mußte es tun. Sie mußte hinaus, wenn sie nicht wahnsinnig werden wollte.

Liz öffnete lautlos die Schlafzimmertür und trat auf den Flur. Das mißtönende Schrillen des Telefons begrüßte sie, als sie auf den Korridor hinaustrat. Der Gedanke an die finstere Treppe trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, aber sie ging weiter, obwohl ihr Herz bis zum Hals klopfte und ihr Neglige schweißnaß war. Ihr Herz raste. Die Diele lag in völliger Dunkelheit da, und wieder griff die Angst nach ihr; sie machte einen Schritt, blieb stehen, überlegte, zurückzugehen und das Licht einzuschalten, und begriff, daß sie es nicht konnte, denn zurückgehen hätte herumdrehen bedeutet, und es war die Art aller Alptraummonster, im gleichen Moment zuzuschlagen, in dem man sich herumdrehte und sie sah. So ging sie weiter. Es war nicht einmal so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Es war nur eine ganz normale Treppe. Die Angst war da, aber sie wurde nicht heftiger, als sie die dunkle Treppe hin unterging. Die Schatten zwischen den einzelnen Tritten waren leer, bloß dunkle keilförmige Flächen lichtloser Schwärze, in denen sich nichts verbarg, und der wuchtige Durchgang zur Küche war nichts als ein Loch in der Wand, hinter dem außer ein paar Möbeln nichts Bedrohliches wartete. Sie wußte, daß das Haus sicher war, eine unbezwingbare Festung, in der ihr nichts geschehen konnte. Noch.

Das Telefon schallte erneut, als sie den Fuß der Treppe erreichte, und es gellte zum dritten Mal, als sie die Wohnzimmertür auf stieß und den Lichtschalter umlegte. Dann brach es mitten im Klingelton ab. Einen Moment lang musterte Liz den Apparat feindselig, felsenfest davon überzeugt, daß dieses verdammte Ding ganz bewußt bis zu diesem Augenblick gewartet hatte. Ihre Hand, die noch immer auf dem Lichtschalter lag, begann zu zittern. Die Angst machte einer Aufwallung jäher und vollkommen sinnloser Wut Platz. Sie mußte all ihre Willenskraft auf bieten, um nicht herumzufahren und die Tür so heftig hinter sich zu zuwerfen, daß das ganze Haus davon aufwachte.

Aber sie mußte sich beherrschen; sie waren nicht mehr allein im Haus. Außer Peter war da jetzt auch noch Andy, die nur eine Tür weiter schlief, und welchen Eindruck würde es wohl auf das Mädchen machen, wenn ihre Pflegemutter in spe vor ihren Augen einen Wutanfall bekäme?

Außerdem war die Erklärung ganz einfach - das Telefon hatte lange genug geklingelt, daß die Verbindung einfach vom Amt unterbrochen worden war.

Liz atmete erleichtert auf. Vielleicht lag es schlichtweg an dem hellen Neonlicht, in das das Wohnzimmer getaucht war, vielleicht war es auch die Tatsache, daß sie sich gewehrt hatte - aber im gleichen Augenblick, in dem sie das Zimmer betreten hatte, war der Wahnsinn von ihr abgefallen. Er war noch da, lauerte wie ein geduldiges Raubtier irgendwo am Rande ihres Bewußtseins und wartete darauf, erneut über sie herzufallen, aber im Moment war sie in Sicherheit.

Liz überlegte einen Moment, ob sie wieder hinaufgehen und weiter schlafen (Schlafen? Lächerlich!) oder ein paar Minuten warten sollte. Es war Mitternacht - beinahe jedenfalls -, und wer immer angerufen hatte, mußte einen triftigen Grund dafür haben, den Apparat geschlagene fünfundzwanzigmal klingeln zu lassen. Wahrscheinlich würde er es noch einmal versuchen. Und wenn es wirklich Ohlsberg war...

Liz lächelte kampflustig. Nun, jetzt war sie wach genug, diesem alten Stinker den Arsch aufzureißen, wenn er wirklich noch einmal anrief. Beinahe freute sie sich sogar darauf. Behutsam schloß sie die Tür, ging zum Telefon und stellte es leiser, damit sein Lärmen nicht wieder durch das ganze Haus schrillte. Es war sowieso erstaunlich, daß Peter und seine Tochter nicht aufgewacht waren, denn der Apparat vollführte wirklich einen Heidenlärm - Stefan hatte ja damals extra eine lautere Klingel einbauen lassen, damit sie es in dem großräumigen Haus auch überall hörten. Einen Moment lang blieb sie einfach stehen und lauschte. Es war sehr still im Haus, und trotz der dicken Wände hätte sie gehört, wenn Peter und seine Tochter wach geworden wären - schließlich grenzte die Kammer direkt ans Wohnzimmer. Aber da war nichts. Nein, alles schlief, wie es sich für diese Uhrzeit gehörte.

Wenn man nicht gerade von Gespenstern und Alpträumen heimgesucht wurde, hieß das.

Liz seufzte, zog ihren Morgenrock ein bißchen hoch und betrachtete ihre schmutzstarrenden Füße, aber anders als vorhin jetzt mit einer Art sehr kaltem, fast schon wissenschaftlichem Interesse. Es wäre so leicht, alles unter dem Stichwort Alptraum zu verbuchen und einfach zu vergessen - aber der Dreck an ihren Füßen war echt, und jetzt, im hellen Neonlicht des Wohnzimmers, sah sie noch mehr. Zwischen den Zehen klebten kleine winzige grüne Partikelchen: Tannen grün, zerbröseltes trockenes Laub - es gab überhaupt keinen Zweifel, sie war draußen gewesen. Also gut, dachte sie, dann war sie eben doch verrückt.

Nicht sehr schlimm; nur ein bißchen bescheuert, so daß es zum Schlafwandeln und Halluzinieren reichte.

Seltsamerweise beruhigte sie dieser Gedanke, denn er bedeutete nicht weniger, als daß alles nicht wahr war. Die Moorhexe - sie hatte sich entschlossen, das DING im See so zu nennen - hatte es ihr ja gesagt: ICH BIN IN DIR, genau das waren seine Worte gewesen.

Aber er hatte sich verrechnet, der alte Schleim er. Mit solchen Tricks konnte er vielleicht jemandem wie Peter beikommen, aber nicht ihr. Wenn sie verrückt war - na gut, es gab genug Leute, die ihr helfen konnten.

Das Telefon klingelte erneut. Liz nahm den Hörer ab, atmete sehr tief ein und wieder auf und legte sich ein paar Unfreundlichkeiten zurecht, mit denen sie das Gespräch eröffnen würde, ehe sie die Muschel ans Ohr drückte. »Ja?«

Es war nicht Ohlsberg. Sie spürte es, noch ehe sich die Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. Die Verbindung war schlecht, von knisternden Störgeräuschen überlagert und so schwach, als käme das Gespräch geradewegs vom Jupiter, und es war völlig verrückt und völlig unmöglich, aber sie fühlte, daß dies mehr war als eine normale telefonische Verbindung, sie fühlte den Schrecken, den blanken Terror, der am anderen Ende der Leitung herrschte, noch ehe sich die Stimme meldete, zitternd, schwach und halb hysterisch.

»Frau König?«

Das war doch...

»Stefanie?« fragte sie verwirrt und selbst ein bißchen erstaunt, daß sie das Mädchen so zweifelsfrei erkannte. »Sind Sie das?« Was, in Dreiteufels Namen, wollte diese kleine Hysterikerin von ihr?!

»Ja«, antwortete Stefanie. »Hören Sie, Liz, es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit stören muß, aber...«

»Aber was?« fragte Liz, ein wenig schärfer, als sie eigentlich gewollt hatte. »Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Das weiß ich, Frau König«, sagte - nein: stammelte Stefanie. »Aber es ist wichtig. Bitte, ich muß Sie sehen.«

»Sehen?« Liz starrte den Telefonhörer an. »Sind Sie verrückt geworden?«

»Ich wollte, es wäre so«, antwortete Stefanie. Ihre Stimme zitterte jetzt, war kurz davor, überzukippen. »Aber es ist wichtig. Hören Sie, Sie ... Sie müssen herkommen. Sofort! Ich würde zu Ihnen kommen, aber das würde nichts nutzen! Sie müssen weg! Sie...«

»Einen Moment«, unterbrach sie Liz. »Immer mit der Ruhe. Was ist passiert? Was soll das alles?«

Sekundenlang hörte sie nichts als ein immer lauter werdendes Knistern und Knacken, so daß sie schon glaubte, die Leitung wäre endgültig zusammengebrochen, dann wurden Stefanies Atemzüge wieder lauter, und sie konnte zumindest Fetzen von dem verstehen, was sie sagte: »... Gefahr, Liz. Einer entsetzlichen Gefahr. Ich... ich habe versucht, weiter...« Jemand war in der Leitung.

Es gab überhaupt keine logische Begründung für diese Annahme, aber Liz spürte zweifelsfrei, daß außer Stefanie und ihr noch jemand (oder etwas?) in der Leitung war und mithörte. Das Krachen und Knistern, das sie für eine elektronische Störung hielt, war...

»... so entsetzlich, daß ich es erst nicht geglaubt habe, aber ...« Waren Schritte. »... müssen herkommen. Wir können uns irgendwo treffen, vielleicht auf halbem Wege, aber nicht bei Ihnen...« Schritte von etwas Gigantischem, etwas ungeheuer Großem, das auf mehr als zwei oder vier Füßen lief. »... dort weg, verstehen Sie?«

»Ich ... verstehe überhaupt nichts«, sagte Liz mühsam. Es fiel ihr schwer, sich auf Stefanies Worte zu konzentrieren.

Wieder griff nackte Angst nach ihr. Es gelang ihr zwar auch diesmal noch, sie abzuschütteln, aber wie oft noch?

»Bitte, beruhigen Sie sich erst einmal, Kindchen«, sagte sie. »Ich verstehe überhaupt nicht, was los ist. Was ist entsetzlich, und was wollen Sie mir sagen?«

»... am Telefon«, drang Stefanies Stimme durch das Krachen und Knistern der (Schritte) Störungen. »... keine Zeit mehr... vielleicht schon zu spä ...«

»Wozu ist es schon zu spät?« fragte Liz heftig. »Zum Teufel noch mal, Stefanie, beruhigen Sie sich!«

Aber Stefanie beruhigte sich nicht. Im Gegenteil. Ihre Stimme klang ganz hysterisch, sie schrie fast, aber im gleichen Maße wurden auch die Störgeräusche stärker, so daß Liz trotz allem nur Bruchstücke verstand. »... nur noch drei Tage. Sie müssen...« KLACK.

Die Leitung war tot, Stefanies Stimme, die Störgeräusche, alles verschwunden, von einer Sekunde auf die andere. Aus der Leitung drang nur noch monotones statisches Summen.

Ein paar Sekunden lang blickte Liz den Hörer verwirrt an, dann drückte sie die Gabel herunter, zwei-, drei-, viermal hintereinander, bis ihr die Sinnlosigkeit ihres Tuns bewußt wurde und sie einhängte. Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick auf die Uhr. Die Zeiger hatten sich vereinigt. Es war Mitternacht.

Und draußen auf dem Hof begann Carry wahnsinnig zu bellen.

Загрузка...