3.

Selbst bei einem so herrlichen Wetter wie heute war der Weg nach Schwarzenmoor beschwerlich. Die Straße war kaum mehr als ein besserer Trampelpfad, auf dem Stefan die ungezählten PS des Sportwagens so gut wie nie zum Einsatz bringen konnte. Vom Hof aus schlängelte sich die Straße in einer scheinbar sinnlosen Folge von Kehren und Wendungen nach Norden, verlief eine Weile parallel zum Waldrand und verschwand schließlich zwischen den dichten, an einer Seite bemoosten Stämmen des Waldes.

Stefan schaltete das Autoradio ein, fummelte eine Zeitlang im Handschuh fach herum und förderte schließlich eine Kassette zutage, die er ins Gerät schob. Ein dumpfer, von dröhnendem Baß begleiteter Schlagzeugrhythmus drang aus den Lautsprechern und vertrieb die leisen Hintergrund-Geräusche des Waldes, die vom dumpfen Röhren des Motors bisher zwar überdeckt, aber nicht ganz verschluckt worden waren. Liz verdrehte demonstrativ die Augen, quittierte Stefans provozierendes Grinsen mit einem bösen Blick und widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich vorzubeugen und das Gerät auszuschalten. Einer der wenigen Punkte, über die sie sich fast regelmäßig in die Haare gerieten, war ihr unterschiedlicher Geschmack in Sachen Musik. Aber an diesem Morgen war sie fast froh, daß die stampfenden, hämmernden Heavymetal-Rhythmen das Raunen des Windes und die wispernden Stimmen des Waldes übertönten.

Ein wenig von dem beunruhigenden Etwas, das den ganzen Morgen an ihren Nerven gezerrt hatte, war noch immer in ihr. Und wahrscheinlich würde sie es den ganzen Tag über nicht loswerden. Es war keine wirkliche Furcht mehr, nicht einmal mehr Unruhe, sondern etwas wie ein Kater, ein seelischer Kater, den sie vielleicht betäuben oder ignorieren, nicht aber ganz aus ihrem Bewußtsein verdrängen konnte. So wie ein Alkohol- oder Nikotinkater ihr den Geschmack an jedem Essen verdarb, so sorgte dieser seelische Kater dafür, daß ihr nichts an diesem Tag wirklich gefiel. Es war wie jenes schwefelgelbe Licht, das manchmal während eines Gewitters zu beobachten ist und selbst vertraute und liebgewonnene Dinge fremd und abstoßend erscheinen läßt. Sie wußte nicht, was es war, aber etwas an diesem Morgen - diesem Moment - war falsch. Etwas ...

Etwas begann.

Ja, das war es, dachte sie, während der rote Jaguar wie ein lärmendes Gespenst durch den Wald jagte und mit seinen breiten Reifen häßliche Spuren in den weichen Lehmboden pflügte. Genau das war es, das Gefühl, das sie seit ihrem Erwachen hatte und das - anders als der eigentliche Traum, der schon fast völlig verblaßt war - immer stärker in ihr wurde.

Etwas hatte begonnen, an diesem Morgen. War erwacht.

Plötzlich war ihr kalt.

Sie schauderte, zog den roten Strick schal enger zusammen, den sie kurzerhand zu einem Kopftuch umfunktioniert hatte, als sie in den offenen Wagen einstieg, und versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht.

Ja, irgend etwas hatte begonnen, an diesem Morgen. Wenn sie nur wüßte, was! Sie lehnte sich zurück, schloß die Augen und verfolgte für Minuten das Spiel des fleckigen, von den Kronen der Bäume zu stroboskopischem Auf blitzen zerlegten Lichtes, das durch ihre geschlossenen Lider hin durchschimmerte. Erneut fiel ihr auf, wie kühl es war, und natürlich fiel ihr auch dafür fast sofort eine plausible Erklärung ein: Die Sonne brannte trotz der frühen Stunden bereits machtvoll vom Himmel, aber hier im Wald, am Grunde dieses mächtigen, von den weit ausladenden Ästen der Bäume gebildeten natürlichen Tunnels wurde es niemals richtig warm. So wie der Wald einen Teil der nächtlichen Dunkelheit in den flirrenden Schatten zwischen seinen Ästen zurück behielt, speicherte er auch einen Teil ihrer Kälte. Das war die eine, logische Erklärung. Aber vielleicht gab es noch eine andere, irreale...

Sie zog die dünne Strickjacke enger um die Schultern, griff dann nach hinten und schlüpfte umständlich in ihre Lederjacke, behindert durch die Enge des winzigen Sportwagens. Stefan lächelte ihr flüchtig zu und konzentrierte sich dann wieder auf den Weg. Seine Finger klopften den Takt der Musik auf dem polierten Holzlenkrad mit. Er wirkte gelöst und entspannt, aber sie wußte, wie sehr diese Schleicherei - wie er es nannte - an seinen Nerven zerrte. Der Weg war an sich schon schlecht, und der Jaguar war wohl das denkbar ungeeignetste Fahrzeug für diese Art von Straße. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte unter einem ununterbrochenen Trommelfeuer abgebrochener Äste und Steine, und die harte Sportfederung des Wagens gab jede Erschütterung ungemildert an seine Insassen weiter.

Sie brauchten fast eine halbe Stunde, ehe sie aus dem Wald heraus waren, und dann noch einmal die gleiche Zeit, um sich auf dem schmalen, schlaglochübersäten Weg bis Schwarzenmoor vorzutasten.

Wie üblich war Stefan am Schluß vollkommen mit den Nerven fertig. Wie die meisten impulsiven Menschen war er bis zur Krankhaftigkeit ungeduldig, und das Gefühl, in einem Wagen zu sitzen, der gut und gerne seine zweihundertfünfzig Kilometer machte, und trotzdem selten schneller als zwanzig fahren zu können, brachte ihn zur Raserei. Als sie schließlich auf die kopfsteingepflasterte Hauptstraße des Dreihundert-Seelen-Dorfes ein bogen, war seine Stimmung auf den Nullpunkt gesunken. Er schaltete herunter, ließ den Motor wie zum Trotz ein paarmal schrill aufheulen und bog mit kreischenden Reifen auf den Marktplatz ein. Der Jaguar machte einen Satz, als Stefan das Gaspedal bis zum Boden durch trat. Die Beschleunigung preßte Liz in den Sitz. Die breiten Reifen drehten auf dem feuchten Kopfsteinpflaster durch und griffen dann wieder. Der Wagen bockte, stellte sich für eine halbe Sekunde quer und kam schließlich mit kreischenden Bremsen direkt vor dem Gasthaus zum Stehen; mit einem so harten Ruck, daß Liz reichlich unsanft in die Gurte geworfen wurde und schmerzhaft das Gesicht verzog.

»War das nötig?« fragte sie.

Stefan grinste, griff zum Zündschlüssel und ließ wie ein trotziges Kind den Motor noch einmal kraftvoll aufheulen, ehe er ihn abstellte. »Nein. Aber es hat Spaß gemacht.«

»Denen da nicht.« Liz deutete mit einer Kopfbewegung au feine Gruppe Einheimischer, die bei ihrem dramatischen Auftauchen stehen geblieben waren und den flachen roten Sportwagen mit unverhohlener Mißbilligung betrachteten. Sie konnte nicht verstehen, was sie miteinander redeten, aber es gehörte nicht besonders viel Phantasie dazu, es zu erraten.

Liz hatte keine Ahnung, ob Stefan und sie unter den Bewohnern von Schwarzenmoor wirklich unbeliebt waren - wie sie sich manchmal einbildete -, oder ob das, was sie spürte, nicht einfach nur Gleichgültigkeit war. Aber Stefans dramatische Auftritte sorgten mit Sicherheit nicht dafür, daß sie sich wesentlich beliebter machten.

Stefan tat die Bemerkung mit einem Schulter zucken ab, ließ den Schlüsselbund in seiner zuschnappenden Hand verschwinden und stemmte sich ächzend aus den Lederpolstern.

»Wo gehst du hin?« fragte Liz, während sie selbst die Tür öffnete und den Jaguar auf normalem Wege verließ - was Stefan übrigens sonst auch zu tun pflegte, wenn keine Zuschauer dabei waren. Er war und blieb ein Kind, dachte sie spöttisch. Ein großes, verspieltes Kind. Aber vielleicht war gerade das der Grund, aus dem sie ihn so sehr liebte.

Stefan deutete auf das Gasthaus. »Dorthin. Ich treffe mich mit Ohlsberg. Erledige du in der Zwischenzeit deine Einkäufe.«

»Ich denke, wir wollten gemeinsam mit ihm reden?«

Stefan verzog das Gesicht, als hätte er unversehens in eine Zitrone gebissen. »Natürlich«, sagte er nach kurzem Zögern. »Aber du verlangst doch nicht im Ernst von mir, daß ich dich beim Einkaufen begleite?«

»Und warum nicht? Du brichst dir keinen Zacken dabei aus der Krone. Außerdem«, fügte sie hinzu, weit schärfer als nötig gewesen wäre, »wäre ich ganz gerne dabei, wenn du mit Ohlsberg sprichst.«

Stefans Gesicht verfinsterte sich, und diesmal war sein Zorn nicht nur gespielt. »Sei nicht albern, Schatz«, sagte er. »Du weißt, daß es für mich ein Greuel ist, dir beim Einkaufen zuzusehen. Außerdem wartet Ohlsberg schon auf mich. Es macht keinen guten Eindruck, wenn ich zu spät komme - schließlich wollen wir etwas von ihm.«

»Dann wäre es vielleicht auch ganz gut, wenn wir mit ihm sprechen würden, oder?« fragte Liz spitz.

Stefan überhörte ihre Bemerkung kurzerhand. »Dich würde es ja doch nur langweilen«, sagte er. »Wahrscheinlich wird der alte Torfkopf stundenlang mit mir herumfeilschen wollen. Und du kannst ja nachkommen, sowie du fertig bist.« Er zögerte einen Moment, nickte dann knapp und ging mit schnellen Schritten davon. Liz sah ihm mit einer Mischung aus Ärger und Resignation nach, bis er hinter der wuchtigen Tür der Dorfschänke verschwunden war. Stefans Benehmen ärgerte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie hätte darauf bestehen können, ihn zu begleiten. Aber der Tag hatte sowieso schlecht angefangen, und es hatte keinen Sinn, ihn durch einen überflüssigen Streit - noch dazu wegen einer im Grunde lächerlichen Kleinigkeit - vollends zu verderben. Vermutlich hatte Stefan ohnehin recht - sie würde sich nur langweilen.

Trotzdem ärgerte sie sein Benehmen. Es war nicht Stefans Art, ihr so über den Mund zu fahren. Und nicht ihre Art, es sich gefallen zu lassen.

Sie zündete sich provozierend eine Zigarette an, genoß die mißbilligenden Blicke, die sie trafen, und sah noch einmal zum Dorfkrug hinüber, während sie den kühlen, nach Pfefferminz schmeckenden Rauch in die Lungen sog.

Auf den ersten Blick erinnerte das Gebäude mehr an eine Festung als an ein Gasthaus, und in gewissem Sinne war es das wohl auch - ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der Gasthäuser wirklich etwas von einer Festung an sich gehabt hatten: Kleine, sichere Horte in der unendlichen Einsamkeit eines Landes, das damals zum größten Teil von Wäldern und unberührter Natur und wilden Tieren beherrscht wurde. Es war ein wuchtiges, niedriges Haus mit Fenstern, die wie Schießscharten konstruiert waren: Außen schmal und innen breiter werdend, zusätzlich mit einem engmaschigen Gitter aus dicken, rostigen Eisenstangen gesichert, so daß die kleinen Butzenscheiben dahinter nur am gelegentlichen Auf blitzen eines verirrten Sonnenstrahl es zu erkennen waren. Die Tür war niedrig und breit und machte den Eindruck, als würde sie auch einem ernst gemeinten Versuch, sie aufzusprengen, durchaus standhalten.

Aber der Krug paßte ins Stadtbild von Schwarzenmoor. Früher hatte auf dem hohen, buckligen Hügel westlich der Stadt eine Burg gestanden, aber Zeit und Wind hatten die Mauern zum Einsturz gebracht, und der unermüdlich nachwachsende Wald hatte den Rest des Gemäuers bald überwuchert. Sie hatten die Ruine einmal besichtigt, aber außer einem Haufen alter Steine und halb vermoderten Balken gab es dort oben nichts zu sehen. Aber Schwarzenmoor hatte etwas von der Wehrhaftigkeit dieser Burg behalten. Die Häuser waren flach und wuchtig, mit sandfarbenen, stabilen Wänden und kleinen Fenstern, und sie standen trotz des Überangebotes an Platz eng zusammen, als hätten sie sich wie eine Herde verängstigter Tiere aneinander gedrängt, um vor der Weite des Landes ringsum Schutz zu suchen.

Schon ihr Wagen stellte einen Anachronismus dar. Es gab nicht viele Autos in Schwarzenmoor, und bei den wenigen handelte es sich durchweg um Kleinlaster oder Kombiwagen, von denen keiner jünger als zehn Jahre zu sein schien, als weigere sich der Ort, mehr als nur die allernotwendigsten Erzeugnisse der modernen Technik anzunehmen. Aber Liz mußte zugeben, daß die alten, schwarzen Wagen besser in den Ort paßten als ihr rot lackiertes Ungeheuer. Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein. Dachte man sich die Fernsehantennen auf den Dächern und die altmodische Tankstelle am Ende der Hauptstraße fort, so hätte der Ort gut aus einem vergangenen Jahrhundert stammen können.

Und in gewissem Sinne stimmte das sogar - Schwarzenmoor war so klein und unbedeutend, daß selbst der Krieg an ihm vor übergegangen war, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen; fast, dachte sie, als hätte er diese kümmerliche Ansammlung kleiner Häuser, die sich an einer einzigen Straße drängelten, nicht der Mühe wert befunden, sie zu zerstören. Alles hier war alt. Alt und düster und - zumindest für einen Fremden und ganz bestimmt auf den ersten Blick - manchmal ein wenig furchteinflößend, denn wie seine Bewohner hatte auch die Stadt selbst im Laufe der Zeit etwas von der Kälte und Härte des Landes angenommen, das sie umgab. Es war kein Zufall, daß all diese reetgedeckten Bauernhäuser wie kleine Festungen aussahen. Für einen Moment - als wäre dieser Gedanke der Auslöser dazu gewesen - kam ihr die ganze Kühnheit ihres Vorhabens zu Bewußtsein, sich in dieser Stadt und unter ihren Bewohnern irgendwann einmal zu Hause fühlen zu wollen.

Sie schnippte ihre Zigarette in den Rinnstein, streifte das Kopftuch zurück und knotete es wieder zu dem Schal zusammen, der es eigentlich war. In Gedanken rekapitulierte sie noch einmal die Liste der Dinge, die sie einkaufen wollte. Es war eine ordentliche Liste, und der winzige Kofferraum des Jaguars würde am Ende wahrscheinlich wieder total überfordert sein. Aber das war er jedes mal, und sie hatten doch jedesmal eine Möglichkeit gefunden, ihre Beute irgendwie nach Hause zu bringen - auch wenn diese meistens darin bestand, daß sie mit angezogenen Beinen auf dem Beifahrersitz hockte, einen Pappkarton und ein halbes Dutzend Papiertüten auf den Knien balancierte und sich ein zweites Paar Arme wünschte, um ihre Einkäufe am Herausfallen zu hindern...

Sie überquerte die Straße und betrat den einzigen Lebensmittelladen des Dorfes. Drinnen war es angenehm kühl und dunkel, und die Weitläufigkeit des Raumes strafte das gedrungene Äußere des Gebäudes Lügen.

Nach dem grellen Licht der Vormittags sonne brauchten ihre Augen einige Sekunden, um sich an das schattige Halbdunkel hier drinnen zu gewöhnen. Sie blieb dicht hinter der Tür mit der altmodischen Glocke stehen und wartete, bis die verschieden hellen und dunklen Schatten vor ihr zu den trauten Umrissen des Ladens gerannen. Es war niemand da, wie üblich. Sie war der einzige Kunde, der sich zu so früher Stunde hierher verirrt hatte, aber darüber wunderte sie sich schon nicht mehr. Sooft sie hier gewesen war, hatte sie den Laden niemals anders als leer und still vorgefunden. Offensichtlich war sie die einzige, die so früh am Morgen bereits Besorgungen machte - ihr Lebensrhythmus und der der Schwarzenmoorer schienen sich gründlich zu unterscheiden.

Die andere Erklärung - nämlich die, daß die anderen Kunden dieses Geschäftes vielleicht weg blieben, weil sie ihre Nähe mieden und ihr aus dem Weg gingen - schob sie in eine weit entfernte Ecke ihres Bewußtseins, wo sie unter einem ganzen Haufen anderer Gedanken und Vorstellungen verschwand, die sie als fast ebenso unangenehm abgelegt hatte und nach Kräften ignorierte.

Nachdem sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, begann sie im Laden auf und ab zu gehen und die ausgelegten Waren zu mustern. Noch vor einem halben Jahr hätte sie es als Zumutung empfunden, in einem solchen Geschäft einkaufen zu müssen. Es war ein typischer Kolonialwarenladen, in dem es - angefangen von einer frisch geschlachteten Schweinehälfte, von der noch Blut in kleinen, regelmäßigen Tropfen herab lief und um die in spätestens ein paar Stunden bereits die Fliegen summen würden, bis zu Hammer und Nägeln - einfach alles zu geben schien. Hätte hinter der Theke noch ein abschließbarer Glasschrank mit Gewehren und 45er Colts gehangen, wäre er glatt als Dekoration für einen Wild-West-Film durchgegangen, dachte Liz spöttisch. Selbst das obligatorische Glas mit buntgeringelten Zuckerstangen war da, fleckig von zahllosen schmutzigen Kinderfingern und direkt neben der uralten Registrierkasse aufgebaut. Auf einer großen, wuchtigen Theke, die die gesamte Süd wand des Raumes in Anspruch nahm, lagen Ballen von Stoff neben Gläsern mit Mehl, Salz, Zucker, Gewürzen und Süßigkeiten. In einer Ecke gammelte ein Ständer mit verstaubten Zeitungen vor sich hin. Die Zeitungen waren schon alt gewesen, als sie das erste Mal hier gewesen war, und wahrscheinlich waren es immer noch dieselben. Die Leute von Schwarzenmoor schienen sich nicht sonderlich für das zu interessieren, was in der Welt vor sich ging.

Sie trat näher an den Zeitungsständer heran und musterte kritisch die Titel der wenigen Bücher, die darunter aufgereiht waren. Beldersen, der Ladeninhaber, versah neben einem Dutzend anderer Aufgaben auch noch die des Bibliothekars im Ort, aber seine Auswahl war nicht berauschend.

Einer der Bände war neu.

Sie beugte sich vor, angelte das Buch aus dem Ständer und schlug es auf. Türme, las sie auf dem Deckblatt. Roman von Stefan König. Gleichermaßen erstaunt wie erfreut, begann sie indem Band zu blättern. Tatsächlich - es war Stefans neuester Roman, noch dazu die teure Lederausgabe, von der bisher nur wenige hundert Exemplare verkauft worden waren.

»Ah, Frau König. Schön, Sie wieder einmal bei uns zusehen.«

Sie drehte sich um, stellte das Buch mit einer hastigen Bewegung an seinen Platz zurück und erwiderte Beldersens Kopfnicken. Absurd erweise machte es sie verlegen, daß Beldersen sie mit einem von Stefans Büchern in der Hand überrascht hatte - obwohl er es zweifellos zu keinem anderen Zweck als genau diesem hier aufgestellt hatte. Sie spürte, daß sie eigentlich hätte antworten müssen, aber wie stets fühlte sie sich in seiner Gegenwart verunsichert.

Der Mann war eigentlich freundlich, und im Grunde hatte sie von ihm noch kein Wort gehört, das nicht nett oder zuvorkommend war - wenn sie es ganz genau nahm, war er einer der wenigen Menschen in Schwarzenmoor, die bisher wirklich freundlich zu Stefan und ihr gewesen waren -, aber sie mochte ihn nicht. Irgend etwas an ihm stieß sie ab. Sie wußte nicht, was es war, aber das Gefühl war zu deutlich, um es zu ignorieren; wie ein übler Geruch, den man nicht bewußt wahrnahm, der einen aber nachhaltig ab stieß. Dabei war Beldersen sogar ein gut aussehender Mann, auf seine Art: er war alt, sicherlich weit über sechzig, dabei aber noch immer stark und sehr viel breitschultriger, als Stefan es jemals sein würde. Seine Stimme war sehr tief, und mit Ausnahme Ohlsbergs war er wohl der einzige in Schwarzenmoor, der keinen Akzent sprach. Seine linke Hand war verkrüppelt und bestand nur noch aus Daumen und zwei Dritteln des Zeigefingers. Die anderen Glieder waren verschwunden, Opfer einer schrecklichen Brandwunde, die Jahrzehnte alt sein mußte, denn was von seiner Hand übrig war, sah so unappetitlich aus, daß es einfach aus der Zeit vor der Erfindung der plastischen Chirurgie stammen mußte.Aber Beldersen hatte ein solches Geschick entwickelt, daß seine Behinderung kaum auffiel. Und Liz war zu taktvoll - oder feige? - gewesen, ihn nach der Herkunft seiner Verletzung zu fragen.

Und das war es auch gar nicht, was sie ab stieß. Er war ihr unheimlich. Sie wußte, daß das Gefühl ungerecht war, und die Schuldgefühle, die dieses Wissen in ihr auslöste, vertieften ihre Abneigung Beldersen gegenüber noch mehr, einer jener alltäglichen kleinen Teufelskreise, aus denen es kau mein Entrinnen gab; vor allem, weil sie einfach zu unwichtig schienen, um große Energien auf ihre Überwindung zu verschwenden.

Über Beldersens Gesicht flog die Andeutung eines Lächelns, als er sah, wie sie das Buch zurückstellte. »Sie haben es schon gesehen«, stellte er fest. Sie wußte, daß er jetzt eine ganz bestimmte Antwort erwartete, vielleicht auch ein Zeichen von Freude, von Geschmeichelt sein, eine Frage. Gott, wenn er wüßte, wie sehr sie diese Szenen haßte, dieses ungläubige: Ach, das sind wirklich Sie? Es gab wenig, was so schnell und so gründlich lästig werden konnte wie Ruhm.

Betont kühl wandte sie sich wieder zu ihm um. »Ja. Ich war ehrlich gesagt überrascht, das Buch hier zu finden.«

»So?« Beldersen lächelte erneut. »Ich finde, wenn ein so kleiner Ort wie der unsere schon einen so berühmten Einwohner hat, sollten wir wenigstens mitreden können, wenn über seine Bücher gesprochen wird.«

Liz bezweifelte, daß Beldersen das konnte - selbst wenn er das Buch lesen würde. »Haben Sie es gelesen?« fragte sie, nicht aus wirklichem Interesse, sondern nur, um ihm einen Gefallen zu tun. Sie bezweifelte, daß Beldersen in seinem ganzen Leben irgendetwas anderes gelesen hatte als die Bibel, seine Schuhkarton-buchführung und die Einkaufs listen seiner Kunden. Und wie sie erwartet hatte, schüttelte Beldersen den Kopf. Sein Gesicht lag halb im Schatten, so daß sie den Ausdruck darauf nicht genau zu erkennen vermochte, aber sie glaubte fast, so etwas wie ein abfälliges Glitzern in seinen Augen wahrzunehmen. Machte er sich über sie lustig?

»Noch nicht, Frau König. Aber ich denke, ich werde es mir in den nächsten Tagen vornehmen. Wenn es mir gefällt, kaufe ich vielleicht noch ein paar Exemplare dazu.« Er lächelte, und obwohl an diesem Lächeln nichts Unechtes war, vertiefte es ihre instinktive Abneigung gegen ihn noch. »Ich verstehe nichts von Literatur, wissen Sie, aber die Leute fragen mich schon mal um Rat, wenn sie ein Buch kaufen, um es zu verschenken; zu Weihnachten oder zur Konfirmation. Ist es gut?«

Liz zögerte. Einen Moment lang war sie fast versucht, ihm wahrheitsgemäß zu sagen, daß sie noch nicht eine Zeile von dem gelesen hatte, was Stefan schrieb, ließ es aber dann bleiben. Stefan mochte es nicht, wenn sie es herum erzählte, obwohl es die Wahrheit war. Er selbst ließ keine Gelegenheit aus, sich bitterlich darüber zu beschweren, daß seine eigene Frau nichts von dem las, was er schrieb, aber er mochte es nicht, wenn sie es jemandem erzählte. »Sie... Sie können gerne ein paar handsignierte Exemplare von uns haben«, sagte sie ausweichend. »Verbilligt. Stefan ... mein Mann bekommt sie zum halben Preis.« Beldersen zuckte die Achseln und überlegte einen Moment, so daß sie schon fast befürchtete, zu viel gesagt zu haben. Aber dann nickte er, trat einen Schritt aus dem Schatten hinter der Theke hervor und legte die Hände auf die zernarbte Platte. Seine linke, verkrüppelte Hand verursachte dabei ein sonderbares, unangenehmes Geräusch, ein sattes, feuchtes Platschen, als fiele ein Klumpen rohes Fleisch in feuchten Lehm. Ein leises Gefühl von Ekel machte sich in Liz breit.

»Was kann ich sonst noch für Sie tun?« Der plötzliche Stimmungswechsel überraschte sie, aber sie ließ sich nichts anmerken. Letztlich konnte sie nicht verlangen, daß sich die Leute hier von einem Tag auf den anderen änderten, schon gar nicht Beldersen, der ihre Abneigung spüren mußte. Aber immerhin - der Anfang schien gemacht zu sein. Sie rasselte den ersten Teil ihrer Bestellung herunter und sah zu, wie er die gewünschten Dinge mit schnellen, zielsicheren Bewegungen aus dem Chaos in seinen Regalen heraussuchte. Es versetzte sie immer wieder in Erstaunen, ihm dabei zuzusehen. Irgendwie mußte Beldersen es nämlich fertiggebracht haben, gewisse Grundsätze der Physik außer Kraft zu setzen - vor allem den, daß das Innere eines Raumes niemals größer sein konnte als sein Äußeres. Sein Laden war kaum größer als ihr eigenes Wohnzimmer, aber erbrachte es spielend fertig, selbst mit dem Warenangebot eines Supermarktes zu konkurrieren. Wenn sie nicht gerade Dinge wie gegrillte Heuschrecken oder Ameisen in Preißelbeergelee verlangte, so existierten die Worte: habe ich nicht für Beldersen nicht.

Als er fertig war, türmte sich vor ihr ein Berg von Tüten und Paketen, über den sie kaum noch hinwegsehen konnte.

Beldersen grinste und entblößte dabei eine Doppelreihe bräunlicher Stummel, wo früher einmal Zähne gewesen waren. Ein Zahnarzt schien nicht zu den Errungenschaften der modernen Zivilisation zu gehören, die bis Schwarzenmoor vorgedrungen waren. »Alles in Ihren Wagen, wie üblich?« fragte er feixend. Liz zögerte einen Moment. Sie hatte noch nicht die Hälfte von dem zusammen, was sie eigentlich brauchte - aber der Berg vor ihr war schon jetzt fast mehr, als der Jaguar verkraften konnte. Sie würde so oder so noch einmal fahren müssen, dachte sie resignierend.

Sie nickte ergeben und nahm sich einen Teil der Sachen, während Beldersen sich den Rest griff, damit zur Tür balancierte und sie mit dem Fuß öffnete. Er brachte sogar das Kunststück fertig, auf einem Bein zurückzuhüpfen und die Tür dabei für sie mit dem anderen Fuß aufzuhalten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, obwohl er unter der Last der Pakete und Tüten fast zusammenzubrechen schien.

Sie schloß geblendet die Augen, als sie das Geschäft verließ und in das grelle Sonnenlicht hinaustrat. Es war heiß geworden, während sie im Laden gewesen war. Die Luft schien zu flimmernden Klumpen geronnen zu sein, und sie rang unwillkürlich nach Luft, als sie mit vollbeladenen Armen hinter Beldersen auf den schmalen Gehsteig hinausbalancierte. Das Licht ließ die Konturen der Häuser klar und mit beinahe schmerzhafter Deutlichkeit hervortreten, wie schwarze Scherenschnitte, die mit Linien aus Gold umrandet waren. Die Straße glänzte, als wäre sie mit flüssigem Blei übergossen, und aus den Fensterscheiben sprangen ihr kleine, schmerzhafte Lichtpfeile in die Augen.

Der Jaguar war ein greller Farbklecks auf der anderen Straßenseite, ein störendes Etwas, das häßlich gegen die pastellfarbenen Häuser und die zu schwarzen, lautlosen Schatten gewordenen Menschen ringsum kontrastierte. Für einen Moment wirkte alles in ihrer Umgebung sonderbar irreal; ein Stück aus einem Bild von Dali, das zu bizarrem Leben erwacht war.

Sie benötigte fast eine Viertelstunde, um alles im Wagen zu verstauen, und als sie fertig war, türmten sich Tüten und Pakete auf der schmalen Rückbank und im Fußraum von dem Beifahrersitz.

Liz betrachtete das Durcheinander und seufzte tief. Sie hatte den Versuch, Stefan zum Kauf eines größeren Wagens zu bewegen, längst aufgegeben. Dafür beschwerte er sich auch nicht, wenn er seinen Platz mit Paketen und Päckchen teilen mußte und kaum noch die Füße aufs Gaspedal bekam. Aber irgendwann, dachte sie resignierend, würde eine ihrer Heimfahrten auf diese Weise im Moor oder vor einem Baum enden. Sie öffnete das Handschuh fach und zog Scheckbuch und Kugelschreiber hervor, legte beides im letzten Augenblick wieder zurück und griff statt dessen nach der Brieftasche. Auch das war etwas, was sie erst mühsam hatte lernen müssen - man bezahlte in Schwarzenmoor seine Lebensmittel-rechnungen nicht mit einem Euroscheck. Beldersen hatte niemals wirklich etwas gesagt, aber sie hatte seinen Widerwillen sehr deutlich gespürt, und es hatte lange gedauert, bis sie herausgefunden hatte, daß die Leute hier unter dem Wort Geld noch richtiges Geld aus Papier oder Metall verstanden, kein Plastik-Geld, dessen Wert sie selbst einsetzen konnten. »Wie viel?«

»Hundert siebenunddreißig.«

Sie zählte die Summe ab - wie üblich ein wenig erstaunt, wie gering sie angesichts der ungeheuren Menge von Dingen war, die sie aus Beldersens Laden herausgetragen hatten - und gab sie ihm. Ein leises Ekelgefühl breitete sich in ihr aus, als er mit seiner verkrüppelten Hand danach griff, die Scheine achtlos zusammenfaltete und sie zusammen mit einer Handvoll Kleingeld in der Tasche seines speckigen Kittels verschwinden ließ. »Danke.«

»Nichts zu danken. Es steht Ihnen zu.«

Beldersen starrte sie einen Sekundenbruchteil lang mit einem undeutbaren Blick an, tippte sich zum Abschied mit Zeige- und Mittelfinger an den Rand einer nicht vorhandenen Mütze und ging zum Laden zurück.

Nach einem letzten, stirnrunzelnden Blick auf das Chaos im Wagen drehte sie sich um und ging zum Gasthaus hinüber. Das war einer der Vorteile dieses gottverlassenen Kaffs, dachte sie spöttisch: sie konnte all diese Sachen unbesorgt im Wagen liegen lassen. Niemand würde etwas davon wegnehmen oder auch nur verändern.

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