17.

Stefan brach an diesem Abend zum ersten Mal mit einem seiner ohnehin sehr wenigen Prinzipien; nämlich dem, kein Fahrzeug mehr anzurühren, wenn er auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Er war nicht betrunken, aber er war auch alles andere als nüchtern: Die fünf oder sechs Gläser Wein, die er im Laufe des Abends getrunken hatte, zeigten Wirkung, besonders, als sie das Haus verließen und er in die eiskalte Nachtluft hinaustrat. Wären sie einer Polizeistreife in die Hände gefallen, hätte er sich nicht nur von seinem Führerschein, sondern auch gleich von den Tantiemen seines nächsten Buches verabschieden können.

Natürlich wußte Liz all dies, aber es war ihr egal. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, war sie es, die nicht über die Folgen ihres Tuns nachdenken wollte, sondern einfach nur reagierte. Es war ihr gleich, ob Stefan betrunken war oder nicht, es war ihr gleich, ob er im besten Fall seinen Führerschein und einen Haufen Geld und im schlechtesten ihrer beider Leben aufs Spiel setzte, es war ihr vollkommen gleich, was geschehen würde - alles, was sie wußte, war, daß sie hier weg wollte, fort aus dieser entsetzlichen Stadt, fort aus diesem Haus, weg aus Gabis und Rainers Gesellschaft und vor allem fort aus der Nähe ihrer beiden verrückten Freunde. Mit jener fast übernatürlichen, auf Details beschränkten Klarheit, die sonst nur Geistesgestörten oder Genies zu eigen ist, begriff sie, daß es nur noch einen einzigen Ort auf der Welt gab, an dem sie sicher war: Eversmoor. Möglicherweise wartete gerade dort das Grauen auf sie, aber was immer es sein mochte, es war nicht so schlimm wie das, was sie hier erwartete. Sie kam sich ein bißchen vor wie eine Süchtige, und sie war es wohl auch.

Gabi und Rainer hatten nicht versucht, sie zurückzuhalten. Es war unmöglich, daß sie nicht begriffen, in welchem Zustand sich Liz befand und daß Stefan nicht mehr fahrtüchtig war - aber keiner von ihnen reagierte auch nur mit einem Wort, als Liz erklärte, daß sie nach Hause wollte, und Stefan nur schweigend dazu nickte. Sie hatten ein Zimmer in einem Hotel ganz in der Nähe gebucht, aber keiner von ihnen kam auch nur auf den Gedanken, dort zu übernachten. Wie Liz schien auch Stefan ganz instinktiv zu spüren, daß es nur noch einen Ort auf der Welt gab, an dem sie sicher waren: Eversmoor.

Noch in der gleichen Nacht fuhren sie nach Hause, aber sie kamen erst mit dem ersten Grau der Morgendämmerung in Eversmoor an. Noch war es dunkel; die Scheinwerfer des Jaguars stachen zwei gelbe, asymmetrische Lichtsplitter in die Nacht, und Schatten griffen wie rauchige Hände nachdem niedrigen Sportwagen. Aber im Osten begann sich der Himmel bereits heller zu färben, und in einer halben Stunde, so schätzte Liz, würde es hell sein.

Es war eine lange Fahrt gewesen. Stefan mußte wohl doch mehr getrunken haben, als sie bemerkt hatte, denn es kostete ihn sichtliche Mühe, den Wagen zu fahren. Die Tachonadel war nicht einmal über die Hundert-Kilometer-Marke geklettert, und seine Hände hielten das Lenkrad so fest, als wollte er es zerbrechen. Es war vier Uhr gewesen, als sie die Autobahn verlassen hatten, und es würde - Liz warf einen flüchtigen Blick auf die kleine Uhr im Armaturenbrett - fünf werden, ehe sie das Gut erreichten. Fast fünf Stunden für eine Strecke, die sie unter günstigen Voraussetzungen in anderthalb zurücklegten. Liz war müde. Ihre Augen brannten, und sie hatte Kopfschmerzen, weil sie fast pausenlos geraucht hatte während der ganzen Fahrt. Stefan hatte kaum ein Wort mit ihr geredet, seit sie losgefahren waren, und wenn sie an den Zwischenfall in Hamburg zurück dachte, fühlte sie noch immer einen Schauder eisiger Furcht. Und trotzdem fühlte sie sich erleichtert; auf eine unmöglich in Worte zu fassende und noch unmöglicher zu begründende Art erleichtert. Schrecken und Furcht waren noch immer über deutlich in ihrem Gedächtnis, aber sie schienen zu verblassen, mit jedem Kilometer, den sie sich dem Gut näherten. Es war vielmehr als nur eine einfache Heimkehr. Ihr eigener Vergleich mit einer Süchtigen fiel ihr ein, und tatsächlich fühlte sie sich in diesem Moment ganz genau so. Je weiter sie sich Gut Eversmoor näherten, desto irrealer und verrückter kam ihr ihr Erlebnis in Hamburg vor. Die Erinnerung barg jetzt eine gänzlich andere Art von Schrecken in sich: jene Art von Furcht, die man beim Betrachten eines Horror-Filmes erleben mochte, vielleicht auch beim Lesen eines besonders gelungenen Thrillers: Eine sehr schlimme Furcht, die aber gleichzeitig auch sehr distanziert war. Was immer dort draußen auf sie lauern mochte, sie war vor ihm sicher, solange sie nicht hinausging in jene feindselige Welt außerhalb ihrer eigenen.

Ein Teil von ihr - sogar eigentlich der weitaus größte! - war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß diese Gedanken schlichtweg aberwitzig waren. Sie benahm sich ungefähr so logisch wie eine Fliege, die mit aller Macht versuchte, ins Netz der Spinne zurückzukriechen, aus dem sie gerade mit Mühe und Not entkommen war. Aber vielleicht war dieser Vergleich nicht einmal so falsch, dachte sie, und vielleicht machte er Sinn, weil der erste Biß der Spinne bereits gereicht hatte, sie süchtig zu machen.

Bin ich verrückt? dachte sie. Nicht zum ersten Mal, seit sie vor zwei - das heißt, jetzt schon beinahe vor drei - Tagen aus jenem absurden Traum aufgewacht war, stellte sie sich diese Frage allen Ernstes. War die Erklärung vielleicht wirklich so simpel - nämlich daß sie schlicht und einfach dabei war, den Verstand zu verlieren? Der Wagen schoß aus dem Wald heraus, und der Anblick von Gut Eversmoor, das im ersten fahl grauen Licht der Dämmerung unter ihnen lag, enthob sie einer Antwort auf diese Frage; wenigstens im Moment.

Es war ein sonderbares Gefühl. Und es war sehr viel intensiver, als es hätte sein dürfen.

Verwirrt setzte sie sich auf, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und blinzelte zu den Gebäuden hinüber. Jetzt, als sie den Wald verlassen hatten, der den Wagen für die letzten drei, vier Kilometer wie ein licht schluckender schwarzer Schwamm umschlossen hatte, sah sie, daß Stefan doch weitaus schneller fuhr, als sie bisher angenommen hatte. Vielleicht gab er auch einfach nur mehr Gas, um möglichst schnell nach Hause zu kommen. Er mußte zehnmal müder sein als sie. Und doch...

Etwas ... war ...

Etwas war...

War...

Verdammt! dachte sie mit einer Mischung aus Wut und Verunsicherung. Was, zum Teufel, war mit ihr los ?! Sie war nicht einmal mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen!

»Halt an!« murmelte sie.

Obwohl sie sehr leise gesprochen hatte, reagierte Stefan sofort. Er sah auf, blickte sie eine halbe Sekunde lang durchdringend an - und trat so hart auf die Bremse, daß sie unsanft in den Sicherheitsgurt geworfen wurde. Der Wagen schlitterte noch drei, vier Meter auf der kiesbestreuten Zufahrt weiter, brach wie ein bocken des Pferd aus und stellte sich nahezu quer, als Stefan das Steuer verriß; nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern einfach weil er wütend war und es zu einer seiner weniger angenehmen Angewohnheiten zählte, seine Wut beim Autofahren abzureagieren. Irgendeines Tages würde er sich auf diese Weise umbringen.

»Also?« fragte er, nachdem der Wagen vollends zum Stehen gekommen war. Liz wartete darauf, daß er den Motor abschaltete, aber er tat es nicht. Ihr Blick folgte dem gelben Finger der Scheinwerfer strahlen. Der Wagen war unmittelbar in der Einfahrt zum Halten gekommen, aber er stand ein wenig schräg, so daß die Scheinwerfer nicht auf das Wohnhaus gerichtet waren, sondern das verkohlte Gerippe des Gesindehauses beleuchteten. Mehr denn je erinnerten sie die geschwärzten Balken an das Gerippe eines großen Tieres, und die Schatten dazwischen schienen zu leben. Aber diesmal wußte sie, daß es nicht so war, und sie erlaubte ihrer Angst nicht, zu übermächtig zu werden.

»Gib mir eine Zigarette«, sagte sie.

Stefan schwieg einen Moment. Dann griff er in die Tasche, zog die Packung hervor und nahm zwei Zigaretten heraus. Mit sehr unsicheren Bewegungen riß er ein Streichholz an, zündete beide Zigaretten an und reichte eine davon an Liz weiter. Liz riß sie ihm fast aus der Hand, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gegen die Windschutzscheibe. Stefan beugte sich vor, schaltete die Scheinwerfer aus und die Innenbeleuchtung ein; den Motor ließ er laufen. Liz blickte weiter zum Hof hinüber. Jetzt, als die Scheinwerfer abgeschaltet waren, hatte der Anblick nichts Gespenstisches mehr. Fast unbewußt registrierte sie, daß in Peters Zimmer und der Küche Licht brannte.

»Also?« sagte Stefan, als sie auch nach einer Weile noch keine Anstalten machte, von sich aus weiter zusprechen.

»Was«, fragte sie in bewußt beiläufigem Ton, »ist ein Banshee?«

Die Überfalltaktik war richtig. Sie konnte sein Gesicht in der herrschenden Dunkelheit kaum deutlicher denn als hellen Fleck irgendwo neben sich erkennen, aber sie sah, wie er zusammen fuhr.

»Warum - fragst du?« erwiderte er schließlich; einzig indem Bestreben, Zeit zu gewinnen.

Sie hob andeutungsweise die Schultern, obwohl sie sicher war, daß er die Bewegung nicht sehen konnte. Aber sie waren sich nahe genug, daß er sie spürte.

»Nur so. Du... du hast es erwähnt. Und das Glas hat dieses Wort geschrieben.«

»Was soll das beweisen?« fragte Stefan.

»Nichts«, erwiderte sie. »Es... es interessiert mich nur.«

Das war nur die halbe Wahrheit. Etwas war an diesem Wort, etwas Wichtiges. Aber sie wußte nicht, was.

»Es ist - eine Legende«, antwortete Stefan schließlich. »Mehr nicht.« Er seufzte. »Ich hätte es nicht sagen sollen, ich weiß. Aber, zum Teufel, niemand konnte schließlich ahnen, was passiert, oder?« Er sah weg, um anzudeuten, daß er nicht ausführlicher über dieses Thema reden wollte.

Aber so leicht ließ Liz sich nicht abweisen. Im Gegenteil, Stefans abweisendes Verhalten bestärkte ihre Neugier eher noch.

»Natürlich nicht«, sagte sie. »Aber ich möchte es trotzdem wissen. Was bedeutete es genau? Irgendein Fabelwesen?«

»So ungefähr«, murmelte Stefan undeutlich. Er richtete sich wieder auf, versuchte zu lächeln und wich nervös ihrem Blick aus.

»Es ist ein Märchen«, sagte er. »Eine irische Legende. Es lohnt nicht, Zeit und Worte daran zu verschwenden.«

»Ich möchte es aber wissen«, beharrte Liz.

In Stefans Augen trat ein fast gequälter Ausdruck. »Es ist...«, erklärte er schließlich, »eine - so eine Art Moorhexe. Es hieß, daß es früher einmal ein Wesen gab, das im Moor lebte und durch die Wälder streifte, und...«

»Gab?«

»Oder gibt. Es ist eine Sage, Liz, mehr nicht. Und es gibt diese Banshee hier auch nicht.« Er versuchte zu lachen, aber es mißlang. »Es ist ein ausländischer Geist, weißt du? Er wird dir nur gefährlich, wenn du nach Irland reist.«

Sie sah ihn scharf an. »Wie sieht so eine Banshee eigentlich aus?«

»Überhaupt nicht«, sagte Stefan nach kurzem Zögern. Erschien eingesehen zu haben, daß sie nicht eher Ruhe geben würde, bis er all ihre Fragen beantwortet hatte. »Niemand hat je eine Banshee gesehen. Manche behaupten sogar, daß sie überhaupt keinen Körper hat. Daß sie nur eine körperlose Stimme ist.«

»Nur eine Stimme...«, wiederholte Liz, und für einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl, als striche eine eisige Hand ihr Rückgrat entlang. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Und was ist daran so schlimm? Ich meine, eine bloße körperlose Stimme ist doch nicht gefährlich - oder?«

Stefan lachte leise, schnippte seine Asche auf den Wagenboden und schüttelte den Kopf. »Normalerweise nicht«, sagte er. »Aber man sagt, daß jemand stirbt, wenn die Banshee schreit.«

Liz' Hände begannen so stark zu zittern, daß sie Mühe hatte, ihre Zigarette zu halten. »Man sagt, daß jemand stirbt, wenn die Banshee schreit... ?«

»Ja«, murmelte Stefan. »Und?«

»Ich... habe etwas gehört, in den letzten Tagen«, fuhr sie zögernd fort. »Und es war... es war nichts Lebendes, Stefan.« Für einen Moment war sie ganz dicht daran, ihm vom Mitternachtssee und seinem entsetzlichen Bewohner zu erzählen. Aber dann konnte sie es doch nicht. Stefan blickte sie an und schwieg.

»Du glaubst mir nicht«, sagte sie leise. Sie sog an ihrer Zigarette, atmete den Rauch tief ein und starrte ihr eigenes, verzerrtes Spiegelbild in der Windschutzscheibe an. Was sie anblickte, war nicht ihr Gesicht, sondern ein Totenschädel, dessen Mund sich zu einem Grinsen verzog, als sie abermals an der Zigarette sog. »Du glaubst mir nicht«, wiederholte sie. »Du hältst mich für hysterisch und überspannt und...«

»Wenn du dich so benimmst wie jetzt, ja«, unterbrach sie Stefan. Er seufzte. »Verdammt, ist dir eigentlich klar, daß es nicht unbedingt ungefährlich war, jetzt noch nach Hause zu fahren? Warum habe ich denn unsere besten Freunde vor den Kopf gestoßen, habe meinen Führerschein und eine Menge Geld und diesen Wagen und deine und meine Gesundheit riskiert, wenn ich dir nicht glauben würde?« Er lachte gepreßt, kurbelte das Seitenfenster herunter und schnippte seine Zigarette hinaus, wenn auch nur, um sich beinahe sofort eine neue anzuzünden. Sein Gesicht leuchtete im Widerschein der Feuerzeug flamme auf wie eine Maske aus roter Lava. Für einen Moment hatte sie wieder Angst vor ihm.

»Dann... glaubst du mir?« fragte sie zögernd.

Stefan sah auf. »Soll ich dir glauben, Liz? Daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht? Daß mit dir etwas nicht stimmt? Oder mit unserem Verhältnis zueinander?« Er seufzte, streckte die Hand nach ihr aus und zog den Arm wieder zurück, ohne die Bewegung zu Ende zu führen.

»Zum Teufel, ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch glauben soll«, sagte er. »Vielleicht... war einfach alles zu viel. Nicht nur für dich. Dieses Haus ... Die Arbeit hier... Dieses ganze neue Leben...« Er seufzte, aber es klang fast wie ein Schrei. »Vielleicht sind wir Stadtmenschen, Liz, beide, und vielleicht sollten wir es dabei belassen. Möglicherweise war es ein Fehler, dieses Haus zu kaufen und hierher zu ziehen.«

Er schwieg, und Liz spürte sehr deutlich, daß er dar aufwartete, daß sie etwas sagte, aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie wußte nicht, ob er auf Widerspruch oder Zustimmung wartete, und - ja, es war schlimm, es zuzugeben, aber es war so - sie wußte nicht einmal, ob seine Worte auch wirklich ernst gemeint waren, oder ob er sie nur sprach, um sie zu beruhigen. Jetzt, in diesem Moment erst, begriff sie, was es war, das zwischen ihnen nicht mehr stimmte: Sie hatten kein Vertrauen mehr zueinander.

»Weißt du, daß ich keine zwei vernünftigen Seiten mehr geschrieben habe, seit wir hier hergezogen sind?« sagte er plötzlich.

Diesmal war ihr Schrecken echt, als sie auf sah. Stefan nickte. Sein Gesicht war sehr ernst und sehr blaß. Sie sah, daß er die Zigarette in seiner Hand fast zerquetschte, ohne es überhaupt zu merken. »Aber du hast doch gesagt...«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach er sie, ein wenig schärfer, als angemessen schien. Wenn Liz noch einen Beweis gebraucht hätte, daß er die Wahrheit sagte, dann wäre es dieser Ton gewesen: ein wenig zu schrill, ein wenig zu aggressiv und ein wenig zu scharf, um die Unsicherheit wirklich zu überspielen, die er verbergen sollte. »Aber du ... hast doch ...«

»Ich habe mich wochenlang in meinem Arbeitszimmer vergraben«, unterbrach sie Stefan. »Ich habe wochenlang auf meiner Maschine herumgehämmert und kiloweise bedrucktes Papier produziert - aber herausgekommen ist nichts dabei.« Er lächelte unecht. »Keine Sorge, Schatz, mein Vorlauf ist lang genug. Ich kann ein weiteres Jahr lang nichts abliefern, ehe die Situation kritisch wird. Aber das ändert nichts daran, daß ich nichts Brauchbares mehr zustande gebracht habe, seit wir hier herausgezogen sind... Dieses Haus...« Er sprach nicht weiter, drehte sich aber halb im Sitz herum und starrte durch die beschlagene Frontscheibe zum Hof hinüber, dessen Umrisse wie ein schwarzer dreidimensionaler Scherenschnitt aus der Dämmerung aufzutauchen begann. »Das Haus?« hakte Liz nach. »Was soll damit sein?«

Stefan zuckte mit den Schultern. Er wirkte hilflos. »Vielleicht überfordert es uns schlicht und einfach«, sagte er. »Vielleicht haben wir zu viel von uns verlangt. Wir sind nun einmal Großstadt pflanzen, alle beide.«

»Und das Glas, und...«

»Glas, Humbug«, unterbrach Stefan sie, schüttelte sehr bestimmt den Kopf und machte eine rasche, ärgerliche Handbewegung, als sie widersprechen wollte. »Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß auch, was passiert ist«, sagte er rasch. »Ja, dein verdammtes Glas hat sich bewegt, und es hat diese Worte geschrieben, ich habe es gesehen, und ich weiß es, und ich glaube es. Aber das bedeutet doch nicht, daß es hier spukt, zum Teufel noch mal.«

»Sondern?« fragte Liz.

Stefan schnaubte. »Ach verdammt, stell dich nicht dumm. Von einer hysterischen Ziege wie dieser Stefanie erwarte ich nichts anderes, aber du und ich, wir wissen, daß es tausend Erklärungen für dieses Phänomen gibt. Vielleicht warst du es selbst - oder sogar ich!« Er schüttelte abermals den Kopf, schloß für einen Moment die Augen und blickte dann wieder zum Haus hinüber. Vielleicht hatte er sogar recht, dachte Liz. Sie waren beide keine Profis in Parapsychologie, wie Stefanie und ihr kindischer Freund, aber Stefans Beruf und ihrer beider Interessen brachten es mit sich, daß sie doch eine Menge mehr darüber wußten als der Großteil der Leute, mit denen die beiden normalerweise zusammenkommen mochten. Es war möglich - wäre sie ehrlich zu sich gewesen, dann hätte sie zugegeben, daß es nicht nur möglich, sondern unter den gegebenen Umständen sogar wahrscheinlich war, daß sie selbst die Ursache all dieser Phänomene war, nicht irgendwelche lovecraftschen Gespenster dort drüben im Wald. Aber spielte das denn überhaupt eine Rolle? War es nicht egal, was sie um brachte - ein reales Gespenst oder ihr eigenes Unterbewußtsein? Sie wußte es nicht. Alles, was sie wußte, war, daß es irgendwie mit dem Haus zusammenhing, dem Haus und dem Wald und dem See und dem, was vor sechshundert Jahren hier geschehen war. Die einzelnen Teile des Puzzles waren da, aber sie war einfach nicht fähig, sie zu einem Bild zusammenzusetzen. Noch nicht. Vielleicht war dies die letzte Warnung. Möglicherweise war es kein Zufall, daß sie dieses Gespräch ausgerechnet hier und jetzt führten. Vielleicht war diese Fahrt nach Hamburg die letzte Chance gewesen, die sie hatte, und vielleicht sollte sie die Tatsache, daß Stefan ausgerechnet hier noch einmal angehalten hatte, als nun wirklich allerletzte Warnung des Schicksals ansehen und die einzige Konsequenz daraus ziehen - nämlich auf der Stelle kehrtmachen und nie wieder in dieses verdammte Haus zurückkehren.

Aber die Chance verstrich ungenutzt; wenn es überhaupt eine war, und nicht nur ein weiterer grausamer Scherz des Bewohners des Mitternachtssees. Wie gelähmt saß sie da, unfähig, irgend etwas auf Stefans Worte zu erwidern, irgend etwas zu sagen oder zu tun. Sie war dem See näher als dem Haus, so, wie der Wagen stand, und wenn all dies mehr als ein absurder Traum war, aus dem sie nur nicht erwachen konnte, dann wußte das Ding im See ganz genau, was sie dachte. Und wenn es so war - wie konnte sie sich einbilden, ihm entkommen zu können? Seine Macht hatte ausgereicht, sie bis nach Hamburg zu verfolgen - woher nahm sie den Größenwahn, sich auch nur eine Sekunde einzubilden, sie könnte ihm hier, im Zentrum seiner Macht, die Stirn bieten? Lächerlich!

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