26.

Das Haus sah aus, als hätte es ein Riese direkt aus Schwarzenmoor heraus gepflückt und fünf Kilometer weiter südlich wieder abgesetzt, und nicht einmal sehr sorgfältig. Es war auf einer der wenigen flachen Anhöhen dieser Landschaft erbaut, und es stand ein wenig schräg, was wahrscheinlich an dem sumpfigen Untergrund lag, in den sein Fundament - wenn es überhaupt einen solchen Luxus hatte - im Laufe der Jahrzehnte abgesackt war. Und es unterschied sich wirklich kaum von den übrigen Gebäuden der Ortschaft - der gleiche, gedrungene Baustil, der es abweisend und kalt, zugleich aber auch trutzig und fest erscheinen ließ -, stand jedoch allein und hatte einen winzigen Vorgarten, der zu reinen Hälfte mit Gemüse, zur anderen mit Blumen bepflanzt war. Die Fenster waren klein und mit schweren, hölzernen Läden gesichert, und die Tür war so niedrig, daß selbst ein kleingewachsener Mensch gebückt gehen mußte, um hindurchzukommen. Die Einwohner Schwarzenmoors, dachte Liz sarkastisch, mußten in direkter Linie von einem Geschlecht besonders kleinwüchsiger Pygmäen abstammen. Sie grinste, als der Gedanke die Vorstellung eines nur siebzig Zentimeter großen Ohlsberg vor ihrem inneren Auge aufsteigen ließ. Liz hatte den Jaguar direkt vor der Auffahrt geparkt. Sie hatte gewendet und den Wagen wieder in Fahrtrichtung nach Hause gebracht. Irgend etwas an dieser Konstellation gefiel ihr nicht, aber sie wußte nicht, was es war. Dann erkannte sie es: Sie benahm sich, als bereite sie sich auf eine schnelle Flucht vor.

Sie zog den Zündschlüssel ab, stieg aus und wartete, bis Peter auf der anderen Seite umständlich aus dem niedrigen Wagen geklettert und neben sie getreten war. Er hatte bis jetzt kein Wort mehr gesagt, aber sich auch nicht gesträubt, aus zusteigen. Liz wertete allein dies schon als kleinen Sieg.

Sie schauderte, als sie nebeneinander zum Haus hinaufgingen. Es war niedrig, breit und wuchtig und schien eine fühlbare Kälte zu verströmen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, in einem solchen Haus zu leben, aber sie konnte es nicht. Das hieß - sie hätte es gekonnt. Aber sie wollte nicht.

Peter deutete auf die Blumenrabatten rechts und links des Weges. »Die hat Andy angelegt«, sagte er, nervös, aber hörbar stolz. »Gefallen sie Ihnen?«

Liz blickte flüchtig auf die kleinen, bunten Beete. Selbst einer Betongärtnerin wie Ihr blieb nicht verborgen, daß die Rabatten bestenfalls als ärmlich bezeichnet werden konnten - aber sie waren mit großer Liebe angelegt, kamen in dieser Umgebung nur nicht richtig zur Geltung. Außerdem schienen sie asymmetrisch, fast als hätte man sie da, wo sie dem Gemüse im Weg standen, schlichtweg abgeschnitten. Wahrscheinlich hatte man. Trotzdem nickte sie. »Sie sind hübsch«, sagte sie. »Wenn Andy Lust hat, kann sie unseren halben Hof mit Blumen bepflanzen.«

Peter nickte nervös und sah weg.

Sie hatten die Tür erreicht und blieben stehen. Drinnen im Haus waren Geräusche, die sie nicht eindeutig identifizieren konnte, und Peter starrte noch immer zu Boden und versuchte so zu tun, als wäre er gar nicht da. »Klopfen Sie«, meinte Liz. »Ich werde nichts sagen, bevor Sie mir das Zeichen geben.«

Peter trat einen Moment lang unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, drehte sich dann mit sichtlicher Überwindung um und klopfte zaghaft gegen die Tür. Er hielt sich erstaunlich gut, wenn sie bedachte, unter welchem Druck erstehen mußte. Es dauerte lange, bis sich der Rhythmus der Geräusche drinnen änderte und schwere, schlurfende Schritte näherkamen. Dabei mußten die Starbergs ihre Ankunft schon lange bemerkt haben. Der Jaguar war alles andere als leise, und Liz war sicher, eine Bewegung hinter den Fenstern gesehen zu haben, als sie ausgestiegen war.

Eine Kette klirrte, und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Dunkle, mißtrauische Augen lugten zu ihnen heraus, betrachteten sie mit Verwirrung und Mißtrauen und Peter voller unverhohlener Feindseligkeit. Frau Starberg war Liz bereits unsympathisch, ehe sie sie auch nur gesehen hatte.

Peter trat einen halben Schritt von der Tür zurück und nickte nervös. »Guten... guten Morgen, Ma'am.«

»Heyning?« machte Frau Starberg. »Was wollen Sie hier?« Sie zögerte einen Moment, schob die Tür dann ganz auf und musterte erst Peter, dann Liz mit einem schon fast unverschämten Blick.

Sie sah beinahe genauso aus, wie sich Liz eine Frau wie sie vorgestellt hatte - eine kleine, zur Fettleibigkeit neigende Person mit kräftigen Händen und einem breitflächigen, groben Gesicht und einem ganz leisen, aber trotzdem unübersehbar grausamen Zug um den Mund. Dunkles Haar, in dem sich graue Strähnen zeigten und das mit Sicherheit noch niemals einen Friseur gesehen hatte. Sie war nicht häßlich, aber sie war auch niemals hübsch gewesen. Ihre Stimme war nicht schrill genug, um direkt unangenehm zu sein, strahlte aber auch nicht gerade Vertrauen aus. Liz war sich darüber im klaren, daß sie diese Frau nicht einmal dann sympathisch gefunden hätte, wenn sie das Aussehen eines Erzengels gehabt hätte - aber sie war auch beinahe froh, daß sie es nicht hatte. Es war leichter, unnett zu jemandem zu sein, der so aussah, als hätte er es verdient.

Peter deutete mit einer fahrigen Geste auf Liz. »Das ... das ist Frau König«, sagte er unsicher. »Meine... meine neue Herrschaft. Ich .. das heißt, wir... wir wollten Andy besuchen.«

»Jetzt?« sagte Starberg. »Sie wissen doch, daß Sie sich vorher anmelden sollen. Außerdem sind die vier Wochen noch nicht um.« Sie machte Anstalten, sich herumzudrehen und ihnen kurzerhand die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Liz trat rasch einen Schritt vor und rang sich ein entschuldigendes Lächeln ab. »Ich glaube, das ist meine Schuld«, sagte sie betont freundlich, aber mit einer Kälte in der Stimme, die der Starberg weder entgehen konnte noch sollte. »Peter hat so viel von Andy erzählt, daß ich sie unbedingt einmal kennenlernen wollte. Und weil wir gerade in der Stadt waren, dachte ich, die Gelegenheit wäre günstig. Ich wußte nicht, daß er seine Tochter nur alle vier Wochen sehen darf.«

Es war nicht zu erkennen, ob Frau Starberg die Spitze verstand. Sie musterte Liz mit unbewegtem Gesicht, zuckte dann mit den Achseln und trat widerstrebend zurück. »Von mir aus kommen Sie rein«, sagte sie, ohne sich die Mühe zugeben, freundlich oder zumindest neutral zu klingen. »Aber nur zehn Minuten. Ich habe zu tun.«

»Vielen Dank«, sagte Liz. »Wir halten Sie bestimmt nicht lange auf.«

Sie zog den Kopf ein, trat durch die Tür und sah sich neugierig um. Wie bei den meisten dieser alten Bauernhäuser gab es keine Diele, sondern sie standen nach Betreten des Hauses gleich in der Wohnstube; einem überraschend großen, sauber eingerichteten Raum. Die Möbel waren noch nicht alt genug, um als Antiquitäten gelten zu können, bewiesen aber einen - wenn auch recht konventionellen - guten Geschmack. Ein leichter Geruch nach Kohl und kaltem Pfeifenrauch hing in der Luft. Liz war ein wenig enttäuscht, daß die Starberg ihr nicht auch den Gefallen tat, schmuddelig zu sein.

»Andy ist in der Küche«, sagte Frau Starberg. Sie schloß die Tür, schob sich an Peter vorbei und deutete auf einen zweiten Durchgang an der Rückseite des Raumes. »Dort.« Liz tauschte einen raschen Blick mit Peter. Er war blaß. Aber sie wußte plötzlich, daß er es durchstehen würde. Nicht aus Mut. Dieser Mann war zu oft eingeschüchtert und erniedrigt worden, um überhaupt noch zu wissen, was das Wort Mut bedeutete. Aber er - und das erschreckte sie, obwohl es sie hätte freuen müssen -, er vertraute ihr. Sie hatte ihm gesagt, daß sie ihm helfen würde, und er glaubte ihr. Mit einem Mal begriff sie, welche Verantwortung sie auf sich geladen hatte. »Kommen Sie«, sagte sie, als die Starberg vorausgegangen und außer Hör weite war. »Es wird schon gut gehen.«

Sie durchquerten die Stube, gingen durch einen kurzen Flur und betraten die Küche, deren Fenster nach hinten auf den Hof hinaus führten.

Liz blieb verblüfft stehen, als sie das Mädchen sah. Andy saß auf einem Stuhl unter dem Fenster und blätterte in einem zerlesenen Comic-Heftchen. Sie sah hoch, als sie die Küche betraten, blickte erst Frau Starberg, dann, mit einem leisen, verwunderten Stirnrunzeln, Liz und schließlich Peter an. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie ihren Vater erkannte. Sie sprang auf, warf das Heft achtlos auf den Boden und eilte mit weit ausgebreiteten Armen auf Heyning zu.

Liz war mehr als nur erstaunt. Sie wußte nicht, was sie erwartet hatte - eigentlich hatte sie sich gar keine Vorstellung von dem Mädchen gemacht -, aber das jedenfalls nicht. Peter hatte ihr erzählt, daß Andy bald fünfzehn war, aber sie sah aus wie neunzehn. Sie war schlank; jene zarte, halb knabenhafte Figur, die eine junge Frau, die auf der Schwelle zwischen Kind und Frau stand, manchmal für kurze Zeit hatte, und besaß Peters braune, stets etwas erschrockene Augen. Ihr Haar war glatt und fiel bis weit über die Schultern hinab, schwarz, rabenschwarz mit einem leichten Stich ins Bläuliche, und ihre Bewegungen waren überhaupt nicht die einer Behinderten, sondern schnell und elegant und fraulich. Peter drückte sie sekundenlang an sich, hielt sie dann an beiden Schultern fest und drehte sie mit sanfter Gewalt um, so daß sie Liz ansehen mußte.

»Das ist Frau König«, sagte er. Er sprach sehr langsam und betont, und zwischen Andys Brauen entstand eine steile Falte, als sie zuhörte, als müsse sie sich auf jede Silbe konzentrieren. »Meine neue Herrschaft. Ich arbeite jetzt für sie, weißt du? Sei brav und gib ihr die Hand.«

Andy rührte sich nicht. Nur das mißtrauische Flackern in ihren Augen schien ein bißchen schwächer zu werden.

»Andy, bitte«, sagte Peter geduldig. »Sie ist extra den weiten Weg hierher gekommen, um dich zu sehen.«

»Lassen Sie sie, Peter«, sagte Liz. »Ich bin eine Fremde für sie. Vielleicht lernt sie mich später kennen.« Sie setzte ihre Handtasche auf dem Tisch ab, trat einen Schritt auf das Mädchen zu und streckte vorsichtig die Hand aus. »Freust du dich, deinen Vater zu sehen?« fragte sie.

Andy antwortete nicht. Aber sie drängte sich unwillkürlich dichter an Peters Brust, als suche sie Schutz vor irgendetwas.

»Sie ... sie kann nicht reden, Frau König«, sagte Heyning leise. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Worte auszusprechen.

Liz zuckte überrascht zusammen. »Sie kann nicht...« Sie stockte, schüttelte den Kopf und setzte neu an. »Das tut mirleid«, sagte sie, wieder an Andy gewandt. »Aber du verstehst doch, was ich sage, oder? Du brauchst nicht zu antworten, wenn du nicht willst.«

Ihr fiel zu spät ein, wie dumm ihre Worte waren. Aber der Anblick des Mädchens verwirrte sie immer noch. Sie hatte damit gerechnet, ein hilfloses Kind vorzufinden. Möglicherweise eine Behinderte, nach Peters Worten vom ersten Tag. Einen Krüppel. Selbst eine sabbernde Idiotin hätte sie nicht so überrascht. Was sie wirklich sah, war eine junge Frau. Eine verschüchterte und vollkommen verängstigte Frau, aber nichtsdestoweniger ein Wesen mit einer spürbaren fraulichen Ausstrahlung, erotisch genug, daß selbst sie es bereits spürte. Sie war mit einem Mal nicht mehr hundertprozentig von der Richtigkeit dessen überzeugt, was sie tat.

»Ich lebe jetzt draußen bei Frau König und ihrem Mann«, erklärte Peter geduldig. »Sie sind sehr nett zu mir, weißt du? Ich habe ein eigenes Zimmer und immer genug zu essen. Und die Arbeit ist auch nicht schwer.«

»Trotzdem sollten Sie sich daran gewöhnen, die Zeiten einzuhalten«, sagte Frau Starberg von der Tür her. Ihre Stimme war wie eine Glasscherbe, die irgend etwas zwischen Peter und dem Mädchen zerschnitt. »Es geht nicht, daß Sie hier so einfach auftauchen, wann es Ihnen paßt. Das müssen Sie verstehen.« Zumindest die letzten Worte waren der reine Hohn.

Liz drehte sich langsam um. Die Starberg sah Peter an, aber sie zweifelte nicht daran, daß die Worte im Grunde ihr galten.

Sie schluckte die spitze Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und wandte sich wieder an das Mädchen. »Dein Vater hat mir viel Gutes von dir erzählt, weißt du?« sagte sie lächelnd. »Er ist sehr stolz darauf, eine so große Tochter wie dich zu haben, noch dazu, wenn sie so hübsch ist wie du. Aber ich glaube, du magst ihn auch sehr gerne, wie?«

Diesmal nickte Andy, wenn auch sehr zaghaft.

Liz sah auf und tauschte einen raschen, fragenden Blick mit Peter. Seine Augen waren ein wenig geweitet, und auf seiner Stirn glitzerte Schweiß. Aber er nickte. Liz begann sich zunehmend unbehaglicher zu fühlen. Es ging alles viel zu rasch; schneller, als sie geglaubt hatte. Und es war anders. Andy entsprach nicht ihren Vorstellungen, ganz und gar nicht, die Situation war anders, als sie erwartet hatte. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie. Andy auf den Knien rutschend, in Lumpen gekleidet und mit einem Scheuerlappen versehen vorgefunden hätte. Aber schließlich lebten sie nicht in einem Märchen, und dies hier war nicht das Haus von Aschenputtel. Und sie konnte nicht mehr zurück.

»Würdest du gerne bei deinem Vater wohnen?« fragte sie behutsam. »Bei ihm und bei mir? Wir haben Platz genug draußen auf dem Hof. Du könntest sogar ein eigenes Zimmer bekommen.«

Sie sah, wie Andy erbleichte und sich ihre schmale Handfester um die ihres Vaters krampfte. Ihre Augen wurden plötzlich groß und rund.

»Wir haben auch einen Garten«, fuhr sie fort. »Ich habe die Blumen gesehen, die du draußen gepflanzt hast. Sie gefallen mir. Du könntest ein Stück von unserem Garten haben, ganz für dich.« Sie lächelte. »Ich bin eine miserable Gärtnerin, muß ich gestehen. Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen.«

Frau Starberg sog hinter ihr scharf die Luft ein. Aber sie sagte noch nichts. »Nun?« fragte Liz nach einer Weile. »Wie würde dir der Gedanke gefallen. Du könntest den ganzen Tag bei deinem Vater sein. Und bei mir und meinem Mann. Du wirst sehen, es wird dir gefallen.«

»Heyning«, sagte Frau Starberg scharf, »würden Sie dieser Frau sagen, daß sie aufhören soll, dem Kind Flausen in den Kopf zu setzen? Andy ist nachher nur enttäuscht, wenn Sie wieder gehen.«

Liz drehte sich langsam um. »Warum sagen Sie dieser Frau nicht selbst, was Sie von ihr wollen?« fragte sie.

Frau Starberg erbleichte sichtlich. Sie schien nur langsam zu begreifen, was überhaupt vorging. Für einen Moment tat sie Liz beinahe leid. »Sie...«, stammelte sie, »Sie... kommen hierher, und...«

»Ich tue nur, was Herr Heyning möchte«, sagte Liz ruhig. »Andy ist sein Kind, oder? Immerhin ist es verständlich, wenn ein Vater den Wunsch hat, mit seinem Kind zusammenzuleben.«

»Aber... aber Sie können nicht einfach hierherkommen und ... Andy mitnehmen«, sagte Frau Starberg. Sie rang mit großer Mühe um ihre Fassung. Ihre Stimme hatte jenen ungläubigen, leicht schrillen Ton, den nur pures Entsetzen hervorruft. Ihre Hände zitterten. Liz wußte, daß sie gewonnen hatte. Die Frau mochte alt und böse und gemein sein, hinterlistig sicherlich, aber sie war kein Kämpfer wie sie.

»Doch«, antwortete Liz ruhig. »Wir können.« Sie lächelte, drehte sich um und legte dem Mädchen sanft die Hand auf die Schulter. »Nun, Andy?« sagte sie. »Was hältst du davon? Möchtest du mitkommen? Mit deinem Vater und mir?«

»Nichts wird sie tun!« kreischte Frau Starberg. Sie rauschte wie eine Furie an Liz vorbei, riß das Mädchen an sich und preßte es besitzergreifend an die Brust. »Sie wird hierbleiben, wo sie hingehört. Und Sie werden ihr keine Dummheiten mehr einreden. Gehen Sie! Verlassen Sie mein Haus!«

Liz ignorierte ihre Worte. »Andy«, sagte sie geduldig. »Du brauchst keine Angst zu haben, verstehst du? Vor niemandem. Wenn du mit uns kommen willst, dann nehmen wir dich mit. Jetzt gleich. Du mußt nur zu deinem Vater gehen, und wir wissen Bescheid. Frau Starberg wird dir nichts tun, keine Angst.«

Fünf, zehn Sekunden lang stand das Mädchen starr und wie gelähmt da. Ihr Blick irrte immer wieder zwischen Liz, ihrem Vater und der rotgesichtigen dicken Frau hinter ihr hin und her, und auf ihrem Gesicht war deutlich der innere Kampf zu lesen, den sie durchstehen mußte. Dann, nach einer Ewigkeit, streifte sie Starbergs Hand ab und trat zitternd zu ihrem Vater hinüber.

»Das Mädchen kann überhaupt nicht entscheiden, was es will«, sagte Frau Starberg. »Sie ist...«

»Ganz recht«, unterbrach sie Liz kühl. »Sie kann es nicht. Aber ihr Vater kann es.«

»Aber sie gehört hierher!« zischte die Starberg. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Sie streckte die Hand aus, packte Andys Arm und zerrte sie wütend zu sich hinüber. Irgend etwas in Liz schien zu Eis zu erstarren. Mit einem Mal verspürte sie keine Gewissensbisse mehr. Das war nicht der Schmerz einer Mutter, die ihr Kind verlor. Sie hatte nicht einmal so falsch gelegen, als sie vorhin einen Vergleich mit Aschenputtel gezogen hatte. Diese Frau kämpfte nicht um ihr Kind, sondern um ihren Besitz. Sie würde sich mit aller Kraft wehren, aber aus den gleichen Gründen, aus denen sie auch um einen Schrank oder ein Schmuckstück kämpfen würde.

»Machen Sie sich nicht die Mühe, Andys Sachen zusammenzusuchen«, sagte sie kühl. »Wir nehmen sie mit. Jetzt gleich. Was sie braucht, bekommt sie von uns.«

»Nichts werden Sie!« keuchte Frau Starberg. »Nichts, verstehen Sie?! Sie werden verschwinden, und zwar sofort. Verlassen Sie mein Haus, bevor ich die Polizei rufe.« Liz lächelte, aber es war nicht die geringste Spur von Humor oder auch nur Wärme darin. »Das ist gar keine schlechte Idee, Frau Starberg«, sagte sie. »Vielleicht erspart uns das eine Menge unnötigen Ärger. Vielleicht bringt es Ihnen auch noch eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung. Wir werden sehen.« Ihr Lächeln wurde ein bißchen kälter. »Ich habe mit meinem Rechtsanwalt telefoniert, ehe wir gekommen sind, wissen Sie? Was wir hier tun, ist völlig legal.«

Das war zumindest zweifelhaft, wenn nicht glatt gelogen - sie hatte mit ihrem Anwalt in Hamburg gesprochen, und sie hatte regelrecht gehört, wie er blaß wurde, als sie ihm von ihrem Vorhaben erzählte. Aber ihre Rechnung ging auf. Die Drohung, die dem Begriff Rechtsanwalt für einen Menschen wie Frau Starberg innewohnte, reichte schon aus.

»Freiheitsbe...«, ächzte sie. »Sie sind ja verrückt! Das Kind bleibt hier. Fünfzehn Jahre lang hat sich der Kerl nicht um seine Tochter gekümmert, und jetzt...«

»Hat er zum ersten Mal die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen«, unterbrach sie Liz.

»Aber, Sie können doch nicht... ich meine, so etwas braucht doch Zeit. Sie können nicht nach fünfzehn Jahren auftauchen und innerhalb von fünf Minuten das Kind mitnehmen. Sie müssen mir Zeit lassen. So etwas will gründlich vorbereitet sein.«

»Zeit?« wiederholte Liz spöttisch. »Wozu? Um das Mädchen weg zubringen?« Der betroffene Ausdruck auf Frau Starbergs Gesicht sagte ihr, daß sie mit ihrer Behauptung ins Schwarze getroffen hatte. »Ich sehe keinen vernünftigen Grund, noch zu warten. Und jetzt spielen Sie nicht die gequälte Mutter«, fügte sie in absichtlich verletzendem Tonfall hinzu. »Das nehme ich Ihnen nicht ab.« Frau Starberg wurde plötzlich ganz ruhig. Vielleicht spürte sie instinktiv, daß sie Liz nicht gewachsen war. Aber vielleicht schlug sie auch nur eine andere Taktik ein.

»So«, sagte sie. »Das nehmen Sie mir nicht ab. Sie können sich nicht vorstellen, was in einem Menschen vorgeht...«

Liz ließ sie auch diesmal nicht zu Ende sprechen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was einen Menschen dazu bringen kann, einen Vater nur alle vier Wochen zu seiner Tochter zulassen«, sagte sie ruhig. »Und ich kann mir noch viel weniger vorstellen, wie grausam jemand sein muß, der einen Menschen mit der Drohung gefügig macht, sein Kind in ein Heim zu stecken.«

»Sie wissen nicht, was Sie tun«, sagte die Starberg leise. »Dieses Kind ist nicht normal.«

»Es kommt mir normaler vor als Sie«, antwortete Liz ungerührt. »Und ich denke, ich werde mit ihm fertig. Geben Sie uns Andys Papiere - soweit es welche gibt?«

»Fällt mir nicht ein«, sagte Frau Starberg stur. »Weder sie noch das Kind. Andy wurde meiner Obhut übergeben. Ich habe all die Jahre für sie gesorgt, ohne einen Pfennig dafür zu verlangen. Sie können nicht einfach mit Ihrem dicken Wagen und... und all Ihrem Geld hier auftauchen und das Kind verlangen. Das wird Herr Ohlsberg entscheiden.«

»Ich kann mir vorstellen, wie diese Entscheidung ausfällt«, sagte Liz. »Aber Sie können von mir aus gerne zu ihm gehen - sobald wir weg sind.«

»Ich lasse Sie nicht gehen«, sagte Frau Starberg noch einmal. Ihre Stimme zitterte, klang aber entschlossen.

»Und wie wollen Sie uns aufhalten?« fragte Liz ruhig. »Mit Gewalt vielleicht?« Sie lächelte, nahm Andy beim Arm und machte einen Schritt in Richtung Tür. »Die Papiere holen wir später. Andys Sachen können Sie behalten, Frau Starberg«, sagte sie. »Das Mädchen hat beinahe meine Figur. Fürs erste werde ich ihr ein paar von meinen Kleidern geben. Später werden wir dann etwas aus der Stadt schicken lassen. Würde es dir gefallen, ein so hübsches Kleid wie ich zu tragen, Andy?« fragte sie, an das Mädchen gewandt.

Andy nickte, obwohl Liz kaum glaubte, daß sie die Frage überhaupt verstanden hatte. Es ist zu leicht, dachte sie. Sie hatte nicht damit gerechnet, auf unüberwindlichen Widerstand zu treffen, aber die Starberg machte es ihr fast zu einfach. Irgend etwas stimmte nicht.

Sie ging zur Tür, bedachte Frau Starberg mit einem langen, eisigen Blick und wandte sich dann an Peter. »Gehen wir?«

Heyning nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und mühsam. Er sah Frau Starberg mit einem eindeutig ängstlichen Blick an und ging dann mit kleinen, hastigen Schritten an Liz vorbei.

»Wenn Sie jetzt gehen, Heyning«, sagte Frau Starberg, »dann wird Ihnen das leid tun. Ich warne Sie.«

Liz schüttelte den Kopf, griff nach ihrer Handtasche und trat rückwärts aus der Küche heraus. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie haben nichts mehr gegen ihn in der Hand. Finden Sie sich damit ab.«

»Sie...«

»Beschimpfen Sie mich ruhig, wenn es Ihnen Freude bereitet« sagte Liz gelassen. »Aber das ändert auch nichts mehr.«

Sie fuhr herum, verließ mit schnellen Schritten das Haus und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

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