36.

Die Entscheidungsschlacht mit Ohlsberg fand nicht statt. Er kam nicht.

Es war kurz vor acht, als sie am vereinbarten Punkt eintraf, ziemlich genau eine Stunde vor Dunkel werden, aber das einzige, was da war, war die verbrannte Eiche, die wie ein verknorpelter Riesenzeigefinger in den Himmel ragte.

Sie fuhr den Wagen rechts an den Straßenrand, so weit wie es gerade noch ging, ohne daß sie sich am Unterholz den Lack zerkratzte, schaltete den Motor ab und ließ das Verdeck zurückklappen. Ihre Hände zitterten ganz sacht, als sie eine Zigarette aus der Packung nahm und das Feuerzeug aufschnappen ließ. Dabei hatte sie jetzt gar keine Angst mehr;ihre Auseinandersetzung mit dem Was-auch-immer war in ein Stadium getreten, das Angst nicht mehr zuließ. Irgendwie hatte es eine andere, schrecklichere Qualität angenommen, seit der vergangenen Nacht. Aus dem Spiel war Ernst geworden. Banshee-Stefan hatte genug von den harmlosen Streichen; es machte ernst. Trotzdem hatte sie keine Angst. Aber sie war verstörter denn je.

Während des gesamten Weges hier heraus hatte sie versucht, sich einen Schlachtplan zurecht zulegen, aber es war ihr nicht gelungen; im Gegenteil. Mit jedem Kilometer, den sie zurückgelegt hatte, war ihre Verwirrung gewachsen, bis sie sich schließlich fragte, was, zum Teufel, sie überhaupt hier tat.

Sie machte sich keine Illusion: Die Wahrscheinlichkeit, daß sie irgend etwas anderes erreichte, als nur Ohlsberg noch mehr zu reizen, lag irgendwo in der Nähe von Null. Aber vielleicht reichte das ja schon. Die Auseinandersetzung zwischen ihr und Ohlsberg war in den letzten Tagen eskaliert, und der Punkt, an dem einer von ihnen aufgeben mußte, war nicht mehr allzu weit. Und Liz hatte nicht vor, dieser eine zu sein. Trotzdem hatte sie ein sehr ungutes Gefühl, als sie die Zigarette ausdrückte, sich eine neue anzündete und auf die Uhr sah. Zehn Minuten - zehn Ewigkeiten. Aber gut, nach allem auch noch Pünktlichkeit von Ohlsberg zu erwarten, wäre vielleicht ein bißchen viel verlangt. Sie war nicht einmal sehr sicher, ob sie überhaupt wollte, daß er kam.

Sie rauchte auch diese Zigarette zu Ende, schnippte sie der ersten hinterher, dann eine dritte, vierte und fünfte, bis die Packung leer war und der Himmel einen deutlichen Stich ins Graue bekommen hatte.

Die Dämmerung kam, aber Ohlsberg nicht.

Liz wurde immer nervöser. Sie war sich selbst nicht schlüssig, ob sie Ohlsberg überhaupt sehen wollte, aber daßer nicht erschien, steigerte ihre Unruhe noch. Er war so ernst gewesen, so verdammt ernst. Wenn er nicht kam, dann bedeutete das ... Ja, was?

Liz ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. Was war nur mit ihr los? Sie konnte nicht mehr denken, verlor den Überblick. Sie kam sich plötzlich vor wie eine Figur in einem Roman, dessen Autor den roten Faden verloren hatte. Sie tappte blindlings hierhin und dorthin, tat Dinge, die keinen Sinn zumachen schienen, und in ihrem Gedächtnis waren Lücken, nein, gewaltige Löcher, schwarz gähnende Abgründe, in die all die lebenswichtigen Dinge gefallen waren, die sie vergessen hatte. Stefanie. Etwas war mit Stefanie. Das Glas. Wein, der wie Blut über ihre Hand und ein Buch floß, eine Zahl, vielleicht ein Datum, und irgend etwas mit einer Tür, hinter der...

Großer Gott, was war das? Nicht nur die Droge. Etwas lähmte ihr Denken, etwas, das in Eversmoor war, das aber auch hier noch wirkte. Der Störsender war in Aktion, und sie war noch in seinem Bereich. Warum kam Ohlsberg nicht? Was bedeutete sein Fortbleiben? Daß er sie versetzt hatte?

Kaum. Vergessen? Das war noch unwahrscheinlicher.

Zum Teufel, sie würde es herausfinden. Jetzt.

Sie startete den Wagen, trat wütend das Gaspedal durch und schoß mit durchdrehenden Reifen los.

Aus ihrer Verärgerung wurde schiere Wut, bis sie die Stadt erreichte. Sie fuhr die Hauptstraße ganz hinab, wendete am jenseitigen Ortsausgang und parkte den Wagen vor Beldersons Laden, ohne besonderen, Grund, nur aus reiner Gewohnheit. Sie parkte immer hier. (Aber es gab sehr wohl einen Grund. Etwas war mit Belderson, das...) Ganz plötzlich fiel ihr ein, daß sie ja nicht einmal wußte, wo sie Ohlsberg suchen sollte. Sie wußte nicht, wo er wohnte, so banal war das. Eine Zeit lang blieb sie einfach dort stehen, mit laufendem Motor, die Hände so fest um das Lenkrad geklammert, als wäre es ihr letzter Halt in der Wirklichkeit. Sie beobachtete die wenigen Menschen, die auf der Straße waren. Es gab nichts Besonderes an ihnen, nichts Auffälliges, nichts außergewöhnlich Negatives oder Fremdes. Selbst ihre Kleidung unterschied sich im Grunde nicht von der der Menschen in Hamburg oder Frankfurt oder einer x-beliebigen anderen Stadt. Sicher - die Männer trugen schwere schwarze Arbeitsjacken, und die Gesichter und Hände der Frauen waren vielleicht ein wenig derber, aber diese Unterschiede waren minimal; Nuancen, mehr nicht. Und doch konnte sie die Feindseligkeit spüren, die ihr entgegen schlug. Wie eine Mauer.

Warum? dachte sie. Warum hassen mich diese Menschen? Was habe ich ihnen getan? Natürlich fand sie keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht gab es keine. Vielleicht war das, was sie als Haß zu empfinden glaubte, nichts weiter als Vorsicht, Vorsicht, die diese Menschen ihr - oder besser gesagt der Welt, die sie repräsentierte, der Welt des Draußen, - entgegen brachten. Vielleicht hatte Stefan recht und sie unrecht, und sie mußte einen Kompromiß schließen und sich anpassen.

Aber das Wort Kompromiß, dachte sie, bedeutete nichts anderes als aufgeben. Zumindest in der Form, in der Ohlsberg es verstand. Ohlsberg. Da war etwas mit... Oh, verdammt. Sie begann schon zu vergessen, warum sie hier war! Sie mußte sich beeilen. Ihre Zeit lief ab. Der Countdown: X minus einen Tag und ein paar Stunden. Noch einmal zögerte sie. Ohlsberg hatte sie nicht hier in Schwarzenmoor treffen wollen, und er schien einen verdammt triftigen Grund dafür gehabt zu haben, aber er war nicht zum vereinbarten Treffpunkt erschienen. Vielleicht brachte sie ihn in Schwierigkeiten, wenn sie nach ihm fragte, aber verdammt noch mal, was kümmerte sie das? Außerdem brauchte sie dringend eine Zigarette.

Sie stieg aus, angelte ihre Handtasche vom Beifahrersitz und sah sich um. Die hereinbrechende Dämmerung ließ die Schatten dunkler werden und die Farben verblassen. Schwarzenmoor wirkte düsterer denn je. Zum ersten Mal glaubte sie zu wissen, woher der Ort seinen Namen hatte, zum ersten Mal sah sie ihn so, wie er vielleicht wirklich war. Alles schien ... verändert. Die niedrigen Häuser rechts und links der kopfsteingepflasterten Straße erschienen ihr noch abweisender und böser als zuvor. Zwischen den schmalbrüstigen Häusern lastete Kälte, sie konnte sie fast sehen.

Einbildung? Kaum. Es war wohl eher so, daß der Terror ihre Sinne geschärft hatte. Sie blickte jetzt hinter die Dinge, sah, was andere vielleicht nicht sahen, nicht sehr deutlich und auch noch lange nicht vollständig. Der Vorhang des Geheimnisses hatte sich nur einen Zipfel weit gelüftet. Aber was sie sah, war schrecklich genug. Sie ging in den Laden. Drinnen war es kühl, wie immer. Und schattig. Aber zum ersten Mal empfand sie diese Schatten nicht als wohltuend, sondern - wenn schon nicht als bedrohlich -, so doch zumindest als unangenehm. Etwas war hier im Raum, im Haus, in der Stadt. Etwas Finsteres.

Etwas wie das DING auf Eversmoor, nicht das Böse selbst, aber seine Ausstrahlung, wie ein übler Geruch.

»Frau König?«

Liz unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Ausruf. Sie hatte Belderson nicht bemerkt, als sie den Laden betreten hatte. Nein, verdammt; sie war absolut sicher, daßer nicht dagewesen war!

»Was führt Sie zu mir, so spät? Haben Sie etwas vergessen?«

Was war das? dachte sie schaudernd. Geschäftsmäßige Freundlichkeit? Oder war da in seiner Stimme mehr, Tadel vielleicht, ein akustisches Kopfschütteln darüber, daß sie es gewagt hatte, mit den ungeschriebenen Regeln zu brechen und zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit in die Stadt zukommen?

»Ich... habe nichts vergessen«, antwortete sie nach sekundenlangem Zögern. Sie atmete hörbar ein, warf die Tür hinter sich ins Schloß und ging zur Theke. Mehr denn je erschien ihr die polierte Holz platte nicht wie ein Ladentisch, sondern wie eine Barriere, eine schmale und doch unüberwindliche Schlucht zwischen ihrer Welt und seiner. »Zigaretten«, sagte sie. »Ich brauche nur... nur eine Packung Zigaretten. Menthol, bitte.«

Beldersen blickte sie einen Moment lang ausdruckslos an, dann drehte er sich um, nahm ein Päckchen Mentholzigaretten aus dem Regal und reichte es ihr. Liz riß es auf, zog mit zitternden Fingern eines der kleinen weißen Stäbchen heraus und zündete es an. Der Rauch schmeckte nicht nach Menthol, sondern schal und bitter, die erfrischende Wirkung blieb aus. Trotzdem nahm sie einen weiteren, gierigen Zug, ehe sie sich mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln wieder an Beldersen wandte. »Ich komme nicht, um etwas zu kaufen«, sagte sie.

»Womit kann ich Ihnen sonst helfen?« Auf Beldersons Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Er lächelte freundlich, aber das tat er immer. Dieses Lächeln gehörte so zu ihm wie die schmierige braune Kittelschürze und die dünne Narbe über dem Auge. Wie seine verbrannte Hand.

»Ich... eigentlich suche ich Herrn Ohlsberg«, sagte Liz.

»Der ist nicht da«, antwortete Belderson. So schnell, dachte Liz, als hätte er die Frage erwartet.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß. Aber vielleicht können Sie mir sagen, wo er wohnt. Ich kann schlecht an alle Türen klopfen und nach ihm fragen, oder?« Die scherzhafte Bemerkung verpuffte wirkungslos. Sie war auch nicht sehr gut gewesen. Liz zog nervös an ihrer Zigarette.

»Sie verstehen mich nicht«, antwortete Belderson ruhig. »Er ist nicht im Ort.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich wüßte es, wenn er da wäre«, sagte Belderson. »Soviel ich weiß, wollte er zu Ihnen hin ausfahren, heute morgen. Ihr Mann hat angerufen.«

Liz nickte. »Er war da. Aber wir... er wollte sich noch einmal mit mir treffen, und...«

»Er wird seine Gründe haben, wenn er nicht gekommen ist«, sagte Belderson, als sie nicht weiter sprach. Liz zögerte. Sein Blick, seine dreimal vermaledeite Ruhe machten sie nervös. Fast rasend. Woher wußte er so genau, daß Ohlsberg nicht im Ort war? »Vielleicht können Sie mir auch helfen«, sagte sie schließlich. »Sicher sogar.« Belderson nickte und stützte sich mit den Hand ballen auf der Theke auf. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie groß er wirklich war. Ein Mann wie er, dachte sie, sollte Schmied oder Holzfäller sein, nicht Krämer.

»Bitte.«

»Sie kennen sich doch in der Umgebung aus«, begann sie ungeschickt.

Belderson nickte. Auf seinem Gesicht war noch immer nicht zu erkennen, was er dachte, aber in seinen Augen schien ein winziges, mißtrauisches Feuer aufzuglühen. In der blassen Beleuchtung des Ladens wirkten sie gelb.

Unsinn, dachte sie, wütend auf sich selbst. Ich beginne schon, an jeder Ecke eine Verschwörung zu wittern. »Ich ...« Sie lächelte. »Es wird Ihnen sicher albern vorkommen, aber ich wollte Ohlsberg fragen, ob es so etwas wie ein Gemeindebuch gibt.«

»Ein Gemeindebuch?« Das mißtrauische Funkeln in seinen Augen wurde stärker. Ein ganz kleines bißchen wirkte er plötzlich gespannt. Nein - nicht gespannt: angespannt, wie ein lauerndes Raubtier.

Liz lächelte entschuldigend und sog an ihrer Zigarette. »Ein Buch, in dem alles aufgeschrieben wird, was hier so geschieht. Eine« - sie suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort - »eine Chronik.«

»Eine Chronik?« Belderson runzelte die Stirn und überlegte einen Moment lang angestrengt. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube kaum. Hier geschieht nicht oft etwas. Und wenn doch«, sagte er lächelnd und zum ersten Mal in anderem als geschäftsmäßig freundlichem Ton, »dann merken es sich die Menschen auch so. Je weniger geschieht, desto aufregender ist das, was geschieht«, sagte er.

Liz lächelte pflichtschuldig. »Vielleicht macht das die Sache noch einfacher«, sagte sie. »Es geht um unseren Hof. Besser gesagt, um das alte Gesindehaus. Es ist irgendwann einmal niedergebrannt, glaube ich. So vor dreißig Jahren«.

»Zweiunddreißig«, sagte Belderson.

Es fiel Liz nicht einmal schwer, Überraschung zu heucheln. »Sie wissen davon?« fragte sie.

»Natürlich. Es war...« Er suchte nach Worten. »... eine aufregende Sache, wissen Sie. Wie ich schon sagte - es geschieht nicht viel, aber was geschieht, das merken sich die Leute. Und ich bin da keine Ausnahme. Das Haus brannte damals nieder. Es war schlimm.«

»Kam ... jemand zu Schaden?« fragte Liz vorsichtig. Belderson nickte. »Eine Frau«, sagte er. »Eine junge Frau. Sie hat als Magd auf dem Hof gearbeitet. Es gab eine Menge Gerüchte damals, aber...«

»Was für Gerüchte?« unterbrach ihn Liz.

»Gerüchte eben. Wenn irgend etwas geschieht, was man sich nicht erklären kann, dann gibt es immer Gerüchte, wissen Sie. Ist das da, wo Sie herkommen (und hingehören, sagte sein Blick), nicht so?«

»Doch. Es ist ganz genauso. Trotzdem würde es mich interessieren, was für Gerüchte es waren.«

»Man sagt«, erklärte Belderson mit überraschender Offenheit, »daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Das Mädchen soll ermordet worden sein. Aber es konnte nie bewiesen werden.« Das war dasselbe, was Peter gesagt hatte. Ein Mord. Aber gut - was war so schlimm daran?

Es war dreißig Jahre her.

»Hat die Polizei die Sache nicht untersucht?«

»Selbstverständlich. Sehr gründlich sogar, aber es ist nichts Verdächtiges dabei herausgekommen. Das Haus brannte bis auf die Grundmauern ab, aber das wissen Sie ja. Wenn an diesen Gerüchten irgend etwas dran ist und wenn es Beweisstücke gegeben hat, dann sind sie verbrannt. Die Leute hatten genug zu tun, den Hof zu retten. Aber ich persönlich glaube nicht, daß es ein Verbrechen war.«

»Weiß man, wie es zu diesem Feuer kam?«

Belderson schüttelte den Kopf. »Diese Häuser brennen sehr leicht«, sagte er. »Und wenn sie einmal richtig brennen, bleibt nicht mehr viel übrig, was man untersuchen kannte.«

Er lächelte wieder, richtete sich dann mit einem schlecht unterdrückten Gähnen auf und fragte: »War es das, was Sie wissen wollten?«

Nein, das war es nicht. Noch lange nicht. Trotzdem nickte sie. »Vielen Dank, Belderson. Sie... haben mir sehr geholfen.« Sie lächelte zum Abschied, drehte sich herum und ging in Richtung Ausgang. Und dann spürte sie, wie sich etwas veränderte.

Es war nichts Sichtbares. Ein Verschieben der Dinge hinter den Grenzen der Realität. Irgend etwas ... war plötzlich da, rastete mit einem fühlbaren Ruck ein. Oder etwas verschwand. Aber egal was es war, sie spürte die Veränderung bei Belderson, noch ehe sie sich herumdrehte und ihn ansah.

»Sie hätten nicht kommen sollen«, sagte er ruhig. »Nachdem, was Sie gestern getan haben, ist es nicht sehr klug von Ihnen, hierher zu kommen.«

Es war, als spräche sie jählings mit einem anderen Menschen. Er hatte sich nicht verändert, aber plötzlich war er so wenig der altbekannte Belderson, wie Stefan noch Stefan war. Nur daß sie nicht wußte, welches seiner verschiedenen Gesichter das richtige war. Stand sie jetzt einem Belderson-Banshee gegenüber, oder sah sie ihn nur zum ersten Mal so, wie er wirklich war. Was waren seine Worte? Drohung oder ehrlich gemeinte Warnung?

Sie schwieg sekundenlang. Irgendwie hatte sie das Gefühl, jedes Wort genau überlegen zu müssen.

»Sie wollen mir drohen.«

Belderson schüttelte den Kopf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte beinahe ein bißchen traurig. Und mitleidig. Auf die gleiche, verwirrende Art mitleidig, auf die Ohlsberg sie angesehen hatte, heute morgen im Wald.

»Warum sind Sie so aggressiv?« fragte er.

Liz schürzte die Lippen. »Bin ich das?«

Er nickte. »Sie waren es vom ersten Tag an«, sagte er. »Sie verhalten sich nicht sehr klug, wissen Sie?«

»Ich will mich nicht klug verhalten!« fuhr Liz auf. »Alles, was ich will, ist meine Ruhe. Ich möchte in Frieden dort draußen leben und ...«

Belderson unterbrach sie mit einer geduldigen Bewegung seiner verbrannten Hand. »Sie hätten nicht kommen sollen, wenigstens nicht heute, Frau König«, sagte er sanft. »Die Leute hier sind ziemlich aufgebracht. Die Starbergs haben eine Menge Freunde in Schwarzenmoor.«

»Und wir nicht.«

»Sie nicht«, bestätigte er ruhig. »Jetzt nicht mehr.« Das war es also - natürlich, was hatte sie erwartet? Wahrscheinlich gab es in Schwarzenmoor kein anderes Gesprächsthema mehr, seit gestern.

»Ich will nicht darüber reden«, sagte sie grob. »Ich hatte meine Gründe, es zu tun.«

»Ich weiß«, sagte Belderson. Es klang, als wüßte er es wirklich. Als wüßte er ganz genau, warum sie es getan hatte. Was geschehen war.

Liz starrte ihn zwei, drei endlose Sekunden lang wortlos an. Es war unlogisch, nach allem, was geschehen war, aber irgend etwas sagte ihr, daß er es ehrlich meinte. So wie Ohlsberg am Morgen. Ohlsberg, der verschwunden war. Der nicht zurückgekehrt war von seinem Besuch auf Gut Eversmoor.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie.

»Sie warnen.« Belderson faltete die Hände auf der Tischplatte und starrte sekundenlang nachdenklich an ihr vorbei gegen die Wand. »Sehen Sie, Frau König, ich bin der Meinung, daß wir uns aussprechen sollten. Sie und ich. Sie sind jetzt seit einem halben Jahr hier, nicht?«

»Das wissen Sie ebenso gut wie ich.«

»Ein halbes Jahr«, fuhr er fort, »ist keine lange Zeit. Aber es ist auch lang genug, um sich einzuleben. Oder es zumindest zu versuchen, finden Sie nicht?«

Er auch? Verdammt, hatte sie mit Ohlsberg nicht genug Feinde? Er war der einzige in diesem elenden Kaff, dem sie noch ein letztes bißchen Menschlichkeit zugebilligt hatte! »Ich habe es versucht, und...«

»Nein, Frau König, das haben Sie nicht«, widersprach er sanft. »Sie haben versucht, den Leuten hier Ihre Weise zu leben und zu denken aufzuzwingen. Vom ersten Tag an.« Er sagte deutlich: den Leuten hier, nicht uns. Der Unterschied erschien ihm wichtig. »Aber das stimmt doch gar nicht! Ich...«

»Ich weiß, daß Sie glauben, Sie hätten sich Mühe gegeben«, fuhr Belderson -, oder wer immer es war, mit dem sie sprach - ungerührt fort. »Aber das stimmt nicht. Sehen Sie, niemand hier verlangt von Ihnen, daß Sie so leben, wie wir es für richtig halten. Ihre Art zu denken und zu handeln gefällt der Mehrzahl der Menschen hier in der Stadt nicht besonders. Aber es ist Ihr Leben. Leben Sie es so, wie Sie glauben, daß es richtig ist. Und lassen Sie ihnen ihr Leben. Sie sind dort draußen auf Ihrem Hof weit genug weg von Schwarzenmoor, daß Sie sich nicht gegenseitig in die Quere kommen.« Liz war für einen Moment sprachlos vor Erstaunen.

»Sie... Sie wollen mich auf den Arm nehmen, wie?« sagte sie dann. Belderson schüttelte den Kopf. »Ich wollte, es wäre so. Ich weiß, daß Sie glauben, ich wäre Ihr Feind, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil - ich bin Ihr Freund.«

Liz lachte hell auf. »Mein Freund?« wiederholte sie spöttisch. »Wenn Sie sich als mein Freund bezeichnen, dann möchte ich keine Feinde haben.«

»Aber Sie haben sie«, sagte er ruhig. »Vielleicht noch nicht, aber wenn Sie so weitermachen, werden Sie Feinde haben. Die Menschen hier sind sehr geduldig, aber Sie vergessen nie. Sie haben nach Ohlsberg gefragt. Er hat gestern seinen ganzen Einfluß auf bieten müssen, um Sie zu schützen. Wäre es nach den Starbergs gegangen. ..«

»Das ist es also«, fiel ihm Liz ins Wort. »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß Sie das Thema ansprechen.«

»Natürlich ist es das«, gab Belderson zurück. »Ich verstehe Sie nicht, Frau König. Das Mädchen hat fünfzehn Jahre beiden Starbergs gelebt, und Sie glauben, Sie können daherkommen und es ihnen wegnehmen. Andrea gehört ihnen, begreifen Sie das nicht?«

Liz antwortete erst nach sekundenlangem Schweigen. »Andy ist fast ein erwachsener Mensch«, sagte sie betont. »Sie gehört überhaupt niemandem. Allenfalls ihrem Vater. Und ich kann mir keinen besseren Ort für sie vorstellen. Sie ist da, wo sie hingehört. Bei ihrer Familie.« Warum verteidigte sie das Mädchen noch? Sie hatte längst begriffen, daß es ein Fehler gewesen war, Andy zu holen. Sie hätte einen drei Lichtjahre großen Bogen um sie schlagen sollen.

Belderson seufzte. »Ich zweifle nicht daran, daß es das Mädchen bei Ihnen gut hat«, sagte er ruhig. »Ich gebe sogar zu, daß es ihm draußen auf dem Hof vielleicht besser geht als hier. Aber wie lange?«

»Wie meinen Sie das?«

Plötzlich hatte sie den Eindruck, daß es ihm schwer fiel weiterzusprechen. »Ich will Ihnen nichts vormachen«, sagte er. »Sie wissen, daß vor Ihnen bereits eine andere Familie auf dem Hof gelebt hat. Und Sie wissen auch, daß sie sehr überstürzt weggezogen sind.«

Liz nickte. Endlich begann er, die Katze aus dem Sacke zulassen.

»Diese Leute«, sagte Beldersen, »begingen den gleichen Fehler wie Sie. Sie brachten ihr Leben mit hierher und versuchten es den Leuten hier aufzuzwingen. Es sind keine keulenschwingenden Barbaren, Frau König. Ihre Art zu leben mag anders sein als die Ihre aber es ist ihre Art, begreifen Sie? Machen Sie sich diese Menschen nicht zu Feinden. Es wäre ein Kampf, den Sie nicht gewinnen können. Ohlsberg und ich haben versucht, Ihnen zu helfen, auch wenn Sie es nicht glauben, aber auch unser Einfluß ist begrenzt. Und es gibt Dinge, gegen die auch wir Sie nicht zu schützen vermögen.«

Was war das? dachte Liz. Eine neue Drohung?

»Ich glaube, ich habe in den letzten Tagen einen kleinen Vorgeschmack von diesen Dingen bekommen«, sagte sie vorsichtig. »Aber ich hatte nicht den Eindruck, als ob Sie... als ob irgendwer hier auf meiner Seite stünde.«

Beldersen war nicht im mindesten überrascht. Er gab sich nicht einmal Mühe, Überraschung zu heucheln. »Ich verlange nicht, daß Sie mir glauben«, sagte er. »Aber ich versichere Ihnen, daß wir alle auf Ihrer Seite stehen, vielleicht mehr, als gut ist. Dieses Land ist nicht Ihr Hamburg. Es gibt hier Dinge, die Sie nie verstehen würden.« Liz nickte grimmig. »Eine Banshee zum Beispiel.«

Beldersen antwortete nicht.

»Wie heißt diese Banshee mit Nachnamen?« fuhr Liz fort, als sie begriff, daß sie keine Antwort erhalten würde. »Ohlsberg? Oder Starberg? Oder wie?«

Er seufzte. »Ich habe es versucht, Frau König«, sagte er. »Gott ist mein Zeuge, daß ich versucht habe, Sie zu warnen.«

Liz verzog abfällig die Lippen. »Oh, vielen Dank. Ich werde es mir aufschreiben.« Beldersen starrte sie lange und nachdenklich an, ehe erden Kopf schüttelte. Er lächelte müde, auf die Art, auf die man einem Kind zulächeln mochte, das einfach nicht verstehen konnte, was man ihm zu erklären versuchte.

»Ich weiß nicht, warum ich es tue, obwohl ich genau weiß, wie sinnlos es ist«, sagte er plötzlich. »Aber wenn Sie wirklich Hilfe brauchen, dann kommen Sie zu mir. Wenn es nicht zu spät ist.«

Загрузка...