19.

Sie fanden in dieser Nacht beide nicht mehr viel Schlaf, aber Liz hatte sich auch den ganzen Tag über nicht aus dem Haus gerührt, und Stefan hatte mit Argusaugen darüber gewacht, daß sie nicht mehr als das Aller notwendigste tat.

Zu ihrer eigenen Verblüffung hatte sie sich eingestehen müssen, daß er ihr die Szene vom Morgen nicht halb so übelnahm, wie sie erwartet hatte. Nach allem, was bisher geschehen war, hatte sie ganz instinktiv angenommen, das er Ohlsbergs Partei ergreifen würde, zumindest hinterher, wenn sie allein waren. Sie hatte damit gerechnet, daß er sie zur Rede stellen und vielleicht sogar einen Streit vom Zaun brechen würde - aber er hatte es nicht getan.

Vielleicht war auch seine Geduld erschöpft, und möglicherweise ging auch ihm Ohlsbergs Verhalten entschieden über die Hutschnur. Vielleicht hatte er auch einen anderen Grund, aber gleich, warum: er hatte nicht ein einziges vorwurfsvolles Wort verloren; nicht einmal einen Blick. Und Stefan war nie ein guter Schauspieler gewesen. Sie hätte es gespürt, wenn er sich nur verstellt hätte. Seine Sorge war echt. Sie hatten sich beinahe gestritten, als sie am späten Nachmittag in die Küche gegangen war und mit Vorbereitungen für das Abendessen begonnen hatte, und sie hatte Stefan fast mit Gewalt vom Herd weg zerren müssen - was allerdings angesichts seiner Kochkünste purer Selbstverteidigung gleichkam.

Aber immerhin - sie hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, Zeit genug, sich darüber klar zu werden, daß sie nicht weiter tatenlos herum sitzen und abwarten konnte, was als nächstes geschah. Sie wußte, daß Stefan ihr nicht glaubte, auch wenn er sich alle erdenkliche Mühe gab, den gegenteiligen Anschein zu erwecken. Und wie konnte er auch? Alles, was er gesehen hatte, waren eine hysterische Frau und ein Glas, das sich zugegebenermaßen scheinbar von selbst bewegt hatte - aber dafür ließen sich ein halbes Dutzend Erklärungen finden, und jede einzelne davon war mindestens ebenso logisch und überzeugend wie das Wirken von Geistern.

Nein, sie mußte etwas unternehmen. Sie mußte endlich anfangen, sich zu wehren - und dieser alte Idiot Ohlsberg erschien ihr da gerade der richtige, um einen Anfang zumachen.

Sie war mittlerweile fest davon überzeugt, daß es ganz und gar kein Zufall gewesen war, daß sie ihn hier überraschten. Wenn man einmal bereit war, die Existenz eines unsichtbaren Was-auch-immer zu akzeptieren, das über diesen Hof wachte, dann war alles ganz einfach: Stefan und sie - vor allem sie! - waren zurückgerufen worden. Sie hatte das Gefühl der Bedrohung ja über deutlich gespürt, als sie sich dem Hof genähert hatten, und nicht nur sie allein, sondern auch Stefan. Sie hatten nur nicht begriffen, daß nicht sie es waren, denen diese Bedrohung galt, sondern das Haus selbst. Aus irgendeinem Grund, den sie jetzt noch nicht zuerkennen vermochte, fühlte sich das Haus von Ohlsberg bedroht, und es hatte sie zu Hilfe gerufen. Ja - so absurd es klang, ganz genau so mußte es gewesen sein.

Das Abendessen verlief in gedrückter Stimmung, die sicherlich auch mit ihrer Übermüdung zusammenhing - sie hatten beide eine Nacht ohne Schlaf hinter sich. Sowohl Stefan als auch sie selbst vermieden es in stummer Übereinkunft, irgend etwas zur Sprache zu bringen, was mit dem Zwischenfall vom Morgen in Zusammenhang stehen konnte.

Als sie fertig gegessen hatten und Liz damit begann, das schmutzige Geschirr zusammenzuräumen, stand Stefan wortlos auf und ging auf sein Zimmer, um noch zu arbeiten. Seit sie hier hergezogen waren, hatte er sich abgewöhnt, abends und nachts zu schreiben, und es war das erste Mal seit Monaten, daß er nach dem Abendessen noch einmal an seine Schreibmaschine ging. Vermutlich wollte er allein sein, sonst nichts. Und Liz war ihm nicht einmal böse; im Gegenteil. Sie verstand ihn. Sie verstand ihn nur zu gut.

Sie wartete, bis das Poltern und Stuhl scharren über ihrem Kopf aufgehört hatte und von einem gedämpften Klappernder Schreibmaschine abgelöst wurde, ehe sie das Geschirr in die Spülmaschine stopfte und noch einmal aus dem Haus ging. Es war kühl geworden, und Liz spürte alle Anzeichen vollkommener Übermüdung: zu dem schlechten Geschmack auf ihrer Zunge und den grauen Schlieren vor den Augen kam jetzt auch noch Kälte. Sie fror, und wenn sie den Fehler beging, sich zu schnell zu bewegen, wurde ihr schwindelig.

Sie blieb noch einmal stehen, kehrte nach einem raschen Blick in den Himmel ins Haus zurück und zog ihre Windjacke über, ehe sie zur Scheune ging. Peter war ihr und Stefan den ganzen Tag über aus dem Weg gegangen, was zwar verständlich war, ihr schlechtes Gewissen aber noch mehr schürte - und sie hatte noch einen anderen Grund, mit ihm zu reden. Eine eher vage Idee bisher, die sie selbst noch nicht ganz ausformuliert hatte - aber sie spürte, daß sie auf dem richtigen Weg war. Sie glaubte zumindest, eine Möglichkeit gefunden zu haben, Ohlsberg empfindlich zutreffen - und zwar mit Peters Hilfe. Aber sie mußte behutsam vorgehen.

Zu ihrer Enttäuschung war Peter nicht in der Scheune. Sie hatte in seinem Zimmer nach ihm gesucht und automatisch angenommen, ihn über dem auseinandergenommenen Traktor vorzufinden, nachdem sie ihn dort nicht angetroffen hatte. Aber die Scheune war leer.

Sie verließ das Gebäude, blieb einen Moment unschlüssig stehen und ging schließlich um das Haus herum. Der Wind schlug ihr kalt ins Gesicht, und die Farben kamen ihr allesamt gedämpfter und matter vor, als sie sie in Erinnerung hatte; und nicht nur sie, sondern auch die Geräusche. Natürlich war dieser Eindruck falsch - es war ihre eigene Müdigkeit, die sie die Dinge allesamt feindseliger und abweisender erkennen ließ, als sie in Wahrheit waren. Eversmoor war wie immer und wenn sich hier überhaupt etwas verändert hatte, dann aller höchstens sie. Nein - das einzig Vernünftige wäre wirklich, wenn sie den Nachmittag Nachmittag und Gott einen guten Mann sein ließ und sich ins Bett legte, um erst einmal achtzehn Stunden hintereinander durchzuschlafen - ein todsicheres Rezept, um die Welt hinterher viel freundlicher aussehen zu lassen. Aber sie wäre kaum sie selbst gewesen, wenn sie auf irgendwelche Vernunftsgründe gehört hätte; nicht in einer Situation wie dieser und an einem Tag wie heute. Sie suchte nicht weiter nach Peter, aber sie ging auch nicht ins Haus zurück, sondern öffnete nach kurzem Zögern - und fast ohne selbst zu wissen, warum eigentlich - die Hintertür und betrat den rückwärtigen Teil des Hauses. Die Tür knarrte in den Angeln und klemmte im hinteren Drittel, aber der Spalt war breit genug, daß sie sich hin durchzwängen konnte.

Draußen war es trotz der vorgerückten Stunde noch taghell - immerhin war es Ende Mai -, und trotzdem war es ein Schritt zurück in die Dämmerung, denn die wenigen Fenster waren allesamt klein und außerdem vor dreißig Jahren zum letzten Mal geputzt worden. Das bißchen Licht, das die blinden Scheiben durch ließen, war grau und schien aus Blei gegossen zu sein - der Vergleich erschien ihr selbst absurd, aber das Wort drängte sich ihr mit solcher Macht auf, daß sie es einfach benutzen mußte. Trotzdem hatte sie keinerlei Schwierigkeiten, sich zu orientieren - sie war oft genug hier gewesen, und nichts hatte sich verändert, seit sie den Hof gekauft hatten; so, wie hier wahrscheinlich seit drei oder vier Jahrzehnten alles unverändert geblieben war. Sie hatten dort mit den Renovierungsarbeiten begonnen, wo die Vorbesitzer der Farm bei ihrem überhasteten Aufbruch aufgehört hatten, und die hinteren, stärker verfallenen Teile des Wohnhauses gehörten nicht dazu. Dabei, dachte sie wehmütig, lagen hier eigentlich die schöneren Räume - ein halbes Dutzend unterschiedlich großer, auf zwei ineinander greifenden Ebenen angelegter Zimmer; eine Architektur, die ihr heute ebenso überraschend modern und zeitgemäß erschien wie am ersten Tag, als sie sie gesehen hatte. Hier war jetzt alles voller Staub und Schmutz und altem Gerümpel, und trotzdem glaubte sie noch etwas von der Lebendigkeit zu spüren, die diesen Räumen einst innegewohnt hatte.

Sie hatte sich schon oft gefragt, wie das Haus wohl in seiner Blütezeit ausgesehen haben mochte - nicht nur der kleine, vordere Teil des Hauses, den sie bewohnten, sondern das gesamte Gut -, aber seltsamerweise gelang es ihr nicht, das Gebäude in ihrer Vorstellung zu rekonstruieren. Aber sie war sicher, daß es sehr schön gewesen sein mußte, ein Heim, in dem man glücklich und geborgen sein konnte.

Vielleicht würde es eines Tages wieder dazu werden, wenn es Stefan und ihr gelang, es wieder zum Leben zu erwecken.

Aber nein, das stimmte ja gar nicht - sie mußten hier nichts zum Leben erwecken, denn dieses Haus war nicht tot. Selbst hier, wo sich seit einer Generation allenfalls noch Ratten und Spinnen herum trieben, spürte sie das Leben, das dieses Haus erfüllte. Liz lächelte. Es war sonderbar, welche Gedanken einem durch den Kopf schossen, wenn man nur müde genug war.Was für ein Unsinn!

Und doch kam er wahrscheinlich nicht von ungefähr. Sie fühlte sich immer sonderbar, wenn sie hier war, und sie hatte sich vom ersten Tag an von diesem Teil des Gutes sehr viel stärker angezogen gefühlt als von Stefans und ihrem Reich. Wahrscheinlich gab es sogar eine durchaus rationale Erklärung dafür - das heruntergekommene Haus hatte etwas von verbotenem Terrain, etwas von Gefahr und Unentdeckte man sich; es war das Kind in ihr, die romantische Schwärmerin, die niemals erwachsen werden würde, die die vergammelte Ruine liebte.

Und trotzdem ...

Dieser Teil des Gutes war faszinierend, was sicherlich auch an der Zeit lag, aus der er stammte: Die Menschen hier hatten damals meist kleine, verwinkelte Zimmer gebaut, winzige Räume mit Fenstern, die kaum mehr als Schießscharten waren, und die Häuser waren niedrig und buckelig gewesen, dämmerige Höhlen, Festungen gleich, in denen sie sich vor den Unbillen der Natur verkriechen konnten. Häuser, wie sie sie in Schwarzenmoor gesehen hatte und bei deren Anblick sie zu frieren begann. Aber wenn sie sich einmal entschlossen hatten, ein Haus groß anzulegen, dann war es wirklich groß geworden.

Ja, sie verstand, daß Stefan eifersüchtig über diesen Teil des Hauses wachte und ihn für sich beanspruchte. Dieser Raum hier zum Beispiel: Sie wußte nicht einmal, welchem Zweck er ursprünglich gedient hatte - es mußte eine Art Gemeinschaftsraum gewesen sein, ein Eßzimmer vielleicht oder eine Stube für alle Tage, in der die Bauern mit ihren Knechten beisammen sitzen und reden konnten - gute fünfzehn Meter lang, vielleicht acht Meter breit und trotz der kleinen Fenster überraschend hell - wenigstens würde er es irgendwann einmal sein, wenn das Glas in den Fenstern wieder durchsichtig war. Wenn er renoviert wäre, würde er wirklich ein phantastisches Studio abgeben. An der zerbröckelnden Decke waren noch die Reste einer einstmals sicherlich kostbaren Stuckarbeit zu erkennen, und die Wände strahlten mit ihrem groben Fachwerk, das hier und da durch den Schmutz lugte, rustikale Gemütlichkeit aus.

Im Zentrum des Raumes stand das, was von einem großen, hölzernen Tisch übriggeblieben war. Die Beine waren auf einer Seite weggebrochen, die Platte stark geneigt und gerissen. Sie trat heran, betrachtete den Tisch eingehend und fuhr mit den Fingerspitzen über das alte, mürbe Holz. Seltsamerweise fühlte es sich glatt und trocken an, obwohl das Haus von Feuchtigkeit durchdrungen und Tür- und Fensterrahmen überall auf gequollen und verzogen waren.

Vielleicht lag es einfach an dem Holz, aus dem die Platte gefertigt war, überlegte sie. Sie ging in die Hocke, fühlte noch einmal über die seltsam glatte, zeitlose Oberfläche der Tafel. Seltsam - es lag überhaupt kein Staub darauf. Obwohl die Wände, der Schutt, die verzogenen Fenster mit ihren gerissenen Scheiben das Alter dieses Zimmers regelrecht hinaus schrien, war die Platte so sauber, als wäre sie erst vor wenigen Minuten gewischt worden. Wenn sie genau hinsah, konnte sie sich sogar einbilden, noch die Spuren von Gläsern und Geschirr darauf zu erkennen. Was natürlich Unsinn war.

Sie stand auf, schüttelte den Kopf und blinzelte verstört. Sie fröstelte. Etwas... sehr Seltsames lag plötzlich in der Luft. Mit einem Male hatte sich ein Teil der Wirklichkeit verändert, verwandelt, ohne daß sich auch nur ein Stäubchen bewegt hatte. Etwas in der Atmosphäre des Hauses hatte sich geändert; eine spürbare Verschiebung vom Toten zu jener unsichtbaren Grenze des Belebten, Atmenden hin. Plötzlich spürte sie sein Alter, die ungezählten Jahre des Lebens, die wie dünne Spinnweben in der Luft hingen. Ein Satz fiel ihr ein, den Stefan einmal gesagt hatte, gleich am Anfang, als sie gerade hier hergekommen waren: Dieses Haus besaß Geschichte, lebendige, pulsierende Geschichte, keine leblose Historie, etwas, das eng mit den Schicksalen seiner einstmaligen Bewohner verknüpft war. Damals hatte sie nicht verstanden, was er wirklich damit gemeint hatte - aber es war die Wahrheit. Dieses Haus war mehr als ein Haus, es war ein Zuhause.

Eigentlich, dachte sie, müßte sie von hier aus die Ruine des Gesindehauses sehen können. Sie stand wieder aus der Hocke auf, stieg über einen herabgefallenen Balken, setzte vorsichtig den Fuß zwischen Bergen von Schutt und Abfall auf und ging an das große Fenster an der Südseite. Es war vernagelt, aber wie alles in diesem Teil des Hauses waren auch die Bretter Opfer der Zeit geworden. Sonnenlicht drang in schrägen Bahnen durch fingerbreite Risse; und schon ein halbherziger Stoß mit der flachen Hand ließ sie vollends herausbrechen. Das Geräusch, mit dem die morschen Bretter zu Boden polterten, schien seltsam laut und störend zu sein.Falsch. Nichts hier war so, wie es sollte. Sie kam sich vor, als hätte sie sich in ein surrealistisches Bild verirrt.

Aber sie hatte recht gehabt. Zumindest ihr Orientierungssinn funktionierte noch: Die verkohlte Ruine lag beinahe zum Greifen nahe vor ihr. Einem plötzlichen Impuls folgend, drehte sie sich um, verließ das Haus und steuerte die Ruine an.

Seltsam - sie war in all den Monaten niemals auf die Idee gekommen, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Bisher hatte es für sie dort außer ein paar verkohlten Balken und rußgeschwärzten Steinen nichts zu sehen gegeben. Dabei hatte sie sich in Gedanken oft genug mit ihr beschäftigt - aber eben nur mit ihrer Geschichte, nicht mit den Steinen, aus denen sie errichtet worden war. Warum auch?

Sie überquerte den Hof und stieg über die kniehohe, zerfallene Wand, die von der ehemaligen Außenmauer stehen geblieben war. Eigentlich sollte sie Angst vor diesem Gebäude haben, dachte sie. Nach allem, was sie erlebt hatte, sollte sie im Grunde die Nase voll haben von allem, was irgendwie geheimnisvoll oder gefährlich war. Ja, sie sollte Angst haben. Aber sie hatte keine; ganz im Gegenteil. Es war beinahe, als würde sie irgend etwas an dem verfallenen Gemäuer anziehen. Inmitten der Trümmer stand ein Mann.

Jedenfalls glaubte sie es für einen Moment. Für die Dauer eines Lidzuckens sah sie die Gestalt deutlich vor sich: Ein kleiner, untersetzter Mann, massig und in dunkler, grober Arbeitskleidung, das Gesicht eine verwirrende Plastik aus Runzeln und tief eingegrabenen Falten, Hände wie Schaufeln, die lose zu beiden Seiten des Körpers pendelten. Ohlsberg.

Ohlsberg?!

Dann war die Vision verschwunden.

Sie blieb wie angewurzelt stehen; verwirrt, erschrocken und ein wenig - nicht sehr, nur ein wenig - ängstlich. Sie wußte nicht, was sie mehr erschreckte - die Tatsache seines Hierseins oder die Art, auf die er verschwunden war. Es war unmöglich, daß der Mann so schnell verschwand. Aber es war auch unmöglich, daß... Sie schloß die Augen, ballte die Faust und biß sich auf die Knöchel. Mit einem Mal begann sie haltlos zu zittern.

Mach dich nicht selbst verrückt! hämmerten ihre Gedanken. Es ist unmöglich! Unmöglich! Deine Nerven spielen dir einen Streich!

Natürlich. Das war die Erklärung. Das mußte sie sein. Der Tag hatte sie nicht so ungeschoren gelassen, wie sie Stefan gegenüber vorgegeben hatte. Sie war müde, überreizt, nervös. In diesem Zustand konnte sie in den dunklen Schatten zwischen den durcheinander liegenden Balken und Steintrümmern alles mögliche erkennen. Aber sie hatte seinen Blick auf sich gefühlt.

Ohlsbergs Blick...

Sie atmete tief durch, versuchte, die Gespenster, die aus ihrem Unterbewußtsein emporgestiegen waren, dorthin zurückzudrängen, wo sie hingehörten. Die kühle, sauerstoffreiche Luft und die Anstrengung halfen ihr. Es war der gleiche Trick, mit dem sie die Angst schon einmal besiegt hatte:Stell dich der Bedrohung, und überzeuge dich selbst davon, daß es nichts gibt, vor dem du Angst haben mußt. Und es funktionierte auch diesmal.

Mit einer fast zornigen Bewegung trat sie vor und musterte das, was von dem ehemaligen Gesindehaus übriggeblieben war. Es war ein relativ kleines, eingeschossiges Haus gewesen, bestehend aus einem einzigen Raum; jedenfalls gab es keine Spuren einer einstigen Unterteilung, und wenn es welche gegeben hatte, hatte die Zeit sie längst getilgt.

Die Zerstörung war total. Ein Teil des Dachstuhl es war niedergebrochen, während oder kurz nach dem Feuer, und an einer Stelle war sogar das Fundament unter der Wucht der nieder krachenden Balken eingebrochen. Ein dunkles, gezacktes Loch gähnte im Boden. Ein Keller. Sie hatte gar nicht gewußt, daß das Haus einen Keller hatte. Neugierig - aber auch von einer noch vagen Furcht erfüllt, beugte sich vor und lugte in die Tiefe.

Sie wußte nicht genau, was sie erwartet hatte - vermutlich nichts -, aber unter ihr war etwas. Sie wußte nicht, was, und sie war nicht einmal sicher, daß es wirklich da war; aber für einen unendlich kurzen Moment glaubte sie... etwas zu erkennen. Etwas Großes. Glitzerndes. Etwas wie der Panzer eines titanischen schwarzen Insektes, das sich da in der Tiefe unter dem Hof bewegte, sich schabend an Felsen und weichem Erdboden rieb und... Der Boden knarrte ganz leise. Ein sanftes, aber deutliches Zittern lief durch die morschen Bretter. Die Illusion verging, und sie begriff, daßes nur ihre eigene Angst war, die sie sah und hörte; und daß sie sich ziemlich leichtsinnig benahm. Das gezackte Loch im Boden vor ihr bewies, wie morsch die uralten Dielenbretter waren. Auch wenn dort unten keine Alptraummonster darauf warteten, sie zu verspeisen, war es vielleicht alles andere als ratsam, kopfüber in die Tiefe zu stürzen. Behutsam richtete sie sich wieder auf, trat zwei, drei Schritte zurück und betrachtete neugierig die schwarze, an Holzkohle erinnernde Oberfläche eines verbrannten Balkens. Prüfend fuhr sie mit den Fingerspitzen darüber.

Das Holz war warm.

Sie fuhr erschrocken zurück und betrachtete ihre Hand. An ihren Fingerspitzen klebte Ruß.

Sie zögerte einen Moment, legte die ganze Hand auf den Balken und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was ihr die Nerven enden in ihrer Haut signalisierten. Das Holz war warm, aber es war nicht gespeicherte Sonnen wärme, die sie fühlte, sondern eine andere, viel direktere, brennende Hitze. Es schien, als wäre unter der rissigen, zu Holzkohle verbrannten Oberfläche des Balkens noch immer jene höllische Glut zu finden, die dieses Gebäude vernichtet hatte, als wäre das Haus erst in der vorangegangenen Nacht niedergebrannt und nicht vor dreißig Jahren. Sie zog abermals die Hand zurück. Dicker, schmieriger Ruß klebte an ihrer Handfläche, und auf dem Balken waren deutlich die Abdrücke ihrer Finger zu erkennen, all den Jahren des Windes und Regens zum Trotz, die darüber hinweggegangen waren.

Aber das war doch ... unmöglich! dachte sie. Das konnte nicht sein! Sie spürte, wie Hysterie das kalte Erschrecken in ihr zu verdrängen begann, und diesmal war sie hilflos dagegen. Eine blitzartige Vision stieg in ihr auf. Sie sah noch einmal den Schatten des Hauses, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen hatte, das helle Licht hinter den Fenstern, das plötzlich zu greller, vernichtender Glut erwachte und mit ungeheurer Schnelligkeit wie ein kleines, feuriges Tier auf den Dachstuhl und die Balken übergriff, das strohgedeckte Dach ergriff und das Haus in Sekunden in eine lohende, Fackel verwandelte.

Das Geräusch von Schritten ließ sie erschrocken herumfahren. Sie schlug die Hand vor den Mund, spürte, wie sich ihre Muskeln fast ohne ihr Zutun spannten, bereit zu Flucht oder Kampf, je nachdem, was da hinter ihr aufgetaucht sein mochte. Aber es war nur Heyning. Er war aus dem Haus gekommen und mußte sie gesehen haben. »Peter!« stöhnte sie erleichtert. »Sie sind es!«

Peter musterte sie verwirrt. Ein bißchen von dem Schrecken war noch immer in seinem Blick, aber sie glaubte auch ein Wissen darin zu erkennen, das ihr nicht gefiel. Das ihr angst machte. Und er war eindeutig erschrocken, sie hier zu sehen.

»Sie... Sie sollten nicht hier sein, Ma'am«, sagte er mit seiner leisen, wie immer etwas verschüchtert klingenden Stimme. »Es ist gefährlich.«

»Gefährlich?« Liz mußte sich beherrschen, um nicht hysterisch aufzulachen. Was erzählte er ihr?

»Alte Häuser sind immer gefährlich«, sagte Peter. »Es kann immer etwas zusammenstürzen. Oder der Boden bricht ein. Hier ist alles morsch. Sie sollten nicht hier herkommen.«

Liz legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu den stehengebliebenen Sparren empor, die schwarz wie ein verkohltes Gerippe in den Himmel aufragten. Oder wie eine Kralle,dachte sie. Eine riesige, bizarre, dünn fingrige Kralle, die sich auf sie her absenken wollte.

»Sagen Sie, Peter«, begann sie, weniger aus wirklichem Interesse als vielmehr, um das plötzliche Schweigen durch den Klang einer menschlichen Stimme zu vertreiben, »wie ist es eigentlich damals zu dem Feuer gekommen? Es muß ziemlich schlimm gewesen sein? Wurde jemand getötet?« Es fiel ihr schwer, ruhig zu sprechen. Ihre Hände zitterten.

»Ich... ich weiß es nicht. Ich war damals noch ein Kind«, erinnerte Peter. »Ich war nicht einmal sechs Jahre alt.« Er wich aus, wie immer. Und wie immer glaubte sie zu spüren, daß er mehr wußte, als er zugab. Aber diesmal würde sie sich nicht abspeisen lassen. Sie wollte endlich wissen, was hier gespielt wurde. Sie mußte es wissen, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte.

»Hätten Sie nicht Lust, das Haus wieder aufzubauen?« fragte sie. Sie sah, wie er erbleichte, zusammen zuckte. »Es wäre doch sicher schön, ein ganzes Haus nur für Sie - und Ihre Tochter.« Natürlich redete sie Unsinn, und sie wußten es beide. Aber sie plapperte einfach weiter, auch wenn ihr mit schmerzhafter Deutlichkeit zu Bewußtsein kam, daß Peter den Grund dafür sehr genau kannte - es war kein anderer, aus dem sie mit zehn Jahren stets laut gepfiffen oder gesungen hatte, wenn sie allein in den Keller ging. Sie hatte schlichtweg Angst. »Das Material besorgen wir schon irgendwoher. Es liegt genug Kram auf dem Hof herum. Und den Rest kaufen wir nach und nach. Sie müssen es nur selbst aufbauen.« Sie lachte, leise und nervös. »Nun, was halten Sie davon?«

Heyning begann verlegen mit der Schaufel zu spielen, die er über der Schulter getragen hatte. Liz bemerkte sie erst jetzt, und sie fragte sich, was er wohl umgegraben haben mochte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich ... finde mein Zimmer sehr schön ...«, stotterte er. »Es ist größer als das, das ich vorher hatte. Es reicht mir. Ich brauche nicht viel Platz.«

Liz wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung vom Tisch. »Unsinn«, sagte sie barsch. »Ein winziges Zimmer ist nichts für einen erwachsenen Mann. Jeder braucht ein bißchen Privatsphäre, und nicht ein Zimmer hinter der Küche, das zu klein ist, um sich darin um zudrehen.« Sie machte eine bestimmte Geste, als Peter abermals widersprechen wollte, und er wagte es nicht.

»Es muß ja nicht gleich ein ganzes Haus sein«, fügte sie hinzu. »Aber wir sollten eine Lösung finden - schon, falls Ihre Tochter einmal zu Besuch kommen sollte.« Sie lächelte. »Andy ist kein Säugling mehr, den man in einem Korb neben den Ofen legen kann. Das Mädchen braucht ein eigenes Zimmer. Und Sie auch.«

»Mir gefällt mein Zimmer«, beharrte Peter. »Große Zimmer machen nur Arbeit.« Liz seufzte. Sie kannte Heyning noch nicht lange, aber immerhin lange genug, um zu wissen, daß es keinen Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen. Vielleicht später... Sie mußte ihm Zeit geben. Und sie durfte nicht zu viel von ihm verlangen. Sie gab sich einen Ruck, ging zum Haus zurück und suchte nach Stefan.

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