43.

Der Schrei begann, als sie den halben Weg geschafft hatte. Zuerst hörte sie ihn kaum. Es war ein Laut, der im Klatschendes Regens und dem Rauschen der Baumwipfel fast unterging, aber er gewann rasch an Lautstärke, und etwas in ihr war viel zu sehr auf diesen entsetzlichen Laut programmiert, als daß sie ihn auch nur eine Sekunde lang nicht hören würde - es war der Schrei, dieser scheußliche, dicht an der Hörgrenze vibrierende Laut, wie ihn kein Wesen dieser Welt hervorbringen konnte, der Schrei der Banshee, mit dem alles angefangen hatte und mit dem es enden würde.

Sie rannte schneller, glitt im Morast aus und fiel auf die Knie. Gehetzt sprang sie wieder hoch, schleuderte ihre Schuhe davon und warf einen raschen Blick zum Haus zurück, ehe sie weiter hetzte. Hinter dem Fenster rangen noch immer die beiden Schatten miteinander, aber am Ausgang des Kampfes bestand überhaupt kein Zweifel. Eigentlich glich es einem Wunder, daß Belderson Stefan bisher hatte standhalten können. Sie hatte nur noch Sekunden.

Keuchend, durchnäßt, über und über mit Schlamm bespritzt und aus einem halben Dutzend ungefährlicher und einer möglicherweise tödlichen Wunde blutend, erreichte sie die Scheune, torkelte durch die Tür und wankte auf den Wagen zu. Sie hatte noch niemals einen Wagen kurzgeschlossen, aber irgendwie würde es schon gehen. Schlimmstenfalls würde sie ihn mit ihrer bloßen Willenskraft zum Fahren bringen. Sie hatte den Jaguar fast erreicht, als sie bemerkte, daß sie nicht allein in der Scheune war, und abrupt stehen blieb.

Was sie sah, übertraf alles, was sie bisher erlebt hatte. Und es bestätigte ihre Theorie, daß es keine Grenzen für den absoluten Schrecken gab, auf entsetzliche Weise. Draußen schwoll der Schrei der Banshee weiter an, und jetzt erkannte sie auch, daß ein Rhythmus in diesem Ton war, der gleiche Rhythmus, in dem sich Andys schmale nackte Schultern wiegten, die vor ihr kniete. Sie war nackt wie am vergangenen Morgen, als sie sie das letzte Mal gesehen hatte, aber sie trug noch immer dieses faden dünne, schwarz glitzernde Netz, ein Gewebe aus zuckenden pulsierenden Nervenfäden, das ihren Körper überall bedeckte, und sie kniete über Peters regloser Gestalt und tat etwas mit seinem Gesicht, das Liz sehr wohl erkannte, das zu akzeptieren sich aber ihr Gehirn einfach weigerte. Ihre Hände waren voller Blut, und die Klinge des schmalen Messers, das sie führten - schnell und routiniert wie eine Chirurgin - blitzte rot.

Dann stieß die verstümmelte Gestalt unter ihr ein ganz leises, unendlich qualvolles Stöhnen aus. Einer ihrer Arme bewegte sich, die Hand rollte zur Seite, haltlos wie die einer Puppe, wieder erscholl dieses leise, von schrecklicher Pein erfüllte Stöhnen, und Liz begriff endlich, daß Peter noch lebte.

Sie schrie gellend auf.

Andys Kopf flog mit einem Ruck in die Höhe, und Liz schrie ein zweites Mal, als sie ihr Gesicht sah. Das Messer beschrieb einen Bogen und richtete sich auf sie. Mit phantastischer Klarheit konnte sie erkennen, wie sich die Muskeln in Andys schlankem Körper spannten und sie das Gewicht verlagerte, um sie an zuspringen. Liz war eine Winzigkeit schneller.

Als das Mädchen hoch federte, war sie bereits bei ihr. Mit der hundertprozentigen Kraft, die ihr die Angst gab, packte sie ihr Handgelenk und verdrehte es, bis der Knochen brach, dann kam ihr Knie hoch, traf Andys Dämonengesicht und schmetterte ihren Kopf in den Nacken. Andy verlor das Gleichgewicht, stürzte nach hinten und fiel halb über den Körper ihres Vaters. Sofort versuchte sie wieder auf die Beine zu kommen. Liz gab ihr nicht die Spur einer Chance. Sie trat zu, traf das Mädchen in den Magen und versetzte ihr einen fürchterlichen Hieb mit der flachen Hand, als sie sich krümmte.

Aber sie kämpfte nicht gegen ein lebendes Wesen, sondern einen Dämon. Das Mädchen kam mit einer katzenhaften Bewegung wieder auf die Füße, wich einen halben Schritt zurück und griff sofort wieder an. Liz konnte der vorschnellenden Messerklinge nur im allerletzten Moment ausweichen. Verzweifelt taumelte sie rücklings vor Andy davon, wehrte einen weiteren Messerstich mit der flachen Hand ab und schlug gleichzeitig zurück.

Andy versuchte noch einmal, dem Hieb auszuweichen. Liz keuchte selbst vor Schmerz, so hart hatte sie getroffen, aber das Mädchen taumelte nur kurz, gab einen fauchenden Laut von sich und griff sofort wieder an. Diesmal hinterließ die Messerklinge eine brennende Schmerzspur auf Liz' Rippen. Sie tat so, als wiche sie weiter zurück, machte dann blitzschnell einen Schritt vor und trat nach Andys Knie. Sie traf. Andy stolperte, wankte ungeschickt an Liz vorüber und kämpfte mit rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, und Liz half der Entwicklung mit einem kräftigen Stoß in die Seite nach. Andy fiel. Aber wieder rollte sie herum, so geschmeidig und kraftvoll wie eine Raubkatze, und wieder war sie auf den Beinen, ehe Liz ihren Vorteil ausnutzen konnte. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, einer scheußlichen, jeder Beschreibung spottenden Visage, auf der die dünnen Fäden des Nerven-Netzes pulsierten wie haarfeine blutgefüllte Äderchen. Ihre Augen waren schwarz, matte Knöpfe ohne Pupillen wie Tieraugen, und auch in ihrem Mund war etwas Dunkles, Glänzendes, das sie von innen heraus aufgefressen hatte.

Liz keuchte vor Anstrengung. Ihre Kräfte ließen nach. Liz spürte, daß sie mit jeder Sekunde schwächer wurde. Was sie im Moment tat, war, mit jenen Berserker-Kräften zu kämpfen, die jeder Mensch nur einmal im Leben entwickeln konnte und für die er meistens auch damit bezahlte. Sie mußte den Kampf beenden. Jetzt gleich.

Rücksichtslos warf sie sich vor. Andys Hand kam hoch, das Messer beschrieb einen engen Bogen und zielte auf Liz'Augen, die andere Hand war zur Faust geballt und versuchte ihren Magen zu treffen.

Liz nahm den Fausthieb hin, schlug das Messer beiseite und versuchte Andy abermals aus den Gleichgewicht zubringen. Es gelang ihr nicht ganz. Andy taumelte, aber ihre Hand krallte sich in Liz' Bluse und zerfetzte Stoff und Haut;gleichzeitig stieß sie abermals mit dem Messer zu. Sie schien nicht einmal zu spüren, daß ihr Handgelenk gebrochen war. Vielleicht gab es so etwas wie Knochen in ihrem Leib nicht mehr. Und diesmal kam Liz' Bewegung zu spät. Die Messerklinge schrammte über ihren Arm, fügte ihr einen häßlichen blutenden Schnitt zu und traf ihre linke Körperseite. Sie spürte keinen Schmerz.

Sie konnte fühlen, in aller Deutlichkeit fühlen, wie der Stahl ihre Haut spaltete, sich durch Fleisch und Muskeln wühlte, gegen eine ihrer Rippen traf und daran abprallte, tiefer nach unten, fort vom Herzen, statt darauf zu, sie konnte fühlen, wie Blut aus der Wunde quoll, mehr Blut, als Andy die Klinge mit einem Ruck her auszog und die Wunde dabei noch weiter aufriß, und eigentlich sollte jetzt ein entsetzlicher Schmerz kommen und alles auslöschen, aber er kam nicht.

Statt dessen sah sie, wie ihre Hand sich nach unten bewegte, die Andys packte und ihr mit unglaublicher Kraft die Waffe entrang. Wie eine unbeteiligte Zuschauerin, die nun auch keine Gewalt mehr über ihren Körper hatte, sah sie, wie sich ihre linke Hand in Andys entstelltes Gesicht krallte und nach den Augen tastete, ihren Kopf so weit zurückbog, daß ihr Genick eigentlich hätte brechen müssen, wie die andere, rot von ihrem eigenen Blut, nach oben fuhr - und das Messer bis ans Heft von unten her in Andys Hals stieß.

Aus dem wütenden Kreischen des Mädchens würde ein Seufzen. Sie erschlaffte in Liz' Griff, taumelte zurück. Ihre Hände sanken herab, hoben sich noch einmal, während sie bereits in die Knie brach, und klammerten sich um den Messergriff. Dann fiel sie zur Seite.

Liz taumelte haltlos gegen den Wagen. Tot, dachte sie benommen. Andy war tot. Sie hatte das Mädchen umgebracht. Sie fühlte kaum Schrecken, höchstens so etwas wie Verwunderung, wie leicht es war, einen Menschen zu töten.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie versuchte sich festzuhalten, aber ihr Körper wog mit einem Male Tonnen. Ihre Knie gaben nach. Langsam sackte sie vollends nach vorne, preßte stöhnend die Hand gegen die Seite und fühlte Blut in einem warmen, pulsierenden Strom zwischen ihren Fingern hindurch quellen. Sie hatte noch immer keine Schmerzen, sondern fühlte sich nur ein wenig benommen. Aber sie wußte mit unumstößlicher Sicherheit, daß sie sterben würde. Sie brauchte sich den Kopf nicht mehr darüber zu zerbrechen, wie sie den Wagen kurzschließen sollte. Andys Messer hatte das Problem für sie gelöst.

Aber da war noch etwas, was sie tun mußte. Wenn ihr Zeit genug dazu blieb. Sie stemmte sich hoch, griff mit zusammengebissenen Zähnen nach der Wagentür und zog sich daran in die Höhe. Das Gehen fiel ihr plötzlich erstaunlich leicht, und der tödliche Schmerz in ihrer Seite, auf den sie wartete, kam noch immer nicht. Ein paar Minuten, dachte sie, wenn es so etwas wie einen Gott gibt, gib mir noch ein paar Minuten, ich flehe dich an.

Etwas Warmes, Feuchtes berührte ihr Bein. Liz schrie auf und sah an sich herab, auf eine neue Scheußlichkeit gefaßt, die ihr schleimiger Freund aus dem See geschickt hatte.

Es war Peter. Irgendein verborgener Selbstverteidigungsmechanismus in Liz' Gehirn hatte bisher dafür gesorgt, daß sie ihn einfach vergessen hatte - ihn und vor allem das, was Andy mit ihm getan hatte! - aber ihr Fuß hatte den Arm berührt, und seine blutige Hand hatte sich um ihren Knöchel geschlossen wie eine sterbende Spinne. Ganz instinktiv versuchte sie ihren Fuß loszureißen, aber Peters Griff war zu fest. Liz zerrte mit aller Macht, aber Peters Finger krallten sich wie ein eiserner Korb um ihre Fessel. Standen jetzt schon die Toten auf seiner Seite?

Liz wimmerte leise vor Ekel und Furcht, als sie sich in die Hocke sinken ließ. Sie streckte die Hand aus, versuchte seine Finger zu packen und ihren Griff zu lösen und hätte es fast nicht geschafft. Dann stieß Peter ein leises Stöhnen aus, und Liz' Angst machte einer ebenso tiefen Erschütterung Platz. Er lebte. Nach allem, was Andy mit ihm gemacht hatte, lebte er noch immer!

Fast behutsam griff sie nach seiner Hand, löste seine Finger von ihrem Bein und kniete neben ihm nieder. Peter stöhnte erneut, als sie seinen Kopf auf ihren Schoß bettete und die Hand auf seine Stirn legte. Seine Haut war heiß und trocken wie Sandpapier und, wo sie nicht von Blut bedeckt war, so rot, als wäre sie verbrannt. Seine Augen standen offen, aber Liz bezweifelte, daß er sie erkannte. Sein Blick war trüb. Gott, was sollte sie nur tun! Da war nichts, absolut nichts, was sie für ihn tun konnte, außer vielleicht Andys Messer nehmen und seinen Leiden ein Ende bereiten. Aber ganz abgesehen davon, daß das bedeutet hätte, zu der Toten hinüberzukriechen und das Messer aus ihrem Schädel zu ziehen - unmöglich! -, konnte sie es nicht.

Peter stöhnte wieder, und dann, ganz plötzlich, klärte sich sein Blick. Ein wimmernder Schmerz laut kam über seine Lippen, und ein bißchen Blut. Er versuchte die Hand zu heben, aber seine Kraft reichte nicht mehr.

»Bewegen Sie sich nicht, Peter«, sagte Liz. »Keine Angst. Es wird... wird alles wieder gut. Ich werde Hilfe holen.« Das war ein solcher Unsinn, daß sie beinahe schrill aufgelacht hätte, und selbst Peter in seinem Zustand mußte es wissen.

Aber er reagierte auf die Worte; oder zumindest auf den beruhigenden Klang ihrer Stimme. Er versuchte nicht mehr, sich zu bewegen. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, und er war anklagend und flehend zugleich. Warum hatte sie nur nicht die Kraft, ihn zu töten? Aus tränen erfüllten Augen blickte sie auf das herab, was Andy - seine Tochter, seine eigene Tochter - mit seinem Gesicht gemacht hatte.

Warum sie es getan hatte? Die Antwort war einfach: das DING im See war kein Kostverächter. Sie, Liz, war noch immer die Hauptmahlzeit, aber einen kleinen Appetithappen zwischendurch verachtete es nicht, wie es bei Ohlsberg bewiesen hatte.

»Bitte...«

Es dauerte einen Moment, bis Liz begriff, daß Peter zusprechen versuchte. Sie zögerte. Dann beugte sie sich vor und brachte ihr Ohr ganz dicht an Peters Mund herab. Heißer, nach Blut und Tod riechender Atem streifte ihr Gesicht. »Bitte, Liz«, flüsterte Peter. »Bitte nicht... nicht Andy.«

Liz verstand nicht. Vielleicht gab es auch nichts zu verstehen. Es waren die letzten Worte eines Sterbenden, der vor Schmerz längst den Verstand verloren haben mußte. »Was... was meinen Sie, Peter?« fragte sie leise.

Heyning stöhnte. Ein entsetzlicher Krampf packte seinen Körper und schüttelte ihn. Der Blutstrom aus seinem Mund wurde stärker. Er starb. Endlich.

»Nicht Andy, Liz«, flüsterte er. »Bitte tun Sie... ihr nichts. Sie kann nichts... nichts dafür.«

Liz starrte ihn an, dann den verkrümmten, nackten weißen Körper wenige Schritte neben ihm. Er hatte nichts von dem mitbekommen, was geschehen war.

Und es war auch besser so.

»Passen Sie... auf sie auf«, flüsterte Peter. »Bitte ... kümmern Sie sich... um sie.«

»Das werde ich«, versprach Liz. »Niemand wird ihr etwas zuleide tun, Peter. Das verspreche ich.«

Als sie das nächste Mal auf ihn her absah, war er tot. Der Anblick ließ bittere Übelkeit in ihrer Kehle emporsteigen. Und Zorn. Kalten, mörderischen Zorn. O ja, sie würde sich um Andy kümmern. Und um Stefan, denn in einem Punkt hatte Peter recht gehabt, ohne es auch nur zu ahnen: sie konnten beide nichts dafür. Es gab sie nicht mehr. Andy und Stefan waren längst tot, gestorben spätestens gestern morgen im See, und was an ihrer Stelle aus dem Wald gekommen war, waren... Kreaturen gewesen. Lebens große, täuschend echt nachgeahmte Puppen, die die Rolle der Lebenden übernommen hatten, für den letzten Tag. Vorsichtig ließ sie seinen Kopf zu Boden gleiten, stand auf und ging zum Kofferraum des Wagens. Das Schloß war nicht eingerastet, so daß sie nicht in die Verlegenheit kam, es irgendwie aufbrechen zu müssen. Sie klappte den Deckel hoch, schlug die zerschlissene Decke beiseite, die darunter lag, und griff mit beiden Händen zu. Die Anstrengung, den schweren Zwanzig-Liter-Kanister hochzustemmen, überstieg beinahe ihre Kräfte, aber sie schaffte es. Liz arbeitete rasch und sie ging sehr methodisch vor. Sie verschwendete nicht viel Benzin an den Wagen, eine kleine Pfütze unter dem Tank war vollkommen ausreichend, um den Jaguar in ein Fünfzigtausend-Mark-Feuerwerk zu verwandeln. Der scharfe Geruch des Benzins überdeckte den Blutgestank, als sie eine dünne, aber nicht unterbrochene Spur um den Wagen her umzog, ein wenig mehr Benzin auf Peters Leichnam und dann sehr viel mehr auf den des Mädchens kippte. Der Kanister war zur Hälfte geleert, als sie das Scheunentor erreichte. Sie blieb stehen und sah zum Haus hinüber. Es stand da, eingehüllt in eine Säule aus Dunkelheit wie in schwarz leuchtenden, trägen Nebel, ein kleines, böses, gedrungenes Etwas, dessen Konturen nicht ganz genau zuerkennen waren. Sie lösten sich auf in der Schwärze, die über dem Hof lastete. Es war ihr Traum. Es war das, was sie in ihrem Traum ganz am Beginn dieser Terror-Story gesehen hatte. Nur etwas fehlte noch.

Rasch, aber ohne Hast, machte sie weiter. Sie zog die Benzinspur ein kleines Stückchen aus der Scheune heraus, bis sie begriff, daß der strömende Regen den Treibstoff schneller wegwusch, als sie ihn aus kippen konnte. Nun gut - dort drinnen war so gut wie hier draußen. Es spielte keine Rolle, wo sie starb. Sie ging in die Scheune zurück und leerte den ganzen Rest aus dem Kanister unmittelbar hinter der Tür aus. Der Benzingestank war so stark, daß er ihr fast den Atem nahm. Sie warf den leeren Kanister achtlos fort, sah noch einmal zum Haus hinüber und ging zum Jaguar zurück. Auf der anderen Seite des Hofes, im Haus, klappte eine Tür, als sieden Wagen erreichte. Sie öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, klappte das Handschuh fach auf und fand die angebrochene Packung Zigaretten, die sie bei ihrer letzten Heimfahrt aus Schwarzenmoor hineingeworfen hatte. Ihre Finger zitterten ganz leicht, als sie den Zigarettenanzünder in die Fassung drückte.

Schritte näherten sich der Scheune. Schwere, stampfende Schritte, viel zu wuchtig für die eines Menschen, ein dumpfes, unendlich kraftvolles Stampfen, die Schritte von etwas ungeheuer Großem, ungeheuer Starkem und ungeheuer Bösem.

Sie wartete, bis Stefans Schatten unter der Tür erschien, ehe sie die Zigarette in Brand setzte.

Er blieb stehen, als er die Tür erreichte. Wenn er den Benzingeruch überhaupt bemerkte, dann reagierte er nicht darauf, denn er stand so perfekt in der Mitte der Benzin lache, als hätte sie selbst ihn dort plaziert. Aber Liz bezweifelte, daß er die Gefahr registrierte, in der er schwebte. Soviel sie wußte, hatte es vor sechshundert Jahren noch kein Superbenzin gegeben.

»Du wolltest fort?« fragte er. Seine Stimme war kalt, wie aus uraltem Stahl gehämmert. Obwohl sie ihn noch immer nur in Form eines flachen Schattens erkennen konnte, spürte sie seinen Blick, den Blick aus schwarzen, lichtlosen Augen, in denen keine Pupillen mehr waren.

»Nein«, antwortete sie. »Ich habe auf dich gewartet.«

Stefan schwieg. Der Schatten bewegte den Kopf, blickte auf den Wagen, einen Moment lang auf Peters Leichnam, dann auf den des Mädchens.

»Hast du sie getötet?«

Liz antwortete nicht, und er lachte leise. »Das ist gut. Du hast mir Arbeit abgenommen. Ich wußte, daß du tapfer bist. Trotzdem habe ich dich unterschätzt. Beinahe wärst du mir wirklich entkommen, weißt du das? Aber es hätte nichts genutzt.«

»So?« fragte Liz. Sie sog an ihrer Zigarette, die in heller Rotglut aufflammte. Der Rauch brannte wie Feuer in ihren Lungen.

Der Schatten unter der Tür schüttelte den Kopf. »Niemand entkommt mir, den ich einmal zum Opfer auserkoren habe.«

Wieder sog sie an ihrer Zigarette, zog den Rauch so tief in die Lungen, daß ihr schwindelig wurde, und trat einen Schritt auf ihn zu. »Du bist nicht mehr Stefan«, sagte sie.

Der Schatten schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und dieses Ding da ...« Sie deutete auf Andy und nutzte die Gelegenheit, einen weiteren Schritt auf ihn zuzumachen. »... ist nicht mehr Andy.«

»Nein.«

»Was hast du mit ihnen gemacht?« fragte Liz.

»Sie sind da, wo auch du bald sein wirst.«

»Sie sind tot.«

»Nein.« Das entsetzliche Ding in Stefans Gestalt lachte leise und meckernd. Es war ein Laut, der Liz einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Wenn es einen leibhaftigen Teufel gab, dachte sie, und wenn er lachte, dann mußte es sich so anhören. »Es gibt keinen Tod, Opfer. Nicht in dem Sinn, in dem ihr das Wort benutzt.«

»Und was kommt danach?«

»Nichts, was du verstehen würdest«, kicherte das DING. »Aber es ist anders, als ihr denkt. Völlig anders.« Es kicherte, schrill und ausdauernd, als hätte es einen guten Witz gemacht, dann konnte sie spüren, wie seine Stimmung jäh um schlug.

»Es ist soweit«, sagte das Etwas, das einmal Stefan gewesen war. »Aber ich bin kein Unmensch. Du hast noch Zeit, deine Zigarette zu rauchen - das ist doch bei euch Sitte, nicht?«

»Ja«, sagte Liz. »Aber es ist nicht nötig. Ich wollte mir sowieso das Rauchen abgewöhnen, weißt du?«

Und damit schnippte sie ihm die Zigarette genau vor die Füße.

Sie hatte sich noch nie im Leben so sehr auf eine einzige Bewegung konzentriert, und der Wurf war so perfekt, wie er nur sein konnte: die brennende Zigarette beschrieb eine mathematisch exakte Parabel, ein winziger Stern, der eine Spur aus rot glühenden kleinen Funken hinter sich herzog und dessen Bahn exakt zwischen Stefans Beinen endete.

Und trotzdem dachte sie für einen kurzen, entsetzlichen Moment, daß alles vergebens gewesen sein könnte, denn das Benzin fing kein Feuer. Die Zigarette rollte zur Seite, ein hörbares Zischen erklang, und nur ein einzelnes, fingernagelgroßes blaues Flämmchen zischte hoch. Der lehmige Boden hatte das Benzin aufgesogen, oder es war verdunstet, oder Stefans Magie machte ihren Angriff unwirksam.

Stefan lachte leise - In seinen schwarzen Tieraugen war ein spöttisches Glitzern, als er sich vorbeugte und die Hand nach der Zigarette ausstreckte.

Dann explodierte er.

Alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, aber wieder sah Liz jedes noch so winzige Detail mit fast übernatürlicher Schärfe. Das kleine blaue Feuerkind zwischen seinen Füßen wuchs zu einer brüllenden, grellweißen Stichflamme, die sich seiner ausgestreckten Hand entgegen warf und sie verschlang, seinen Arm, seine Schulter und dann seinen ganzen Körper einhüllte und sich brüllend immer noch weiter in die Höhe wälzte, bis sie fast gegen das Scheunendach stieß. Gleichzeitig breitete sich ein Teppich aus blau weißen, zischenden Flammen rings um ihn auf dem Boden aus, und auch aus Stefans Körper selbst schien Feuer zu brechen, als brächte die Hitze irgend etwas in ihm zum Explodieren. Seine Gestalt verschwamm, wurde scheinbar durchsichtig und verschwand schließlich hinter einem Mantel aus grellweißem Licht. Die Hitzewelle traf sie wie ein Faustschlag und ließ sie zurücktaumeln. Liz schrie auf, riß schützend die Arme vor das Gesicht und wankte zur Seite, weg von Stefan, weg vom Feuer und vor allem weg vom Wagen. Eine kerzengerade Feuerspur raste auf Andys Leichnam zu, ließ ihn hell auflodern und jagte weiter, im rechten Winkel auf Peter und den Jaguar los, und auch über ihr unter dem Dach brannte es jetzt schon. Die Hitze nahm ihr den Atem. In ihren Lungen schien plötzlich nur noch flüssiges Feuer zu sein, keine Luft mehr, und sie konnte nicht mehr richtig sehen. Das Innere der Scheune verwandelte sich in ein Muster aus abgrundtief schwarzen Löchern und Bereichen unerträglich gleißender Helligkeit, von unsichtbaren Fäden tödlicher Hitze durchwoben.

Sie vergeudete ihr letztes bißchen Atemluft zu einem grellen Schrei, taumelte fort vom Wagen und dem brennenden Bereich unter der Tür und wunderte sich ein wenig, daß sie noch lebte.

In das Brüllen der Flammen mischte sich jetzt ein Schrei;ein unglaublich qualvolles, kreischendes Wimmern, das das Ding ausstieß, das unter der Tür brannte. Der Stefan-Wechselbalg lebte noch, hatte sich in ein zuckendes tobendes Bündel aus Schwärze verwandelt, das hinter einer Mauer aus Licht und Hitze waberte. Laute aus der tiefsten Hölle drangen an Liz' Ohr. Der Körper des Ungeheuers schien sich zu verzerren, verlor seine Form und war jetzt nicht mehr menschlich. Er glich nichts, was Liz jemals gesehen hatte. Alles, was sie hinter dem Vorhang aus zuckenden Flammen erkennen konnte, war ein Bündel aus wabernder blasiger Schwärze, das von Hitze und Licht gefressen wurde. Aber noch war so etwas wie Leben in ihm. Wahnsinnig vor Schmerz und Wut warf es sich hin und her und rollte brennend aus der Benzin lache heraus. Die Bestie versuchte in die Höhe zu kommen, stürzte wieder und schlug in rasender Agonie mit Armen und Beinen um sich. Eines der peitschenden schwarzen Gliedmaßen traf den zweiten Flügel des großen Tor es und stieß ihn auf, wobei es das trockene Holz gleichzeitig in Brand setzte.

Vor Liz klaffte plötzlich eine drei Meter breite Tür in die Freiheit. Sie rannte los.

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