Die Illusion, sich in einem behaglich eingerichteten Heim zu befinden, zerplatzte wie eine Seifenblase, als sie auf den Korridor hinaustrat und zur Treppe ging. Das Haus war alt, uralt sogar, mindestens zwei- oder dreihundert Jahre, vielleicht sogar mehr. Sein genaues Alter war nicht mehr festzustellen gewesen, und während der letzten dreißig Jahre hatte - mit Ausnahme eines irischen Ehepaares, das das Haus kurz vor ihnen erworben hatte, den Kampf gegen die baufälligen Gemäuer und den unermüdlich nagenden Zahn der Zeit aber schon bald wieder aufgab und fortgezogen war - niemand mehr auf dem Anwesen gelebt.
Entsprechend war sein Zustand gewesen, als sie hier hergekommen waren. Sie hatten zwei Wochen Tag und Nacht geschuftet, um wenigstens einen Teil des ehemaligen Wohnhauses wieder bewohnbar zu machen. Liz erinnerte sich noch gut an die Mischung aus Entsetzen, Unglauben und abgrundtiefer Enttäuschung, die sie gespürt hatte, als sie das allererste Mal hier herausgekommen waren. Sie hatten das Haus gekauft, ohne es auch nur gesehen zu haben. Der Preis war ein Witz gewesen - allein der Grund und Boden mußte das Dreifache wert sein, selbst hier -, und als sie im Büro des Maklers gesessen hatten, da hatte alles sehr einleuchtend logisch ausgesehen. Der Makler hatte kein Hehl daraus gemacht, daß das Anwesen stark renovierungs-bedürftig war, aber sie waren alle drei der Meinung gewesen, daß sich der Kauf schon als Kapitalanlage lohnte.
Trotzdem hatten sie nicht gewußt, daß sie praktisch eine Ruine erworben hatten. Liz war den Tränen nicht nur nahe gewesen, als sie das erste Mal hier herauskamen - sie hatte vor Enttäuschung geweint, und selbst Stefans unerschütterlicher Optimismus hatte einen spürbaren Dämpfer bekommen.
Natürlich hatten sie so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte.
Sie waren beide übermüdet gewesen, denn sie waren die Nacht durchgefahren, um möglichst schnell zu ihrem neuen Domizil zu kommen. Sie hatten die vergangenen Wochen mit praktisch nichts anderem zugebracht, als über ihr neues Zuhause zu reden, es in Gedanken um- und auszubauen und einzurichten, bis sie sich selbst in eine Euphorie hinein gesteigert hatten, die sie etwas nur wenig Kleineres als den Buckingham-Palast erwarten ließ. Und sie waren im Herbst gekommen, an einem diesigen, windig kalten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang. Das Haus war kalt gewesen und dunkel, es hatte durch alle Fenster und Türen gezogen, und die Feuchtigkeit, die jeden Quadratzentimeter des Hauses durchdrang wie einen gewaltigen schmuddeligen Schwamm, ließ mannsgroße Vorhänge aus Spinnweben wie nasse Lappen von Decken und Balken hängen. Den staubigen Geruch nach Alter und Verfall glaubte sie selbst heute noch in der Nase zu haben.
Aber sie hatten es geschafft. Der ersten Enttäuschung waren - zumindest bei ihr - Trotz und kurz darauf ein fast übermächtiges Jetzt-erst-recht-Gefülhl gefolgt. Sie hatten gearbeitet, wie die Wilden gearbeitet: Fußböden und Decken herausgerissen, Wände verputzt und gekalkt, Fenster und Türen gestrichen, Scheiben ausgewechselt und Stromkabel verlegt. Sie hatten Unmengen von Geld und noch mehr Energie in dieses Haus gesteckt. Irgendwann innerhalb dieser ersten vierzehn Tage hatte sie das Gefühl gehabt, daß Stefan und sie sich zu verwandeln begannen, in kalkweiße Gespenster mit entzündeten roten Augen, die nach Farbe rochen, Staub atmeten und sich nur noch mit schnellen, heftigen Gesten bewegten und ständig gereizt waren, weil sie kaum mehr als drei Stunden Schlaf pro Nacht bekamen.
Aber dieses Haus war kein Haus, sondern ein Moloch, ein großer, schweigender Moloch, der ihren Anstrengungen Hohn sprach und Arbeit und Material und Geld und Schweiß schluckte, ohne mehr als nur winzige Spuren davon zurückzulassen. Selbst jetzt noch wirkte es mehr wie eine Ruine als ein von Menschen bewohntes Heim. Ganz objektiv gesehen war es das wohl auch, trotz allem. Selbst in diesem Teil des Hauptgebäudes, auf den sie ihre Anstrengungen in den letzten sechs Monaten konzentriert hatten, waren die Spuren des Zerfalls unübersehbar. Der Putz war an vielen Stellen gerissen oder ganz von der Wand gefallen, so daß die alten, schwarz gebrannten Steine der Grundmauern sichtbar geworden waren. Zwischen den ausgetretenen Fußbodenbrettern sah die Strohfüllung der darunterliegenden Zwischendecke hervor, und die Türen hingen auf gequollen und verzogen in den Angeln. Mit Ausnahme der Schlafzimmertür gab es im ganzen Haus keine einzige, die nicht erbärmlich quietschte, wenn man sie bewegte. Die Leute, die den Hof vor ihnen bewirtschaftet hatten, schienen nicht viel für den Erhalt der Gebäude getan zu haben. Sie hatten die allernotwendigsten Reparaturen ausführen lassen, Strom, fließendes Wasser und ein paar Tiere angeschafft - und das Gut nicht einmal ein Jahr später wieder verkauft. Die wenigen Spuren, die sie vielleicht hinterlassen haben mochten, hatte die Zeit ausgelöscht.
Sie ging in die Küche hinunter und stellte den Wasserkessel auf den modernen Mikrowellenherd, der zwischen dem uralten Kachelofen und der wuchtigen Porzellanspülschüssel vollkommen deplaciert und verloren wirkte. Dann zündete sie sich ihre erste Morgenzigarette an, schlenderte zum Tisch und ließ sich - immer noch in Gedanken versunken - auf den dreibeinigen Schemel am Fenster nieder. Sie fröstelte. Es war kühl in der Küche. In den Ecken nistete noch Feuchtigkeit, und die Sonne hatte noch nicht die Kraft, die Kälte der Nacht vollends zu vertreiben. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und setzte sich so, daß sie die durch das schmale Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen auf dem Gesicht spüren konnte. Ja - für einen Fremden mußte es schwer sein, mit den Menschen hier in Kontakt zu kommen. Sie und die Einsamkeit waren die beiden größten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Der nächste Ort war gute fünf Kilometer entfernt, und dazwischen gab es nichts außer Seen und Wald und Wiesen und Mooren und ein paar kleineren Höfen.
In den ersten Wochen waren sie viel unterwegs gewesen und hatten alle Nachbarn besucht und sich vorgestellt. Aber sie hatten rasch herausgefunden, daß die Menschen hier kaum Wert auf ein freundschaftliches oder auch nur gutnachbarliches Verhältnis zu den neuen Besitzern von Eversmoor legten. Sie waren nicht feindlich, nicht einmal abweisend, aber ihre ganze Art war kühl, von einem über unzählige Generationen weiter vererbten Mißtrauen jeglichem Fremden gegenüber bestimmt. Es gab eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen und den Menschen hier. Sie waren als Fremde gekommen, und sie würden noch sehr lange Fremde bleiben.
Stefan und ihr machte dieses Verhalten nicht allzu viel aus - schließlich waren sie eigens hier herausgezogen, um allein zu sein. Sie hatten Zeit, Monate, Jahre, wenn es sein mußte, und irgendwann einmal würde der Bann brechen. Irgendwann einmal würde es ihnen gelingen, die Kluft zu überbrücken, die sie von den Menschen hier trennte, und sie würden neue Bekannte und vielleicht sogar Freunde finden. Eine Aufgabe, die viel Geduld erforderte, aber sie waren beide bereit, diese Geduld aufzubringen. Es mochte Menschen geben, denen die Isolation hier draußen unerträglich war, die letztlich daran verzweifelten. Vielleicht waren die Vorbesitzer des Hofes solche Menschen gewesen.
Der Wasserkessel erwachte pfeifend zum Leben, und auf der Treppe wurden Stefans Schritte laut.
Sie sah auf, zerdrückte ihre Zigarette im Aschenbecher und ging zum Herd, um den Kessel herunter zunehmen. Sie bückte sich, nahm zwei Tassen und das Glas mit Kaffeepulver aus dem Schrank und suchte nach einem Löffel.
Stefan erschien unter der Tür, ungewaschen, mit einer verstrubbelten Igelfrisur und gespieltem Zorn auf den Zügen. »Was erdreistest du dich eigentlich, Weib«, sagte er theatralisch, »deinen Ernährer auf so unverschämte Weise um seinen wohlverdienten Schlaf zu bringen? Du weißt, was geschieht, wenn man mich reizt!« Er rollte mit den Augen, ließ den Unterkiefer ein wenig herunter hängen und hob die Hände, um ein Frankenstein-Monster zu imitieren.
»Setz dich hin und trink deinen Kaffee«, sagte Liz spöttisch. »Ernährer!« Sie balancierte mit einem Tablett voller Tassen und Teller zum Tisch und setzte es klirrend ab.
Stefan betrachtete stirnrunzelnd das Sammelsurium von Geschirr. »Erwartest du eine Kompanie Soldaten zum Frühstück?«
»Nein. Ich habe nur die kläglichen Überreste unseres Geschirrs zusammengesucht. Wenn du dich endlich dazu aufraffen könntest, den Schrank wieder dahin zuhängen, wo er hingehört...« Sie ließ das Ende des Satzes offen und deutete anklagend auf den Schrank, der immer noch auf dem Fußboden stand und darauf wartete, wieder an seinen angestammten Platz zurück befördert zu werden. Stefan hatte vor vier Wochen damit begonnen, die Küche neu zu kalken und zu streichen. Seitdem standen die diversen Möbelstücke, die zu schwer waren, als daß Liz' sie allein bewältigen konnte, in chaotischer Unordnung auf dem Boden.
Stefan zog den Kopf zwischen die Schultern und tauchte den Löffel in seine Tasse. »Heute nachmittag...«, begann er.
»Heute nachmittag fahren wir in die Stadt«, unterbrach ihn Liz bestimmt. »Du hast es versprochen, vergiß das nicht. Ich muß unbedingt einkaufen. Wir haben kaum noch etwas im Haus.«
Stefan strahlte. »Siehst du! Wenn ich schon einmal etwas tun will, hinderst du mich daran.«
Liz verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort. Sie hatte sich - gezwungenermaßen - mit Stefans seltsamer Art zuarbeiten abgefunden. Was nicht hieß, daß sie alles hin nahm. Sie wußte, daß Stefan alles, was er tat, gut tat, aber er war der chaotischste Mensch, den sie jemals kennengelernt hatte. Es konnte passieren, daß er fünf Dinge gleichzeitig anfing und dann mittendrin aufhörte, um sich einer sechsten Aufgabe zuzuwenden, die er vielleicht auch wieder abbrach und nach Tagen, Wochen oder gar Monaten zu Ende brachte. Oder auch nie. Das schlug sich nicht nur in der Hausarbeit nieder. Bei seiner Schriftstellerei war es dasselbe. Manchmal hämmerte er wochenlang auf seiner Schreibmaschine herum, ohne einen vernünftigen Satz zustande zu bringen, und dann schrieb er in zwei Monaten einen Roman, der seinen Namen unter die ersten zehn auf der Bestseller liste katapultierte. Sie führten seit dem ersten Tag einen zähen, listenreichen Kleinkrieg gegeneinander, in dem einmal er, einmal sie im Vorteil war, ein Grabenkrieg, in dem er seine angeborene Ruhe und seine schon fast ans Phlegmatische grenzende Gelassenheit gegen ihre unruhige Energie und ihre plötzlichen, schnell verrauchten Wutausbrüche ins Feld führte. Wirklich ändern würde sie ihn nie, und im Grunde wollte sie das auch gar nicht. Eigentlich mochte sie ihn so, wie er war. Meistens, jedenfalls.
»Ich sehe nicht ein«, spann Stefan den Faden nach einer Weile fort, »warum du dein Geschirr nicht genauso gut in einen Schrank stellen kannst, der auf dem Boden...« Erbrach ab, als er ihren Blick spürte, hüstelte gekünstelt und wechselte dann abrupt das Thema. »Wieso bist du eigentlich so früh auf?«
Liz zuckte unmerklich zusammen. Seine Worte weckten wieder die Erinnerung an diesen seltsamen, unheimlichen Schrei, den sie im Halbschlaf gehört hatte - oder zu hören geglaubt hatte, und um dessentwillen sie schließlich aufgestanden war. Sie versuchte erneut, ihn irgendwo einzuordnen, zu klassifizieren und in eine Schublade zu stecken, um ihm auf diese Weise etwas von seiner Bedrohlichkeit zu nehmen, aber es gelang ihr jetzt ebenso wenig wie vorhin. Schließlich zuckte sie mit den Achseln und trank einen Schluck Kaffee, ehe sie antwortete. »Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört«, sagte sie ausweichend.
»Du dachtest?«
Sie atmete scharf ein. »Gut, ich habe etwas gehört«, sagte sie unwirsch. »Ein Geräusch.«
»Was für ein Geräusch?«
»Keine Ahnung. Ein ...« Sie brach ab, starrte ihr Spiegelbild in der Kaffeetasse an und suchte nach Worten. Obwohl die Erinnerung an jenen seltsamen, fremdartigen Laut noch deutlich in ihr war, fiel es ihr schwer, sie in Worte zu kleiden. Es hatte irgendwie fremd geklungen, ja, aber es war ein Laut, der sich weit über die Grenzen des Hörbaren hinaus erstreckte und irgend etwas in ihrer Seele zum Schwingen gebracht hatte. Vielleicht nicht einmal ein Geräusch im gewohnten Sinne, sondern ein tiefes, vibrierendes Seufzen, eine Art Klage laut der Schöpfung, angst einflößend und gleichzeitig selber voller Not und Pein.
»Ein Schrei, denke ich«, sagte sie schließlich, obwohl sie wußte, wie unzulänglich ihre Erklärung war. Der Laut entstammte nicht der Welt, in der sie lebten, und er war mit Worten aus ihrer Sprache nicht zu beschreiben.
»Ein Schrei?«
Sie nickte erneut. »Ich glaube jedenfalls, daß es ein Schrei war.«
Stefans Interesse war geweckt. Er konnte furchtbar stur sein, wenn ihn etwas interessierte, und es gab im Grunde kaum etwas, was sein Interesse nicht zu wecken vermochte. Es tat ihr schon fast leid, daß sie ihm überhaupt davon erzählt hatte. Gleichzeitig war sie erleichtert, mit jemandem darüber reden zu können. »Was für ein Schrei?« bohrte er weiter.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Liz mit einer deutlichen Spur von Ungeduld in der Stimme. »Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Oder es war irgendein Tier. Ein Vogel oder ein streunender Hund.«
»Es gibt Füchse in den Wäldern«, sagte Stefan plötzlich. »Hast du schon einmal einen Fuchs schreien hören?«
Liz schüttelte stumm den Kopf und beugte sich tiefer über ihre Kaffeetasse. »Sie wimmern wie kleine Kinder«, erklärte Stefan zwischen zwei Schlucken. »Es könnte wirklich ein Fuchs gewesen sein.«
»Möglich. Oder ein Vogel. Ein Käuzchen vielleicht oder eine Eule. Die Wälder hier sind voll davon.«
Stefan schüttelte den Kopf. »Ein Fuchs«, beharrte er. »Ich habe einmal einen jungen Fuchs schreien gehört - ich sage dir, wenn du nicht weißt, was es ist, läuft dir ein kalter Schauer den Rücken herunter.« Er stand auf, tat einen Löffel Kaffeepulver in seine Tasse und schüttete kochendes Wasser darauf.
Liz nickte nur stumm. Sie war froh, daß Stefan eine Erklärung gefunden hatte und nicht weiter bohrte. Auch wenn sie wußte, daß es kein Fuchs gewesen war, auch keine Eule oder irgendein anderes Tier. Obgleich sie auf der einen Seite erleichtert war, es getan zu haben, empfand sie auf der anderen eine unerklärliche Scheu davor, über ihr Erlebnis zureden, ja, selbst darüber nachzudenken. Vielleicht war es ein bloßer Alptraum gewesen, nichts als die letzten pelzigen Fühler des Nachtmahres, die sie ein Stück weit hinüber ins Wachsein begleitet hatten. Aber im Gegensatz zu einem normalen Alptraum verblaßte die Angst nicht mit der Zeit, sondern schien sich im Gegenteil noch zu vertiefen. Dabei konnte sie sich nicht einmal richtig an das Geräusch erinnern. Es hatte vielleicht wie ein Schrei geklungen, aber doch auch wieder anders...
Sie schüttelte die Erinnerung mit einer ärgerlichen Bewegung ab und zündete sich eine zweite Zigarette an.
Der Rauch schmeckte schal und faulig. Sie hustete, rang einen Moment nach Atem und nahm einen zweiten, tiefen Zug, um das brennende Kratzen in ihrer Kehle zu überdecken. Normalerweise drückte sie die Zigarette nach dem ersten Zug wieder aus, wenn sie ihr nicht schmeckte, aber sie wußte, daß sie dann wieder mit Stefan hätte reden müssen, und so rauchte sie weiter, froh, ihre Hände beschäftigt zu wissen und sich hinter einer trügerischen Mauer aus blauem Zigarettenrauch verbergen zu können. Stefan hatte seine zweite Tasse Kaffee geleert und schielte jetzt gierig auf ihre Zigarettenpackung.
Sie nahm das Päckchen mit einer schnellen Bewegung vom Tisch und ließ es in der Tasche verschwinden. »Du weißt, was dir der Arzt geraten hat«, sagte sie tadelnd. »Keine Zigaretten mehr vor dem Frühstück.«
»Aber ich habe doch schon...«
»Zwei Tassen Kaffee getrunken«, nickte Liz. »Ich weiß. Auch schon eine zu viel.«
»Eben! Die muß ich neutralisieren.«
»Mit Nikotin?«
»Selbstverständlich«, sagte er ernsthaft. »Siehst du, Schatz, Koffein wirkt auf das menschliche Nervensystem äußerst anstrengend, während Nikotin eine beruhigende Wirkung hat. Und durch die doppelte Portion Koffein befindet sich mein Nervenkostüm nun in heller Aufregung, sodaß...«
Liz stöhnte ergeben und gab ihm eine Zigarette. Er grinste triumphierend, riß ein Streichholz an und nahm einen tiefen Zug. »Wenn es nach dir und meinem sogenannten Arzt ginge, dann dürfte ich bald überhaupt nichts mehr«, sagte er. »Keine Zigaretten, keinen Kaffee, keinen Alkohol...«
»Keine Frauen«, fügte Liz hinzu. »Jedenfalls keine außer mir.«
»Ich beginne zu begreifen, warum du hier herausziehen wolltest«, grollte Stefan. »Reichlich spät, Liebling. Hier habe ich dich viel besser unter Kontrolle als in der Stadt. Der Kaffee ist rationiert, Zigaretten und Schnaps verwalte ich, und die einzige Frau in weitem Umkreis ...«
»Du bist keine Frau«, fiel ihr Stefan ins Wort. »Du bist ein Monstrum. Glaube bloß nicht, daß ich dir nicht schon längst auf die Schliche gekommen bin. Ich weiß genau, daß du dich mit meinem Arzt verschworen hast. Das einzige, was ich noch darf, ist arbeiten. Und wozu?«
»Um mir ein angenehmes Leben und teure Hobbys finanzieren zu können, wozu denn sonst?« entgegnete Liz ernsthaft.
Stefan grunzte, beugte sich über den Tisch und trank einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Dann ließ er sich zurücksinken, grinste wie ein Schuljunge und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wann fahren wir?« fragte er, während er einen perfekten Rauchring in die Luft blies. Liz starrte dem Ring neidisch nach und zuckte mit den Achseln. »Nach dem Mittagessen, denke ich.«
»So spät?«
»Ich muß noch die Tiere versorgen«, erklärte sie geduldig. »Dann den Stall ausmisten, im Gemüsegarten Unkraut rupfen - und unser Wohnzimmer sieht aus, als wären Attilas Horden hin durchgezogen. Dreimal hintereinander.« Sie schüttelte den Kopf. »Du wolltest ja unbedingt eine Bäuerin aus mir machen, oder? Außerdem - während ich versuche, den Hof auf Vordermann zu bringen, könntest du ja mal wieder arbeiten, was meinst du?«
Stefan verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Unanständiges von ihm verlangt. »Ich habe eine bessere Idee.«
»Ach?«
»Du ziehst dich rasch an und läßt deine zweidreiviertel Hühner auf die Koppel, und wir fahren direkt in die Stadt. Du erledigst am Vormittag deine Einkäufe, und wir gehe nirgendwo gemütlich essen. Und danach machen wir uns einen schönen Tag.«
»Einen schönen Tag?« wiederholte Liz ungläubig. »In Schwarzenmoor?« Stefan nickte. »Du tust diesem malerischen kleinen Dorf und seinen freundlichen Bewohnern unrecht.«
»Und wer erledigt derweil die Arbeit?«
»Deshalb will ich ja so früh los«, entgegnete Stefan. »Erinnerst du dich an Ohlsberg?«
Natürlich erinnerte sie sich an Ohlsberg. Sie hatte ihn einmal gesprochen, und es war praktisch unmöglich, sich danach nicht an ihn zu erinnern.
Ohlsberg war wie dieses Land - alt, breitschultrig und knorrig. Es war unmöglich, sein Alter zu bestimmen. Er mochte fünfzig sein, aber auch siebzig oder hundert oder zweihundert. Natürlich erinnerte sie sich an ihn, aber die einzig wirklich klare Erinnerung war die des Alters. Sie versuchte, sich sein Gesicht vor Augen zu führen, aber es blieb ein verschwommener heller Fleck, voll von Runzeln und dünnen, wie mit einem Skalpell hin eingeschnittenen Falten, der sich jedem Versuch entzog, ihn genauer zu betrachten und mehr als das Vordergründige zu erkennen und das, was zu sehen er erlaubte.
Alt, knorrig und abweisend allem Fremden gegenüber, das war Ohlsberg. Stefan nannte ihn den Dorfschulzen. Natürlich war das nicht sein richtiger Titel - wahrscheinlich nannte er sich Bürgermeister oder weiß-der-Teufel-wie, aber Stefan hatte gemeint, daß Dorfschulze weitaus besser zu ihm paßte, und Liz hatte ihm nach ihrer ersten Begegnung mit Ohlsberg zugestimmt.
»Ich habe gestern nachmittag noch einmal mit ihm telefoniert«, fuhr Stefan nach einer Weile fort, »und ihm unser Leid geklagt. Und ich glaube, er hat einen Weg gefunden, um uns zu helfen.«
»Du meinst...«
Stefan nickte. »Ja. Ich denke, wir haben ab morgen einen Gehilfen, der dir die schwerste Arbeit abnehmen kann.«
»Aber das wäre...«
»Herrlich?« schlug Stefan vor.
Ja, es wäre herrlich. Schon nach den ersten Wochen hatten sie damit begonnen, Personal zu suchen, aber es hatte sich als unmöglich erwiesen, auch nur einen einzigen Mann zu bekommen. Obwohl sie Geld hatten und bereit waren, weit mehr zu zahlen als die anderen Bauern hier in der Gegend, fand sich niemand, der für sie hatte arbeiten wollen.
Die Vorstellung, daß sie jetzt vielleicht doch noch jemanden finden sollten, erschien Liz wie ein Sonnenstrahl, der nach wochenlangem Regen durch die Wolkendecke bricht.
Sie sprang auf und begann eilig, das Geschirr abzuräumen.