In dieser Nacht hatte sie wieder einen Alptraum. Nach allem, was geschehen war, war dies nicht weiter erstaunlich, und es war auch nicht jener schreckliche Nachtmahr, mit dem die entsetzliche Entwicklung begonnen hatte, sonder nein ganz normaler Alptraum - aber er war schlimm genug. Als sie aufwachte, schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, konnte sie sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, aber ihr Herz raste, und auf ihrer Zunge lag der süßliche Geschmack von Angst. Bilder wirbelten in heillosem Chaos hinter ihrer Stirn durcheinander. Der Traum hatte irgendetwas mit Wald zu tun gehabt - mit dem gleichen Wald, durch den sie vorgestern abend (war das alles wirklich erst zwei Tage her?!) wie eine Wahnsinnige gerast war.
In ihrem Traum war sie gelaufen, an so viel konnte sie sich erinnern, und die Bäume und Sträucher hatten die Umrisse von häßlichen Gnomen gehabt, hatten eine einzige, ineinander verwobene Masse gebildet und mit dornigen, stechenden Ästen und Zweigen nach ihr gegriffen. Dann war Ohlsberg zwischen den Bäumen erschienen, aber ein Ohlsberg, de raus Lehm und Schmutz und halb verfaulten Pflanzenteilen bestanden hatte. Er hatte irgend etwas gesagt, was sie nicht verstand, und er war auf sie zu getreten; seine entsetzlichen Pflanzenhände hatten sich nach ihr ausgestreckt, und dann hatte sich sein Mund geöffnet, aber keine Worte waren herausgekommen, sondern ein entsetzliches, feuchtes Blubbern und Würgen, ein Laut wie von etwas Großem, Nassem, das sich durch halb erstarrten Morast bewegte. - und in diesem Moment war sie erwacht.
Sie wälzte sich eine Zeit lang unruhig herum, ohne wieder einschlafen zu können, hob schließlich den Arm ins Mond licht und entzifferte mühsam die Anzeige ihrer Armbanduhr. Es war kurz nach drei - selbst für eine Frühaufsteherin wie sie eine mörderische Zeit, vor allem nach einer Nacht und zwei Tagen ohne Schlaf, dafür aber mit einer dreifachen Portion Streß und ein bißchen Terror als Zugabe.
Aber sie wußte, daß sie keinen Schlaf mehr finden würde, so dringend sie ihn auch nötig hatte, und so sehr sie sich auch danach sehnte. Etwas in ihr sträubte sich dagegen, wieder einzuschlafen, vielleicht, weil es Angst davor hatte, daß der Alptraum weitergehen könnte.
Nach einer Weile gab sie auf - schon um Stefan nicht durch ihr unruhiges Hin- und Her wälzen zu wecken - und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster, ohne jedoch Licht zumachen. Vielleicht würde die frische Luft helfen, den dumpfen Druck aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Sie öffnete lautlos das Fenster, stieß die Läden auf und atmete tief ein. Der Mond hing über dem Wald, eine runde, silberne Scheibe, der nur noch ein schmaler, schattiger Streifen an der Vollkommenheit fehlte. Morgen oder übermorgen würde Vollmond sein. Etwas an diesem Gedanken beunruhigte sie; sehr viel mehr, als sie zuzugeben bereit war. Und die Luft war nicht frisch.
Sie war kühl, aber sie hatte einen schalen, beinahe ... ja, beinahe widerlichen Geschmack, den sie nicht definieren konnte, ganz leicht nur, aber durchdringend, penetrant.
Unten im Hof begann Carry zu jaulen. Der Hund hatte sich längst wieder beruhigt, aber er war weiterhin reizbar und aggressiv geblieben. Er hatte sogar nach Stefan geschnappt, etwas, das noch nie vorgekommen war.
Sie stützte die Ellbogen auf das Fenstersims, lehnte sich weit hinaus und verdrehte sich fast den Hals, um die flache Hütte sehen zu können. Carry war herausgekommen, trotz der Kühle der Nacht, und jetzt heulte er den Mond an. Sie mußte unwillkürlich lächeln. Hunde, die den Vollmond anheulen, hatten bisher für sie immer in das Reich sentimentaler Märchen gehört. Aber vieles von dem, was sie während der letzten Tage erlebt hatte, gehörte eigentlich nicht ins Reich der Realität. Und sehr wenig davon war so harmlos wie ein Hund, der den Mond verbellte.
Ein Windstoß fegte über den Hof und brachte einen neuen Schwall dieses süßlichen, ekelerregenden Geschmacks mit sich. Er war jetzt sehr viel intensiver. Sie verzog das Gesicht und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen nach Westen.
Was sie sah, ließ sie erstarren.
Sie kannte den Ausblick aus diesem Fenster.
Sechs Monate lang war sie jeden Morgen aufgestanden und ans Fenster getreten, ganz egal ob es regnete, schneite oder die Sonne schien, um das herrliche Panorama zu betrachten, bis sie es so gut kannte, daß sie es mit geschlossenen Augen hätte malen können.
Aber das Bild hätte nicht das gezeigt, was sie jetzt sah.
Im ersten Moment fiel es ihr schwer, die Veränderung in Worte zu fassen. Nichts war wirklich anders, nicht in dem Sinn, in dem man das Wort normalerweise benutzt. Der Wald war immer noch da, eine ungleichmäßige Reihe schweigender Riesen, die sich über den Horizont zum Schlaf ausgestreckt hatten, seine Wipfel in sanften Wellen wie ein grünes, mitten in der Bewegung erstarrtes Meer gegen den Himmel anrollend, davor die Wiese, die den Waldrand vom Hof trennte. Ein flaches Gemälde in Silber und Schwarz und allen nur denkbaren Grau- und Blau tönen, durchdrungen von diesem entsetzlichen süßlichen Gestank, der jetzt so intensiv war, daß sie sich für einen Moment wirklich fast einbildete, ihn sehen zu können.
Die Aussicht war unverändert, und doch stimmte sie nicht. Irgend etwas war da, störte den Gesamteindruck, die Vertrautheit des Bildes. Es war, als verberge sich hinter den bekannten Konturen die Ahnung von etwas unglaublich Bösem, Fremdartigem, als wäre die Schönheit dieses Landstriches zu einer häßlichen Karikatur ihrer selbst pervertiert. Die Spitzen der Blautannen dort draußen schienen sich in häßliche, gratige Spieße verwandelt zu haben, gefährliche Felsdolche, die den tief hängenden Himmel aufschlitzen wollten, und die Wiese hatte ihr samt weiches Gras gegen einen Teppich harter, schimmernder Glassplitter getauscht. Das Bild strahlte eine körperlich spürbare Lebensfeindlichkeit aus, eine aktive Verneinung all dessen, was die Schönheit dieses Landes ausmachte. Und der Umstand, daß sich eigentlich nichts verändert hatte, daß Formen und Farben - für sich betrachtet - so waren wie eh und je, machte alles nur noch schlimmer.
Sie preßte die Faust gegen den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Plötzlich spürte - nein: wußte sie, daß dort draußen etwas war, etwas Fremdes, anderes, das sie rief, auf sie wartete, lauerte ...
Es war nicht vorbei. Noch lange nicht.
Es begann gerade erst.
Hinter ihrer Stirn echote ein Wort: Banshee... Die Moorhexe ...
Es war nicht mehr bloß eine mehr oder weniger zufällige Zusammenreihung von Buchstaben. Es war Drohung, grausamer Spott und Hohn, die geflüsterte Warnung jener Stimme dort draußen.
Banshee... Man sagt, daß es keinen Körper hat, eine bloße körperlose Stimme ist... Aber wie kann eine Stimme gefährlich sein ...
Liz prallte vom Fenster zurück, schlug beide Hände gegen den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und drehte sich zum Bett um. Stefan schlief. Sie konnte sein Gesicht nur als verschwommenen Fleck erkennen, aber sie spürte die tiefe Ruhe, die von ihm ausging. Er schlief sehr fest. Das lautlose Ding dort draußen - die Banshee - war nicht in seinen Traum gekrochen, und er würde sie auch dann nicht wahrnehmen, wenn Liz ihn weckte. Sie würde alles nur schlimmer machen, wenn sie es tat.
Sie versuchte krampfhaft, ihre Gedanken mit Gewalt in eine andere Richtung zu lenken, aber ihre Anstrengung bewirkte genau das Gegenteil. Der Klang des Wortes hinter ihren Augen wurde härter, bedrohlicher. Und plötzlich wußte sie, woher sie es kannte, weshalb es ihr im Unterbewußtsein so vertraut gewesen war und weshalb ihm der Geschmack von Angst und Bedrohung anhaftete.
Es war der Schrei. Jener körperlose, unhörbare Schrei, der sie vor drei Tagen geweckt hatte, der sie gestern nachmittagin einen Weinkrampf und den Hund in die Raserei getrieben hatte. Es war nicht einfach nur ein Laut gewesen, sondern dieses Wort. Banshee hatte es geschrien, leise, lang gezogen, mit dem drohenden, fremden Nachhall jener alten keltischen Sprache, aus der es stammte.
Irgendwo hinter ihrer Stirn lauerte ein Gedanke, angstvoll beiseite geschoben und vergraben, aber doch zu stark, daß sie ihn ganz verdrängen konnte: Werde ich verrückt? Wie zur Antwort auf ihre lautlose Frage begann Carry unten im Hof wieder zu bellen, aber diesmal nicht ängstlich, sondern böse, aggressiv.
Liz war eine tapfere Frau, und die Bedrohung, die von außen auf sie eindrang, verstärkte nur ihren Entschluß, das Rätsel zu lösen, sich dem Unbekannten zum Kampf zu stellen. Sie vertrieb die Furcht, ging wieder zum Fenster, beugte sich erneut vor, suchte die Hütte. Ihr Blick streifte die verkohlte Ruine des Gesindehauses, ihren Schatten.
Der Schatten!
Es war nicht der Schatten eines verkohlten Hausgerippes. Auf dem krumpeligen Lehm des Hofes zeichnete sich deutlich der breite, massige Schatten eines völlig intakten Gebäudes ab!
Aus ungläubig aufgerissenen Augen starrte sie auf die Erscheinung, dann auf die Ruine, die unverändert wie seit dreißig Jahren unter dem silbernen Mondschein lag, dann wieder auf den Boden davor. Es war unmöglich, und doch zeichnete sich dort unten der quadratische, langgestreckte Schatten des Gesindehauses ab, wie es vor dem Brand ausgesehen haben mochte: Flach, wuchtig, mit kleinen Unebenheiten am oberen Ende, wo die Reetbündel des Daches zusammengebunden waren, mit dem wuchtigen Aufsatz des Schornsteins. Wenn sie genau hinsah, konnte sie sogar die etwas helleren Rechtecke der Fenster ausmachen.
Aber das war doch völlig unmöglich! dachte sie verwirrt. Dem ersten Schrecken und der Angst folgten Verblüffung und eine fast wissenschaftliche Neugier. Sie beugte sich noch weiter vor, fuhr sich mit der Hand über die Augen, blinzelte - aber das Bild blieb. Verwirrt wandte sie sich erneut zum Bett um, fest entschlossen, Stefan nun doch zu wecken. Selbst er würde ihr glauben müssen, wenn er das sah!
In diesem Moment hörte Carry auf zu bellen.
Einen Schritt vor dem Bett blieb sie stehen, zögerte einen Moment, drehte sich um, zögerte wieder - sie wußte, was sie sehen würde, aber sie hatte beinahe panische Angst davor. Alles in ihr schrie danach, die begonnene Bewegung zu Ende zu führen und Stefan zu wecken, ganz egal, was erdenken und sagen mochte. Er würde ihr nicht glauben - wie konnte er auch -, aber er würde ihr wenigstens zuhören, und er würde wenigstens so tun, als glaube er ihr, und manchmal war selbst eine Lüge leichter zu ertragen als die Wahrheit.
Aber natürlich tat sie es nicht.
Statt dessen trat sie mit halb geschlossenen Augen wieder ans Fenster und raffte ihr letztes bißchen Selbstbeherrschung zusammen, um auf den Hof hinabzublicken. Er war wie immer.
Carry hatte aufgehört zu bellen.
Der schauderhafte Gestank war nicht mehr da.
Der Wald im Westen war wieder zu einem ganz normalen Wald geworden. Und die Ruine war wieder eine Ruine. Der Schatten aus der Vergangenheit war verschwunden, hatte wahrscheinlich niemals irgendwo anders als in ihrer Einbildung existiert, und... und auf halbem Wege zwischen dem heruntergebrannten Haus und der Straße stand ein Mann.
Ohlsberg.
Er war viel zu weit entfernt, als daß sie sein Gesicht erkennen konnte; sie hätte es nicht einmal erkannt, wenn draußen heller Tag gewesen wäre.
Aber sie wußte, daß er es war.
Er stand da, eine kleine, gedrungene Gestalt, lautlos, schweigend und starrte zu ihr hinauf, ein Dämon, der dergleichen Dimension des Wahnsinns entsprungen war wie der höllische Gestank, der Schrei und die Schatten. Abermals machte sich Hysterie in Liz breit. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie umklammerte das Fensterbrett so fest, daß zwei Fingernägel ihrer rechten Hand abbrachen und Blut über das gesprungene Holz lief. Sie spürte den Schmerz, und er war sehr schlimm, aber sie reagierte nicht darauf, denn es schien mit einem Male zwei Arten der Wahrnehmung zu geben, zwei Wirklichkeiten, die nebeneinander und gleichzeitig existierten: In der einen stand sie hier und blickte auf einen völlig leeren Hof hinunter, und ihre Finger bluteten und taten entsetzlich weh, und sie war dabei, den Verstand zu verlieren.
In der anderen war alles wahr - der Schatten, Ohlsberg, das brennende Haus ... Dann wußte sie, was sie tun mußte.
Sie würde Stefan nicht wecken, denn sie wußte, daß er die Gestalt dort unten nicht sehen konnte - sie würde verschwinden, im gleichen Moment, in dem er neben sie trat, oder - schlimmer noch - dableiben, nur für sie sichtbar, aber Stefan würde sie nicht sehen, denn dies war einzig und allein ihr Kampf, ein kleiner privater Krieg, der nur zwischen diesem schmierigen alten Mann und ihr ausgetragen und entschieden werden konnte.
Aber er war da!
Langsam, die verletzte Hand fest gegen das Nachthemd gepreßt, um keine Blutflecken auf dem weißen Teppich zu hinterlassen, verließ sie den Raum, ging in Stefans Arbeitszimmer, schaltete die Schreibtischlampe ein und klappte das Notizbuch auf, das griffbereit neben dem Telefon lag. Ihre Finger hinterließen rote schmierige Spuren auf dem weißen Papier und gleich darauf auf der Wählscheibe des Telefons, als sie Ohlsbergs Nummer wählte.
Das Freizeichen ertönte; zwei -, drei -, vier -, fünfmal hintereinander. Aber es war drei Uhr, und sicherlich schlief Ohlsberg nicht neben dem Apparat. Einen Moment lang fragte sie sich, was sie sagen sollte, wenn nicht er, sondern seine Frau - war er verheiratet? Sie wußte es nicht - oder seine Haushälterin oder sonst wer ans Telefon gehen sollte, aber noch bevor die Frage vollends an ihr Bewußtsein gedrungen war, ertönte ein leises Klicken in der Leitung, und dann hörte sie Ohlsbergs Stimme, leise, verschlafen, ein wenig zornig und sehr benommen, aber ganz eindeutig seine Stimme. Seine Stimme.
Ohlsbergs Stimme, die in Ohlsbergs Apparat sprach, fünf Kilometer entfernt in seinem Haus in Schwarzenmoor, ganz eindeutig seine Stimme.
Die Stimme des gleichen Mannes, den sie vor weniger als zwei Minuten vor ihrem Haus hatte stehen sehen.
Liz starrte den Telefonhörer an, und plötzlich zitterten ihre Finger so stark, daß sie ihn kaum noch halten konnte. Der Schmerz in ihrer Hand wurde stärker. Blut lief über den Telefonhörer, an ihrem Handgelenk herunter und tropfte auf die aufgeschlagenen Seiten von Stefans Adreßbuch.
Aus dem Telefonhörer drang Ohlsbergs Stimme, nun schon ein wenig wacher - und ganz eindeutig aufgebrachter -, und vom Hof drang abermals Carrys Bellen herauf. Sie wußte, daß sie ihn wieder dort unten stehen sehen würde, wenn sie jetzt zurückging; den gleichen Mann, der am anderen Ende der Telefonleitung war, fünf Kilometer entfernt.
Mit einem Ruck hängte sie ein, fuhr herum und rannte aus dem Zimmer.