30.

Was geschieht mit mir? dachte sie entsetzt. Großer Gott, was ging hier vor? Was tat man ihr an?! Ihre Hände zitterten. Sie merkte erst, daß sie den Telefonhörer wieder abgenommen hatte, als sie sich herumdrehte und der Apparat scheppernd von seinem Tischchen herunter fiel; der lang gezogene Ton des Freizeichens erlosch und machte einem entnervenden Tuut-tuut Platz. Liz schrie auf, riß den Apparat vom Boden hoch und rammte den Hörer so heftig auf die Gabel, daß sie glaubte, der Apparat müsse zerbrechen. Sie fuhr herum, raste mit zwei, drei weit ausgreifenden Schritten zur Tür - und blieb wieder stehen.

Sie konnte nicht hinaus. Sie konnte nicht hinaus, diesen Raum nicht verlassen, nicht jetzt, nicht jetzt. Es war Mitternacht, die Stunde zwischen zwölf und eins, die Stunde, die den Geistern gehörte, den Nachtmahren und bösem Spuk, und wenn sie dieses Zimmer verließ, das ihre Festung war, würden sie auf sie warten, mit gierig ausgestreckten dreizehn fingrigen Krallen nach ihr greifen, Monster, die der Wald aus gespien hatte, die ...

Ihre Gedanken begannen sich zu verwirren. Sie keuchte, taumelte rücklings durch das Zimmer und fiel der Länge nach über den Telefontisch. Der Apparat fiel ein zweites Mal zu Boden, die Glasplatte des kleinen Tischchens zerbrach mit einem Klirren, das überlaut in ihren Ohren schrillte, und ein neuerlicher, scharfer Schmerz fuhr wie ein Messer durch ihre rechte Hand.

Es war dieser Schmerz, der sie halbwegs in die Wirklichkeit zurück brachte. Das Entsetzen hielt sie noch immer mit eisigen Klauen gepackt, aber sie war sich ihrer Lage jetzt wenigstens wieder bewußt und halbwegs zum Denken fähig. Sie mußte etwas tun.

Stefanie. Ihr Anruf. Ihre Worte: Nur noch drei Tage. Was, zur Hölle, bedeuteten sie? Nur noch drei Tage bis wann!Ganz automatisch suchte ihr Blick den Kalender, der neben der Tür an der Wand hing. Heute war der zweite Juni - nein, der dritte, denn es war ja schon nach Mitternacht -, und in drei Tagen war der sechste? Und? Was bedeutete das alles?! Was war am sechsten Juni? Vollmond?

Sie fuhr hoch, stürzte abermals auf die Knie herab und zerschnitt sich nun auch noch die linke Hand an einem der scharfkantigen Glassplitter, die den Teppich bedeckten. Leise, sinnlose Schreie ausstoßend, taumelte sie zur Tür, prallte wieder zurück, wie ein gefangenes Tier, das in Panik geriet - und fand endlich wieder zu sich selbst zurück.

Sie war in Sicherheit. Solange sie diesen Raum nicht verließ, nicht aus dem Haus ging (nein - nicht auf den Korridor ging, denn dort war etwas, sie wußte nicht, was, aber es hatte irgend etwas mit einer Tür zu tun und mit Peter, so sinnlos dieser Zusammenhang schien), solange sie nicht aus dem Zimmer ging, war sie in Sicherheit. Drei Tage...

Drei Tage bis wann?

Keuchend blieb sie stehen, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht und fühlte warmes, klebriges Blut auf der Haut. Als sie die Arme her unternahm und ihre Hände betrachtete, sah sie die blutende Schnittwunde, die ihre Linke verunzierte. Sie biß die Zähne zusammen, sah sich nach etwas um, was sie als Verband benutzen konnte, und ging schließlich zur Bar, um eine der Papierservietten herauszunehmen, ehe sieden Teppich vollends versaute. Sie betete, daß Stefan herunterkommen würde. Gleichzeitig hatte sie Angst davor. Angst vor den Fragen, die er stellen würde. Oder vielleicht gerade davor, daß er keine Fragen stellte - es blieb sich gleich.

Der Schmerz in ihrer Hand wurde zu einem wütenden Pochen, als sie ungeschickt daranging, die Wunde zu säubern. Sie war nicht sehr tief, blutete aber stark und tat gemein weh; möglicherweise würde sie sich entzünden.

Da sie nichts anderes hatte, entkorkte sie ungeschickt eine Whiskyflasche, goß sich etwas von der dunkelbraunen, scharf riechenden Flüssigkeit über die Hand und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als der Schmerz zu jäher Glut aufflammte. Sie hatte keine Ahnung, ob der Alkohol gegen irgendwelche Entzündungskeime half, aber es war wahrscheinlich besser als nichts. Ehe sie die Flasche zurückstellte, nahm sie selbst noch einen kräftigen Schluck - mit dem Ergebnis, daß sie zuerst einen fürchterlichen Hustenanfall bekam und sich anschließend beinahe übergeben mußte, ehe es ihr gelang, den Mund voll hochprozentigen Schnaps herunterzuwürgen. Zum Teufel - das half anscheinend auch nur in Filmen!

Aber immerhin war sie ein ganz kleines bißchen ruhiger, als sie die Flasche zurückstellte und sich herumdrehte. Ihr Herz jagte noch immer, und hinter ihrer Stirn schlugen ihre Gedanken Purzelbäume, aber das Zimmer war von einer beruhigenden Normalität, sah sie von dem zerbrochenen Tischchen und dem völlig verdreckten Teppichboden ab ...

Draußen auf dem Hof bellte Carry noch immer, aber es war jetzt nur noch ein ganz normales Bellen, nicht mehr dieses hysterische Kreischen, das zu einem Gutteil mit schuld an ihrem Beinahe-Zusammenbruch gewesen war. Und während sie lauschte, wurde es leiser und verklang schließlich ganz, als hätte sich das, was der Hund da verbellt hatte, jetzt wieder zurückgezogen. Der Angriff war gescheitert, der Feind zog seine Truppen zurück... es wäre wohl zu schön, um wahr zu sein.

Sie sah auf die Uhr. Nach ihrem Gefühl hatte es Stunden gedauert, aber die Wanduhr behauptete stur, daß seit jenem abrupt unterbrochenen Gespräch noch nicht einmal fünf Minuten vergangen waren, und sie mußte es wohl oder übel glauben. Fünf Minuten - das hieß noch fünfundfünfzig Minuten Geisterstunde, fünfundfünfzig Ewigkeiten, die der Banshee und der Moorhexe gehörten... und die sie in diesem Zimmer eingesperrt war. Fünfundfünfzig Minuten und drei Tage, bis...

Verdammt, bis was!

Sie mußte Stefanie erreichen. Hysterikerin oder nicht, sie mußte wissen, was sie gemeint hatte, und sei es nur, um sich davon zu überzeugen, daß die Kleine wirklich den gehörigen Knall hatte, den sie vermutete.

Sie hob das Telefon auf und hatte bereits die Vorwahl von Hamburg in das Tastenfeld getippt, ehe ihr einfiel, daß sie Stefanies Nummer ja gar nicht kannte - weder sie noch ihren Familiennamen. Enttäuscht ließ sie den Hörer wieder sinken, setzte sich zitternd auf die Couch und versuchte sich einzureden, daß sie nun dabei war, etwas ziemlich Dummes zu tun.

Aber es half nicht - sie mußte einfach wissen, was Stefanie sagen wollte, ehe sie unterbrochen wurden. Und sie wußte auch schon, wie.

Mit ganz bewußt langsamen, bedächtigen Bewegungen ließ sie sich zurück sinken, plazierte das Telefon auf ihren Knien und wählte Gabis Nummer. Es war nach Mitternacht, aber wahrscheinlich waren die beiden sowieso noch wach. Sie konnte sich nicht erinnern, daß Rainer und Gabi jemals vor zwei Uhr morgens schlafen gegangen waren. Und wenn doch - nun, das kam eben dabei heraus, wenn man sich verrückte Freunde suchte. Irgendeine fadenscheinige Erklärung würde sie schon finden, daß Gabi hin unterging und Stefanie an den Apparat holte.

Und dann? wisperte eine dünne böse Stimme hinter ihrer Stirn. Was wirst du tun, wenn sie sich ganz normal meldet, etwas verschlafen und ziemlich verstört klingt und dich fragt, warum, zum Teufel, du sie mitten in der Nacht anrufst? Wenn sie sich an nichts erinnert, weil sie nämlich gar nicht angerufen hat?

Sie verscheuchte den Gedanken, tippte die beiden letzten Zahlen ein und wartete auf das Freizeichen.

Es kam nicht.

Eine geschlagene Minute verging, bis ihr bewußt wurde, daß sie weder ein Freizeichen noch das Tuut-tuut des Besetztzeichens hörte, sondern gar nichts.

Die Leitung war tot.

Ihre Hände begannen wieder zu zittern, und sie spürte, wie schon wieder Hysterie in ihr emporstieg. Mit aller Gewalt zwang sie sich zur Ruhe. Es konnte ein Dutzend normaler Erklärungen geben - allen voran die, daß sie sich schlicht und einfach verwählt hatte.

Mit zitternden Fingern hängte sie ein, nahm den Hörer wieder in die Hand und tippte die Nummer erneut ein, sehr langsam und bedächtig, wobei sie jede einzelne Ziffer leise vor sich hin sagte, ehe sie die Taste drückte.

Das Ergebnis war das gleiche.

Nichts.

Nichts als eine mörderische Stille.

Fast.

Es verging eine Weile, bis sie spürte, daß die Leitung nicht vollkommen still war. Da war ein Knistern.

Ein kaum hörbares Knacken.

Elektrostatische Störungen.

Oder die Laute von großen, weichen Pfoten, die auf tannennadel- und laubbedecktem Waldboden heran schlichen.

»Ruhig«, flüsterte Liz. Ihr Gesicht und ihre Hände waren feucht vor Schweiß. Sie hörte ihr Herz schlagen. »Ganz ruhig. Verlier ... jetzt... nicht... den ... Verstand.« Es half.

Sie hatte es selbst nicht geglaubt, aber es half. Sie beruhigte sich, wenn auch nur ein wenig, aber immerhin weit genug, um ihre Gedanken im Zaum zu halten. Es gab noch genug andere Erklärungen, ehe sie zu Geistern und Gespenstern greifen mußte - zum Beispiel die, daß das Telefon gestört war. Das wäre auch eine Erklärung für das so abrupt unterbrochene Gespräch gewesen.

Natürlich! Warum war sie nicht gleich auf das Nächstliegende gekommen! Liz lächelte nervös, stellte das Telefon zur Seite und angelte nach Stefans Adreßbuch, das zusammen mit dem Apparat zu Boden gefallen war. Hastig suchte sie Ohlsbergs Nummer, tippte sie ein und wartete, bis ihr ein scharfes Klick verriet, daß am anderen Ende abgenommen wurde. Mit einem schadenfrohen Grinsen drückte sie den Daumen auf die Gabel, zählte bis zehn und ließ sie wieder herausschnappen. Gut - ihr Telefon war in Ordnung, aber was besagte das schon? Der nächste Schritt. Mal sehen, ob sie den Gespenstern aus dem See nicht mit ein bißchen Logik beikommen konnte.

Sie wählte die Nummer der Reisezugauskunft am Hamburger Hauptbahnhof, bekam nach wenigen Augenblicken eine Verbindung und entschuldigte sich dafür, sich verwählt zu haben. Auch das Netz nach auswärts war also okay. Das DING hatte also die Leitung nicht durchgebissen. Blieb noch die Möglichkeit, daß nur ein Teil des Netzes zusammengebrochen war, so daß das Haus - oder das ganze Viertel indem Gabi und ihre hysterische Freundin wohnten, nicht zu erreichen war. Nicht besonders wahrscheinlich, aber noch immer ungefähr zehn tausendmal wahrscheinlicher als telefonleitungskappende Sumpf ungeheuer.

Sie stand auf, ging wieder zur Bar und goß sich einen Sherry ein. Das erste Glas leerte sie sofort, mit dem zweiten ging sie zur Couch zurück, trank es dort mit einem Zug aus und holte sich ein drittes. Sie war sich der Tatsache bewußt, daß sie auf diese Weise sehr schnell betrunken sein würde, aber vielleicht war das nicht einmal das Schlechteste, was ihr passieren konnte.

Nur noch drei Tage...

Was, zum Teufel, hatte sie gemeint?

Obwohl sie es nicht wollte, ja, sich sogar dagegen zu wehren versuchte, kehrten die Erinnerungen an die verunglückte Seance in Hamburg zurück. Ganz offensichtlich hatte sich Stefanie weiter damit beschäftigt - natürlich, was hatte sie anderes erwartet? -, und ebenso offensichtlich war sie auf irgend etwas gestoßen. Etwas, das sie - ob nun eingebildet oder nicht - so erschreckt hatte, daß sie mitten in der Nacht hier angerufen hatte, um sie zu warnen.

Wovor?

Sie leerte ihr Glas, ging zur Bar, um es wieder zu füllen (sie war jetzt fest entschlossen, sich zu betrinken, um wenigstens einschlafen zu können), und ließ währenddessen noch einmal jede Einzelheit dieses schrecklichen Abends vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Irgend etwas war geschehen, was das Mädchen zutiefst erschreckt hatte, mehr als sie selbst, obwohl sie doch eigentlich die Betroffene war, denn sie hatte das Erlebnis ja bereits vergessen - oder verdrängt? Aber was? Was? Es hatte nichts mit dem wandernden Glas zu tun, jedenfalls nicht unmittelbar, das wußte sie. Es war etwas anderes, etwas, das sie vorher getan oder gesagt hatte, das... Rum hold.

Plötzlich war Liz sicher, daß es das war. Stefanies Interesse war erwacht, als sie von Rum hold gehört hatte, jener untergegangenen Stadt, auf deren Ruinen Schwarzenmoor und ihr eigenes Haus angeblich erbaut worden waren. Liz schauderte. Macht es Ihnen nichts aus, auf einem Friedhof zu leben? Das - so ungefähr wenigstens - waren Stefanies Worte gewesen. Sie hatte sie nicht ernst genommen, aber sie erinnerte sich jetzt, daß die Bemerkung sie doch mit einem spürbaren Schaudern erfüllt hatte. Sonderbar, daß sie das alles schon fast vergessen gehabt hatte, obwohl es doch gerade erst zwei Tage her war. Es mußte wohl doch so sein, daß etwas in ihr die ganze Szene verdrängt hatte. Sie leerte auch ihr viertes Glas, füllte es erneut und spürte, daß der Alkohol bereits zu wirken begann, als sie sich umdrehte und vorsichtig damit zum Tisch zurückbalancierte. Aber sie setzte sich nicht, sondern trat nach kurzem Zögern zum Bücherregal, ließ den Finger unschlüssig über die Rücken der sorgsam aufgereihten Bände gleiten und zog schließlich einen großformatigen, in steinhart gewordenes Schweinsleder gebundenen Band hervor, einen historischen Atlas, den Stefan irgendwann einmal auf einer Auktion erstanden hatte. Behutsam trug sie ihn zum Tisch zurück, breitete ihn aus und trank einen weiteren Schluck Sherry, ehe sie zu blättern begann.

Sie fand sehr schnell, wonach sie gesucht hatte, nämlich eine Karte der Nordseeküste, wie sie vor hundert fünfzig Jahren gewesen war. Aber Rum hold war nicht darauf. Die Küste erschien ihr unverändert - sie fand Hamburg und Bremen und ein Dutzend anderer Städte. Natürlich gab es ein paar Unterschiede - so fand sie zum Beispiel weder Schwarzenmoor noch die Straße, die hierher führte, obschon beides eindeutig älter als hundert fünfzig Jahre war - aber im großen und ganzen war es eher enttäuschend. Die große Mandränke. Nun, dachte sie spöttisch - entweder sie lag noch sehr viel länger zurück, als sie angenommen hatte, oder sie war nicht ganz so groß gewesen, wie Stefanie und Gabi sie hatten glauben machen wollen.

Mit einem enttäuschten Seufzen griff sie nach ihrem Glas.

Es entschlüpfte ihrer Hand.

Liz war schlagartig wieder hellwach. Der kleine Schwips, den sie sich angetrunken hatte, war wie weggeblasen. Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie das Adrenalin in ihren Kreislauf schoß.

Sie war vollkommen sicher: Sie hatte das Glas nicht angestoßen. Es war kein Ungeschick gewesen, kein bloßes Danebengreifen.

Das Glas war zwischen ihren Fingern hindurch geschlüpft, wie ein lebendes Wesen, das vor ihrer Berührung floh!

Vollkommen erstarrt saß sie da, die Hand noch immer wie in einer grotesken Pantomime ausgestreckt, aber reglos, ihre Finger zitterten nicht ein bißchen, obwohl sie vor Angst und Entsetzen am ganzen Körper bebte.

Dies verdammte Glas war einfach vor ihrer Berührung zurückgewichen! Liz nahm all ihren Mut zusammen, beugte sich vor und griff erneut nach dem Sherryglas.

Es machte einen eleganten Bogen nach rechts, stieß gegen den aufgeklappten Atlas und kam zitternd zur Ruhe. Es bewegte sich von selbst, ohne ihr Zutun, wie... in jener Nacht in Hamburg.

Liz schrie auf, warf sich vor und griff mit beiden Händen nach dem Glas. Es entschlüpfte ihren Fingern, wich nach rechts aus, wobei es eine unregelmäßige rote Spur aus Sherry wie Blut hinter sich herzog, schlug einen Haken in die entgegengesetzte Richtung, als Liz nach griff, drehte eine Pirouette, hob sich für einen kurzen Moment zentimeterhoch in die Luft und zerbarst, wie von einer unsichtbaren Faust getroffen. Blutroter Sherry spritzte auf den Tisch, besudelte das Buch und fiel in breiten Strömen auf den Teppich, wo er sich mit Liz' echten Blutflecken vermengte. Im gleichen Moment flog die Tür auf, und Stefan betrat das Zimmer. Er sah verschlafen und übernächtigt aus, aber auch sehr wütend, und er brauchte nicht einmal eine Sekunde, um die ganze Situation zu erfassen und völlig falsch zu deuten. »Was, zum Teufel...«, begann er, brach mit einem hörbaren Schnauben ab und stapfte drei, vier Schritte auf sie zu, ehe er wieder stehen blieb. »... geht hier vor?« führte er seinen begonnenen Satz zu Ende.

Liz' Antwort bestand, nur aus einem trockenen, fast krampfhaften Schluchzen. Sie war auf die Knie herabgefallen, als sie nach dem Glas gesprungen war, und so saß sie noch da, vollkommen außerstande, irgend etwas anderes zu tun als zu schluchzen und seinen Namen zu stammeln.

»Was das bedeutet, will ich wissen!« fauchte er, vollkommen ohne jedes Mitgefühl oder irgendeine andere Regung als Zorn. »Was treibst du hier, mitten in der Nacht? Spielst du Hausverwüstung?« Er machte eine ärgerliche Geste auf den zerschmetterten Telefontisch, trat einen weiteren Schritt vor und erbleichte sichtbar, als sein Blick auf das Buch und die roten Sherryflecken darauf fiel.

»O verdammt! Jetzt sieh dir nur an, was du getan hast! Hast du überhaupt eine Ahnung, was dieses Buch kostet?« Mit einer wütenden Bewegung beugte er sich vor, riß den Atlas an sich und wischte die Sherryflecken mit dem Ärmel seiner Pyjamajacke fort. »Kannst du denn nicht aufpassen! Du...«

»Stefan«, wimmerte Liz. »Hilf mir. Bitte... ich ...«

In Stefans Gesicht ging eine spürbare Veränderung vor sich. Einen Moment lang blickte er noch voller kaum verhohlenem Zorn auf sie herab, aber dann mischte sich Betroffenheit in seine Wut; er klappte das Buch zu, warf es achtlos auf die Couch und beugte sich hinab, um Liz auf die Beine zu helfen.

»Großer Gott, was ist denn passiert?« fragte er erschrocken.

Liz wollte antworten, aber sie konnte es nicht. Ein mühsames, krampfartiges Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.

Mit aller Kraft preßte sie sich an ihn, klammerte die Hände um seinen Hals und ließ erst los, als er ihren Griff mit sanfter Gewalt sprengte und sie ein Stück weit von sich schob, um ihr ins Gesicht blicken zu können.

»Was war denn los?« fragte er noch einmal, aber jetzt sehr viel sanfter, wieder mit seiner normalen Stimme, wieder der Stefan, den sie kannte, der sie vor all dem Grauenhaften und Entsetzlichen beschützen würde.

»Ich... das Telefon«, stammelte sie. »Das Telefon hat geklingelt und ... und ...« Wieder kam sie ins Stottern, aber jetzt wartete Stefan geduldig, bis sie sich weit genug gefangen hatte, um von sich aus weiter zusprechen.

»Es war Stefanie«, begann sie. »Dieses Mädchen aus...«

»Aus Hamburg?« fiel ihr Stefan ins Wort. »Gabis verrückte Freundin? Was, um Gottes willen, wollte sie mitten in der Nacht?«

Liz zog schniefend die Nase hoch, löste sich vollends aus seinem Griff und fuhr sich ein paar mal mit der Hand durch das Gesicht, ehe sie sich wieder weit genug unter Kontrolle hatte, um weiter reden zu können. Stefan runzelte die Stirn, als er ihre verbundene Hand sah, sagte aber kein Wort, sondern ging schweigend zur Bar, um sich einen Martini zu mixen, während sie erzählte. Als sie fertig war - es dauerte lange, aber er unterbrach sie kein einziges Mal, auch nicht, als sie ein paar mal erneut die Beherrschung zu verlieren drohte -, nippte er ruhig an seinem Glas, hielt ihr einen zweiten Drink hin und zuckte nur die Achseln, als sie ablehnte.

»Das ist... wirklich eine komische Geschichte«, sagte er.

»Komisch?« Liz kreischte fast. »Ich finde sie nicht...«

»Nicht komisch, okay, du hast recht«, sagte Stefan hastig. »Das falsche Wort, ich gebe es zu.« Er blickte auf das herab, was vom Telefontisch übriggeblieben war. »Du bist sicher, daß sich bei Gabi niemand gemeldet hat?«

»Natürlich.«

»Vielleicht ist der Anschluß einfach gestört«, sagte er nachdenklich. »Ich werde morgen jemanden in Hamburg anrufen und darum bitten, daß er einfach mal bei Gabi vorbeischaut. Vielleicht findet sich eine ganz normale Erklärung.«

»Normal?« keuchte Liz. »Und... und das Glas?«

Stefan überlegte einen Moment. »Dasselbe Phänomen wie vor drei Tagen«, sagte er schließlich. »Sonderbar, aber noch kein Grund, die Fassung zu verlieren. Wer weiß«, fügte er mit einem etwas verunglückten Lächeln hinzu, »vielleicht hat diese Stefanie ja recht, und du bist wirklich ein begnadetes Medium. Willst du nicht doch?« Er hielt ihr sein Glas hin, aber Liz lehnte erneut ab.

Stefan seufzte. »Na gut. Heute nacht klären wir das sowieso nicht mehr, nicht wahr? Was hältst du davon, wenn wir wieder ins Bett gehen. Diese Schweinerei hier räumen wir morgen früh auf. Und wenn du unbedingt willst«, fügte er hinzu, wobei Liz spürte, daß er in Wahrheit lieber das genaue Gegenteil sagen wollte, »dann fahren wir morgen noch einmal nach Hamburg und reden mit dieser Stefanie. Und jetzt komm ins Bett. Es ist spät.«

Liz starrte ihn an. Ins Bett? Wie konnte er jetzt an schlafen denken?

Aber er konnte.

Und vermutlich, dachte sie betrübt, hatte er sogar recht.

Sie würden nichts mehr klären, heute nacht. Und auch morgen nicht, in Hamburg. Es war noch Zeit.

Drei Tage.

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