15.

Hinterher waren sie sich beide darüber im klaren, daß die Fahrt nach Hamburg eine äußerst törichte Idee war. Ihr ad-hoc-Ausflug in die Zivilisation stand von Anfang an unter keinem guten Stern, und er endete in einer Katastrophe - beinahe jedenfalls -, aber das wußten sie natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es regnete in Strömen, als sie vor dem Apartmenthaus parkten. Dieser Umstand allein war sicher noch kein böses Omen, auch wenn sie hinterher manchmal glaubte, es wäre ganz genau das gewesen - aber die Wahrheit war wohl eher, daß es ein Scheißtag war mit allem, was dazugehörte. Liz fand es nach einer Weile müßig, alles aufzuzählen, was an diesem Tag schief gegangen war; es war einfacher, aufzuzählen, was gut gegangen war - dazu hätten die Finger von Beldersens rechter Hand ausgereicht...

Trotz der Jahreszeit und der Heizung, die sie eingeschaltet hatte, war ihr kalt. Und sie bereute es längst, sich nicht energischer durchgesetzt zu haben. Es war eine Schnapsidee gewesen, das Gut so Hals über Kopf zu verlassen. Nach sechs Monaten Schwarzenmoor erschien ihr Hamburg größer als New York, lauter als Tokio und schmutziger als Duisburg. Sie begriff beinahe selbst nicht mehr, wie sie jemals in einer solchen Stadt hatte leben können, geschweige denn sich wohl fühlen. Aber vermutlich war sie ungerecht, sowohl dieser Stadt als auch Stefan gegenüber. Liz war müde; der tiefhängende Himmel, aus dem Regen in endlosen grauen Schleiern herabströmte, die schweren Wolken und das graue Licht stimmten sie trübsinnig, und die Vorstellung, jetzt aus dem geheizten Wagen steigen und durch den strömenden Regen laufen zu sollen, verbesserte ihre Laune auch nicht unbedingt.

Sie waren natürlich nicht am selben Tage gefahren, wie Stefan gestern so entschieden verkündet hatte, sondern erst am darauf folgenden Morgen, und nicht einmal besonders früh. Sie hatte am Abend doch noch zwei von Swensens Tabletten genommen und wie ein Stein geschlafen. Und auch Stefans Optimismus, Peter den Hof einfach so übergeben zu können, hatte sich als leicht übertrieben herausgestellt. Ein Anwesen von der Größe Eversmoors war nun einmal kein 80-Quadrat-Meter-Bungalow, dessen Schlüssel man einem Babysitter in die Hand drücken konnte, um einfach für ein paar Tage zu verschwinden. Es gab Hunderte von Dingen, die bedacht, Dutzende, die besprochen werden mußten - und wahrscheinlich zahllose, die sie vergessen hatten. Entsprechend war Stefans Laune gewesen, als sie gegen Mittag endlich los fuhren - und sie wurde keinen Deut besser, bis sie nach knapp zwei Stunden endlich in den Elbtunnel einfuhren; mit etwa dem Doppelten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Liz hatte auch dazu geschwiegen, wie zu so vielem. Sie hatten den ganzen Tag über keine zehn Worte miteinander gewechselt, über das absolut Notwendige hinaus. Sie hatten sich nicht etwa gestritten, aber sie waren beide gereizt gewesen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen, und sie spürten beide, daß es wohl besser war, wenn sie sich aus dem Wege gingen - soweit dies in einem Wagen möglich war, der nur wenig größer als ein aufgeklappter Schuhkarton war. Aber es ging; erstaunlich gut sogar.

Und der Tag war so weiter gegangen: Nach einem hastig heruntergeschlungenen Mittagessen hatten sie Stefans Verleger besucht - genauer gesagt, sie hatten es versucht. Aber Stefans Idee, so völlig ohne Vorankündigung einfach hereinzuschneien, hatte sich als gewaltiger Bumerang erwiesen. Keiner seiner Ansprechpartner im Verlag war dagewesen, und das Ganze hatte mit einer für alle Beteiligten mehr als peinlichen Situation geendet. Natürlich hatte niemand den Mut aufgebracht, Stefan direkt hinauszukomplimentieren - immerhin war er einer der drei oder vier Autoren, an denen der Verlag das meiste Geld verdiente -, aber es war einfach so, daß niemand etwas mit ihm anzufangen wußte. Schließlich hatte Stefan einen Termin für den nächsten Tag vereinbart, und sie waren gegangen, nicht nur zu Liz' Erleichterung. Und nun waren sie hier, am anderen Ende der Stadt und zu einem zweiten, ebenso überraschenden Besuch, zu dem keiner von ihnen noch rechte Lust hatte - wozu sicherlich auch das Unwetter und die dramatisch gesunkenen Temperaturen das ihre beitrugen.

Liz hatte den kleinen Umstand, den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu parken und die wenigen Meter zu Fuß gehen zu müssen, noch niemals als sonderlich lästig empfunden. Aber sie waren auch noch niemals währen deines ausgewachsenen Wolkenbruchs hier gewesen, und als wäre das allein noch nicht genug, genau in der Rushhour, in der Tausende von Leuten in Tausenden von Autos stadtauswärts drängten, und das - zumindest kam es Liz so vor - alle auf der gleichen Straße.

Das Unwetter hatte es frühzeitig dunkel werden lassen und die Straße in einen mattschwarzen Spiegel verwandelt, über den Autos in einer nicht endenden Kette jagten, grellgelbe Lichtsplitter vor sich herschiebend und gischtende Wellen von hoch spritzendem schmutzigem Wasser hinter sich ziehend. Der Anblick erinnerte sie an eine Ebene aus schwarzem Chrom, über die Stahlkäfer mit leuchtenden Augen krabbelten.

Beinahe sehnsüchtig blickte sie durch die beschlagene Scheibe zu dem Hochhaus hinüber, in dem ihre Freunde wohnten; eine schwarze, mit zahllosen rechteckigen Augen gesprenkelte Säule vor dem Abendhimmel, kaum hundert Schritte entfernt und doch in diesem Moment entsetzlich weit weg. Sooft sie hier gewesen waren, um Gabi und Rainer zu besuchen, hatten sie niemals einen Parkplatz direkt vordem Haus bekommen, nicht einmal auf der richtigen Seite der vierspurigen Chaussee. Der Turm - es war wirklich ein Turm: Ein vierundzwanzigstöckiges Ungeheuer aus Chrom und Glas und weiß gefärbtem Sichtbeton - ragte aus dem Herzen eines kleinen, aber sorgsam gepflegten Miniaturparkes, fünfhundert Quadratmeter importierter englischer Rasen und ein Dutzend Bäume in sorgsam geplantem Chaos, unter denen sich eine Tiefgarage mit mehr als fünfhundert Einstellplätzen verbarg. Für Besucher und ihre Wagen war im Plan des Architekten nicht viel Platz gewesen.

»Worauf wartest du?« fragte Stefan, nachdem er den Motor abgeschaltet und eine Zeit lang vergeblich gewartet hatte, daß sie ausstieg - oder wenigstens den Verschluß des Sicherheitsgurtes öffnete.

»Es regnet«, antwortete Liz, ohne sich zu ihm herum zudrehen. Sie sah seine Bewegung als verzerrten Reflex in der beschlagenen Scheibe vor sich, als er nickte. »Und es wird vermutlich noch den ganzen Abend weiterregnen. Möglicherweise bis morgen früh. Hast du vor, solange hier im Wagen sitzen zu bleiben?« Seine Stimme war erfüllt von einer Aggressivität, die Liz nun doch aufsehen und ihn einen Moment sehr nachdenklich anblicken ließ. Sie hatte es nicht einmal gemerkt, aber er hatte sich eine Zigarette angezündet und rauchte, und jetzt, als der Motor und somit auch die Lüftung abgestellt waren, wurde die Luft im Wagen sehr schnell schlechter. Die rote Glut der Zigarette verlieh seinem Gesicht etwas Dämonisches. Obwohl er im Moment nicht weiter sprach, fühlte sie die Spannung, die in ihm war, eine Aggressivität, einen... ja: Zorn, den sie sich einfach nicht erklären konnte. Was, zum Teufel, tun wir hier eigentlich! dachte sie. Wäre ihr im Moment nicht beinahe zum Heulen zumute gewesen, dann hätte sie vielleicht gelacht, denn ihre Situation war schlichtweg absurd. Stefan hatte auf diesem Kurzurlaub - den sie sich im Moment weder finanziell noch zeitlich leisten konnten - bestanden, damit sie sich erholte - und was taten sie? Sie gifteten sich an, wo sie nur konnten! Es war lächerlich, schlichtweg lächerlich!

»Zum Teufel, was ist?« fragte Stefan, als sie nicht reagierte. »Hast du vor, im Wagen zu übernachten?«

»Natürlich nicht«, antwortete sie, leise und mit einiger Verspätung. Dann: »Und wenn... sie gar nicht da sind?« Diese Befürchtung war noch nicht einmal so unberechtigt - wie ihr Besuch in Stefans Verlag erfolgte auch ihr Überfall auf Rainer und Gabi ohne Vorankündigung. Immerhin war Freitagabend, und die beiden waren nicht gerade dafür bekannt, sauertöpfisch zu sein.

»Das stellen wir am besten fest, indem wir hingehen und klingeln, nicht?« fragte Stefan ruhig. Er seufzte, zog den Zündschlüssel ab und sah ganz automatisch in den Rückspiegel, ehe er die Tür auf stieß und ausstieg; so schnell, daß Liz nicht einmal Gelegenheit gehabt hätte, irgend etwas zu antworten, wenn sie es gewollt hätte. Liz zögerte noch einen allerletzten Moment, ihm zu folgen. Für einen ganz kurzen Augenblick hatte sie ein intensives Empfinden von Gefahr, das sie zwar nicht begründen konnte, das aber zu stark war, um irgendwelche Zweifel zuzulassen, das unerschütterliche Wissen, daß es ein Fehler wäre, jetzt aus zusteigen und zu diesem Haus hinüberzugehen, ein schlimmer, möglicherweise ein tödlicher Fehler. Ja, jetzt, in diesem Moment, in dem sie noch im Wagen saß und die schwarze Silhouette des Hochhauses betrachtete, die sich hinter der nassen Windschutzscheibe des Jaguars zu biegen und zu verzerren schien wie ein großes lebendes Wesen, in diesem Augenblick kam ihr zum ersten Mal überhaupt der Gedanke, daß sie in Lebensgefahr sein könnte. Und für einen noch kürzeren Moment hatte sie Angst, panische Angst.

Dann verscheuchte sie den Gedanken, stieß die Tür mit einem übertrieben heftigen Ruck auf und stieg aus. Kälte und nadelspitze eisige Regentropfen klatschten wie eine unsichtbare Hand in ihr Gesicht. Sie duckte sich, warf die Wagentür ins Schloß und schlug den Jackenkragen hoch.

Das Überqueren der Straße allein wurde zu einem fast lebensgefährlichen Unterfangen; ein gewagter Zickzack, in dem sie sich wechselweise vor her anschießenden Autos oder hochspritzendem eisigen Wasser in Sicherheit zu bringen versuchten. Den Fahrzeugen wichen sie mit mehr Glück als Verstand aus - dem Wasser nicht. Und um das Maß voll zumachen, begann es heftiger zu regnen, kaum daß sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten: Ein einzelner, greller Blitz spaltete den Himmel, und es begann zuschütten wie aus Eimern. Wären sie es nicht schon gewesen, wären sie spätestens jetzt bis auf die Haut durchnäßt worden, obwohl sie beide rannten, so schnell sie konnten.

Zu ihrer Erleichterung war die Haustür offen; die beiden großen Glasflügel waren angelehnt, aber der Wind drückte so dagegen, daß das Schloß nicht eingerastet war. Stefan schnaubte zufrieden, schob die Tür mit einem Ruck vollends auf und machte eine einladende Handbewegung, die allerdings zu spät kam - Liz hatte sich schon an ihm vorbei in das vielleicht nicht wärmere, mit Sicherheit aber trockenere Foyer des Hauses gedrängt. Während Stefan mit ausgestrecktem Zeigefinger über die Namensschildchen auf den Briefkästen fuhr - natürlich hatten sie beide wieder vergessen, in welcher Etage Gabi und Rainer wohnten -, schüttelte sie sich wie eine nasse Katze. Es war keine fünf Minuten her, seit sie den Wagen verlassen hatten, trotzdem war die Kälte bis in ihre Knochen gekrochen. Sie versuchte die Hände zu Fäusten zu ballen, aber es ging nicht. Ihre Finger waren so steifgefroren, daß es weh tat, sie auch nur zu bewegen, und das war sehr sonderbar. Es war kalt geworden, und am nächsten Tag sollten die Zeitungen den dramatischsten Temperatursturz seit dreißig Jahren vermelden - aber der Kalender zeigte Anfang Mai, und es war einfach unmöglich, daß es so kalt sein sollte. Als sie Eversmoor verlassen hatten, hatten all ihre Blumenbeete in voller Blüte gestanden - und jetzt waren ihre Hände rot vor Kälte! Stefan hatte das Namensschildchen gefunden, wischte sich mit dem Handrücken die Mischung aus Spritzwasser und Schmutz aus den Augen, die sie von der Straße mit hereingebracht hatten, und deutete mit einer fragenden Kopfbewegung auf die Milchglastür, die tiefer ins Innere des gemauerten Labyrinths aus Beton und Glas führte.

»Nehmen wir den Aufzug - oder ziehst du ein wenig Jogging vor?« fragte er in einem ebenso tapferen wie vergeblichen Versuch, witzig zu sein. Liz lächelte pflichtschuldig, schüttelte den Kopf und trat ohne ein weiteres Wort an den Lift. Von den vielleicht zehn Malen, die sie hier gewesen waren, hatten sie neunmal die Treppe genommen, obwohl Gabis Wohnung im dreizehnten Stock dieses Hausungeheuers lag. Liz haßte Aufzüge und diesen hier ganz besonders - es war einer jener supermodernen Glaszylinder, die scheinbar frei an der Außenseite des Hauses in die Höhe glitten, sodaß man zwar eine prachtvolle Aussicht über das Nobelviertel Hamburgs genoß, einen Knoten im Magen und Übelkeit für die nächsten zwei Stunden aber noch gratis dazu geliefert bekam, wenn man - wie sie - das Pech hatte, nicht schwindelfrei zu sein. Aber heute fühlte sie sich einfach zu schwach, die Treppe zu nehmen, obwohl weder Stefan noch sie normalerweise keine Gelegenheit ausließen, Aufzüge, Rolltreppen und andere Segnungen der modernen Zeit mit Verachtung zu strafen. Heute wußte sie, daß sie die dreizehn mal fünfzehn Stufen einfach nicht schaffen würde. Sie fühlte sich so schwach, als wäre sie den Weg von Schwarzenmoor bis hierher gelaufen. Und es war nicht nur die Kälte, die sich in ihre Glieder gekrallt hatte.

Stefan sprach kein Wort mit ihr, während der Aufzug langsam in die Höhe glitt. Er sah sie nicht an, sondern blickte durch die Glas wand des Aufzuges nach außen, aber sie spürte, daß er in Wahrheit weder die langsam nach unten wegsackende Stadt noch den brodelnden Wolkenhimmel sah. Sein Blick war irgendwie leer. Die Blitze, die wie dünne gebrochene Lichtnadeln aus den Wolken stachen, ließen sein Gesicht erneut in diesem unheimlichen, fast dämonischen Licht erscheinen wie vorhin im Wagen. Liz sah weg. Was geschah mit ihr? Sie war hier hergekommen, um zu vergessen, wenigstens für ein paar Stunden - aber es schien im Gegenteil schlimmer zu werden. Sie hatte den Wahnsinn mitgenommen.

Obwohl sie mit aller Macht versuchte, sich zu beherrschen, mußten ihre Gedanken ziemlich deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben stehen, denn Stefan sah plötzlich sehr besorgt aus; sie spürte, daß er sie etwas fragen wollte, und für einen Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als daß er es tat. Es wäre ganz egal gewesen, was er sagte;irgendeine Belanglosigkeit, irgend etwas. Aber er schwieg, und als der Lift mit einem kaum spürbaren Ruck zum Stehen kam, erstarrte sein Gesicht wieder zu Stein. Die Chance war verspielt, und sie würde auch so bald nicht wiederkommen.Warum hatte sie nichts gesagt? Warum war es so schwer, den ersten Schritt zu tun?

Über ihnen flammte automatisch eine Doppel reihe großer, kalt leuchtender Neon röhren auf, als die Lifttüren auf glitten. Ein intensiver Geruch nach frischer Farbe schlug ihnen entgegen. Auch das war etwas, was für sie untrennbar mit der Erinnerung an dieses Haus verbunden war: Der Geruch nach Latex-Farbe, der immer in diesem Treppenhaus hing, als würde es jede Woche frisch gestrichen.

Nichts hier gefiel ihr: Die Wände waren weiß, von einem strahlenden, beinahe schon unangenehm hellen Weiß, die Türen abwechselnd rot und blau, kräftige Pop-Farben, die vom schattenlosen Licht der Leuchtstoffröhren noch unterstrichen wurden. Der Anblick ließ sie klackende Echos und Kälte erwarten, aber das Gegenteil war der Fall: Der Hausflur war auch im Winter wohlig warm, denn er wurde geheizt, und ein dicker Fußbodenbelag verschluckte das Geräusch ihrer Schritte vollkommen. Wie immer, wenn sie in diesem entsetzlichen Flur war, begann sie sich fast augenblicklich unwohl zu fühlen.

Dann begriff sie, daß es gar nicht an diesem Haus lag oder dem Aufzug, wenigstens diesmal nicht. Sie wollte nicht hier sein, das war alles. Es war ein Fehler gewesen, Gut Eversmoor überhaupt zu verlassen, und es war ein noch größerer Fehler, jetzt hier zu sein. Es hatte nichts mit Gabi und Rainer zu tun - im Gegenteil, die beiden waren vielleicht die besten Freunde, die sie je gehabt hatten, und Gabi mit Sicherheit der einzige Mensch, zu dem sie über ihre schrecklichen Erlebnisse im Wald und am See sprechen konnte. Nein, sie wollte einfach nicht hier sein, nicht in diesem Haus, nicht in Hamburg, nirgendwo, außer in ihrem eigenen Haus. Sie wollte fort. Zurück. Hätte Stefan auch nur eine einzige Sekunde gezögert, die Hand auf den Klingelknopf zu legen, oder sie auch nur angesehen, hätte sie es ihm gesagt. Aber er tat weder das eine noch das andere, sondern drückte ohne zu zögern die Klingel, und eine halbe Sekunde später hörten sie den tiefen, melodischen Gong durch das Holz der Tür hindurch. Zu spät. Auch die zweite Chance war vertan. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, daß es sehr, sehr wichtig gewesen wäre, sie zu nutzen. Sie sollte nicht hier sein. Es gab nur einen Ort auf der Welt, an dem sie im Augenblick sein sollte, weil dort etwas auf sie wartete, weil...

Was waren das für Gedanken? dachte sie erschrocken. Sie war doch gerade hier, weil sie vor dem DING im See hatte fliehen wollen, und jetzt... sehnte sie sich regelrecht zu ihm zurück!

»Es scheint... niemand da zu sein«, sagte sie, als auch nach einigen Sekunden keine Reaktion auf ihr Klingeln erfolgte. »Vielleicht hätten wir doch vorher anrufen sollen.« Stefan hob die Schultern. Er sah sie immer noch nicht an. »Sie sind zu Hause«, behauptete er. »Sie machen nur nicht auf.« Er deutete auf den pfenniggroßen Spion, der in Kopfhöhe in die dunkelblaue Oberfläche der Tür eingelassen war. Auf den ersten Blick schien das winzige runde Glasauge schwarz, aber aus einem ganz bestimmten Winkel heraus konnte man sehen, daß dahinter Licht brannte. »Vielleicht stören wir sie gerade bei einer Orgie.« Er lächelte, aber etwas in seiner Stimme war falsch; Liz war nicht sicher, daß seine Bemerkung wirklich so scherzhaft gemeint gewesen war, wie sie sich anhören sollte.

»Unsinn«, murmelte sie verärgert. Mit einer heftigen Bewegung trat sie an ihm vorbei, streckte die Hand nachdem Klingelknopf aus und drückte ihn so lange, bis das Geräusch von Schritten durch die Tür drang. Das Licht hinter dem Spion erlosch für einen Moment, kam zurück, und dann war das Klirren einer Kette zu hören. Eine Sekunde später wurde die Tür geöffnet, und eine reichlich verblüffte Gabi blickte zu ihnen heraus.

Unter allen anderen denkbaren Umständen hätte dieser Moment Liz wohl für alle bisher erlittenen Unbillen entschädigt - letztlich hatten sie ja gerade auf einen Anruf oder irgendeine andere Warnung verzichtet, um die beiden zu überraschen. Aber was sie in Gabis Augen las, das war keine Überraschung. Ja, sicher - sie war überrascht, zumindest im allerersten Moment. Aber was der ersten Verblüffung folgte, das war eindeutig Betroffenheit, keine Freude. Sie sah ertappt aus; wie jemand, der sich bei etwas Verbotenem, zumindest aber Anstößigem überrascht sieht. Ganz instinktiv dachte sie wieder an Stefans scherzhafte Bemerkung, und eine Sekunde später ertappte sie sich dabei, Gabis Aussehen einer raschen, aber gründlichen Inspektion zu unterziehen. Beinahe hastig sah sie zu Boden, schuld und ein bißchen beschämt über ihre eigenen Gedanken. Gabi mußte ihren taxierenden Blick bemerkt haben. Sie hoffte nur, daß sie nicht erriet, was er bedeutete.

»Ihr?« sagte Gabi schließlich. »Das... das ist...«

»Eine Überraschung?« schlug Stefan vor, als sie ins Stottern kam und schließlich nicht weiter sprach.

Gabi nickte. Verwirrt fuhr sie sich mit der Hand über Kinn und Lippen, sah erst Liz, dann Stefan und dann wieder Liz an und suchte sichtlich nach irgendwelchen passenden Worten, ohne schließlich mehr als ein hilfloses Lächeln zustande zu bringen. Liz war jetzt davon überzeugt, daß sie sie bei irgend etwas gestört hatten, was ihr sehr unangenehm war. Vielleicht platzten sie geradewegs in einen handfesten Ehekrach zwischen Rainer und ihr. So etwas kam öfter vor, um nicht zusagen fast regelmäßig. »Hoffentlich ist es wenigstens eine angenehme Überraschung«, fuhr Stefan fort, als Gabi immer noch keine Anstalten machte, irgend etwas zu sagen - geschweige denn, sie zum Hereinkommen aufzufordern. »Wenn nicht, kommen wir gerne ein andermal wieder«, fügte er hinzu.

Diese Worte brachen den Bann. Gabi blinzelte, trat einen halben Schritt zurück und sah Liz an, als erkenne sie sie erst jetzt wirklich.

»Großer Gott, was tue ich hier eigentlich?« sagte sie, während sie abermals einen halben Schritt zurücktrat und übertrieben geschauspielert die Hand vor den Mund schlug. »Ihr seid durchnäßt bis auf die Haut und friert euch sicher zu Tode, und ich stehe da und starre euch an wie...« Sie brach ab, schüttelte den Kopf und machte eine entschiedene, fast befehlende Geste. »Kommt rein, schnell, bevor ihr euch hier draußen den Tod holt. Großer Gott, wie seht ihr aus? Seid ihr her geschwommen, oder funktioniert das Verdeck deines Wagens nicht mehr? Kommt rein, um Gottes willen, kommt rein!«

Liz unterdrückte ein Seufzen. Ja, das war wieder die Gabi, die sie kannte, einer der extrovertiertesten Menschen, die sie kannte, und der einzige, der - wie Stefan es einmal ausgedrückt hatte - schneller reden konnte als Giesela Schlüter und Dieter Thomas Heck in ihren besten Tagen, ohne daß irgendein anderer auch nur die Spur einer Chance hatte, ihn zu unterbrechen. Sie hatte sich eindeutig wieder gefangen.

»Wer ist da, Liebling?« drang Rainers Stimme aus dem Wohnraum, als sie sich an Gabi vorbei in die winzige Diele drängten. Aber es war nicht nur seine Stimme. Begleitet wurde sie von leiser Musik und dem Klirren von Gläsern, und dazwischen andere Geräusche; Laute, die Liz nicht genau identifizieren konnte, die ihren Verdacht aber bestätigten. Die beiden waren nicht allein.

Wieder fiel ihr Stefans lächerliche Bemerkung ein, und wieder fragte sie sich, ob vielleicht doch mehr daran war, als sie wahrhaben wollte. Natürlich waren die beiden - wie Stefan und sie - aus dem Alter heraus, in dem man sich mit Gruppensex und Orgien amüsierte; aber es gab noch andere Dinge, die man in Gesellschaft tun konnte und bei denen man sich nicht gerne überraschen ließ.

»Wer ist gekommen?« fragte Rainer erneut. Leder knarrte, als er sich von der Couch erhob und näher kam. Liz erkannte seinen Schatten durch das geriffelte Milchglas der Wohnzimmertür.

»Das errätst du nie!« rief Gabi zurück. »Wir haben Besuch, Liebling.« Sie legte Liz und Stefan die Hände auf die Schultern und schob sie vor sich her ins Wohnzimmer. »Unsere beiden Ökos sind zurück!«

Liz hatte sich nicht getäuscht - die beiden waren nicht allein. Auf der schmalen weißen Ledercouch unter dem Fenster saß ein noch relativ junges Paar - beide allerhöchstens Anfang Zwanzig, schätzte Liz -, von dem zumindest das Mädchen ebenso erschrocken und überrascht aussah wie zuvor Gabi, während der junge Mann ihnen mit so bewußt zur Schau getragener Gleichgültigkeit entgegen blickte, daß sie schon wieder unglaubwürdig wirkte. Liz taxierte die beiden mit einem raschen, unverhohlen neugierigen Blick. Das Mädchen war dunkelhaarig und schlank, vielleicht sogar noch etwas jünger, als sie im ersten Moment geglaubt hatte, und genau jener Typ, mit dem sich Gabi gerne umgab: Eines jener modernen, allerdings etwas schüchternen jungen Dinger, mit denen sie fast nach Belieben umspringen konnte und die ihr noch dankbar dafür waren, während der junge Man nein eher nichtssagendes Gesicht hatte, wie viele Burschen in seinem Alter.

Auch Rainer wirkte unangenehm überrascht. Er war ihnen ein Stück entgegengekommen, blieb aber mitten im Schritt stehen, als Gabi die Tür mit dem Fuß auf stieß und sie vor sich her ins Wohnzimmer schob. Das Lächeln, mit dem er die Pfeife aus dem Mund nahm und erst Liz, dann Stefan begrüßte, war nicht ganz echt. Wie Gabi freute er sich ehrlich über ihren Besuch, und wie ihr war er ihm deutlich unangenehm in diesem Moment.

Ihr Blick streifte durch den Raum, auf der Suche nach irgend etwas, das das sonderbare Verhalten der beiden erklären konnte. Aber da war nichts. Die Wohnung war wie immer: Eine supermoderne, super teuer eingerichtete Großraumwohnung, die eigentlich nur aus einem zehn mal zwölf Meter messenden Wohnzimmer, einem winzigen Schlafraum und einer noch kleineren Küche bestand. Die vier schienen Karten gespielt zu haben, als sie kamen, aber daran war nichts Besonderes; früher, als sie sich öfter gesehen hatten, hatten sie oft ganze Nächte mit den Spielkarten verbracht - Skat, Siebzehn und Vier, Bridge, harmlose Spiele, bei denen der Einsatz die Zehn-Mark-Grenze niemals überschritten hatte.

Die Vorstellung, daß Gabi und Rainer mit diesen beiden Kindern um Geld gespielt haben sollten, war schlichtweg lächerlich. Und doch - irgend etwas an den Karten, die das Mädchen jetzt beinahe hastig wegräumte, war sonderbar. Aber sie wußte nicht, was. Auf dem Tisch - der übrigens bis auf einen Schreibblock und einen protzigen Füllfederhalter vollkommen leer war - stand ein herumgedrehtes Weinglas. Diese ganze, sonderbare Anordnung schien eine bestimmte Bedeutung zu haben, aber Liz vermochte nicht einmal zu erraten, welche.

Plötzlich begriff sie, daß sie die beiden auf der Couch noch immer unverblümt anstarrte und wie unhöflich ihr Benehmen war. Sie sah hastig weg.

»Ich hoffe, wir stören nicht«, sagte sie unsicher. »Es war wohl keine so gute Idee, einfach so...«

»Blödsinn«, unterbrach, sie Gabi. »Ausgemachter Quatsch, Liebling. Du störst niemals. Und selbst wenn du stören würdest, würde es mich nicht stören.« Sie lachte über ihren eigenen Scherz - wie üblich ein ganz kleines bißchen zu laut -, wiederholte ihre einladende Handbewegung und bugsierte Liz quer durch das Wohnzimmer aufs Bad zu, ohne ihr auch nur Gelegenheit zu geben, sich vorzustellen oder mehr als ein flüchtiges Kopfnicken mit Rainer zu wechseln. »Jetzt lege ich dich erst einmal trocken«, sagte sie in halb scherzhaftem, halb ernstem Ton. »Und danach könnt ihr euch bekannt machen.«

Liz widersprach nicht. Im Grunde war sie ganz froh, daß Gabi ihrem Ruf gerecht wurde und sie einfach überfuhr, in diesem Moment. Ganz kurz registrierte sie, daß ihre Schuhe dunkle Spuren auf dem teuren Teppich hinterließen, während sie das Wohnzimmer durchquerte.

»Zieh die nassen Sachen aus«, sagte Gabi, als sie im Bad waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Willst du heiß duschen?«

Liz schüttelte dankbar den Kopf, und Gabi ging ohne ein weiteres Wort in die Hocke, um ein gewaltiges Frottee-Handtuch aus einer Schublade des Einbauschrankes zu nehmen.

»Warum habt ihr nicht angerufen, daß ihr uns besuchen kommt?« fragte sie. »Ich hätte wenigstens ein paar Kleinigkeiten vorbereiten können.«

Liz zögerte, zu antworten. Die Situation kam ihr immer absurder vor - die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl gehabt, daß gerade Gabi es war, die irgend etwas zu verbergen hatte - und plötzlich war sie es, die sich in die Defensive gedrängt sah; und noch dazu völlig grundlos. Sie wußte nicht, warum - aber Gabis Frage war ihr peinlich. Sie kam sich vor wie ein Eindringling. Sie gewann ein wenig Zeit damit, sich aus der Lederjacke zu schälen, die vom Wasser schwer und klebrig geworden war, und umständlich nachdem Handtuch zu greifen. Aber dann mußte sie antworten. »Wir wollten euch überraschen«, sagte sie. »Außerdem wußten wir bis gestern abend selbst noch nicht, daß wir kommen. Aber es war wahrscheinlich keine sehr gute Idee.« Sie machte eine hastige, besänftigende Handbewegung, als sie Gabis Gesichtsausdruck sah. »Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte sie, »oder Rainer. Es war ein miserabler Tag, das ist alles.«

Gabis Gesichtsausdruck sagte sehr deutlich, was sie von dieser Antwort hielt. Aber sie war diplomatisch genug, wenigstens im Augenblick nicht weiter zu bohren, sondern drehte sich mit einem Achselzucken herum, verschwand durch die zweite Tür ins angrenzende Schlafzimmer und kam wenige Augenblicke später mit trockenen Kleidern über dem Arm zurück. Liz zog sich rasch aus, trocknete sich gründlich ab und schlüpfte in die frischen Kleider. Erst als sie die Knöpfe der teuren Seidenbluse schloß, fiel ihr auf, daß Gabi sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Zum ersten Mal, solange sie sich kannten, war es ihr peinlich, daß ihre Freundin sie nackt gesehen hatte. Sie verstand es, aber sie begriff es nicht. Es war eindeutig wegen Stefans dummer Bemerkung von vorhin, die ihr jetzt beinahe obszön vor kam. Sie war jetzt sicher, daß sie keineswegs scherzhaft gemeint gewesen, sondern das Gegenteil war: Ein genau berechnetes Gift, das er verspritzt hatte und das seine Wirkung tat, ob sie es wollte oder nicht.

»Du siehst gut aus«, sagte Gabi lächelnd. »Das Landleben scheint dir gut zu bekommen.«

Liz nickte. »Tut es auch«, sagte sie knapp. »Ich habe ein paar Pfund zugenommen.«

»Aber an den richtigen Stellen.« Gabi seufzte. »Ich wollte, ich könnte das auch sagen. Wenn ich zunehme, dann immer da, wo ich es gar nicht will.«

Liz lächelte pflichtschuldig, wandte sich zum Waschbecken um und blickte in den großen, herzförmigen Spiegel, der darüber aufgehängt war. Was sie sah, erschreckte sie selbst ein bißchen: Sie war sehr blaß, und unter ihren Augen lagen schmale, aber unübersehbare dunkle Ringe. Ihr Haar war zerstrubbelt und klebte da, wo sie es nicht ganz trockengerieben hatte, in unansehnlichen glänzenden Strähnen am Kopf. Hastig griff sie nach der Haarbürste, die Gabi ihr hinhielt, und versuchte die widerspenstigsten Strähnen zu etwas Frisurähnlichem zu ordnen. Das Ergebnis war alles andere als berauschend. Ihr Haar klebte jetzt wie eine schwarze glänzende Kappe an ihrem Schädel, so daß sie nicht mehr wie ein schwarz haariger Pumuckl aussah. Dafür betonte es jetzt die unnatürliche Blässe ihres Gesichtes noch mehr. Au seinem bestimmten Blickwinkel heraus betrachtet, erinnerte ihr Spiegelbild sie fast an einen Totenschädel.

Sie sah Gabi durch den Spiegel an. »Du hast gesagt, ich sehe gut aus«, murmelte sie. Gabi nickte. »Du hast gelogen. Ich sehe entsetzlich aus.«

»Ich weiß.« Gabis Gesicht im Spiegel lächelte, aber die Augen darin blieben ernst. »Und deine Stimme hat einen ganz leisen hysterischen Unterton, Liebes. Willst du dar übersprechen?«

Liz überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Jetzt noch nicht«, sagte sie. »Vielleicht später.« Sie wies mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Deine Gäste warten.«

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Stefan schien sich bereits bekannt gemacht zu haben, denn er, Rainer und der junge Mann waren in ein scheinbar sehr intensives Gespräch vertieft, als sie zurück kamen. Liz brauchte den jungen Mann nur flüchtig anzusehen, um zu wissen, worum es sich drehte - das Leuchten in seinen Augen und die noch mühsam zurückgehaltene Begeisterung sagten ihr genug. Rainer hatte Stefan vorgestellt, und natürlich hätte er auch gesagt, um welchen Stefan König es sich handelte. Nun - warum auch nicht? dachte sie. Wer hatte schon Freunde, mit denen man angeben konnte? Obwohl Liz sich einerseits beinahe ärgerte - die Vorstellung, die nächsten anderthalb Stunden mit dem Beantworten von Fragen zu zubringen, die sie schon tausendmal beantwortet hatte, versetzte sie nicht unbedingt in Begeisterung -, empfand sie gleichzeitig fast so etwas wie Erleichterung, denn die Alternative wäre gewesen, daß die beiden sich in spätestens einer Stunde in einer Ecke verkrochen, um sich stundenlang über einem Schachbrett anzuschweigen oder mit Rainers Computer herum zuspielen.

»Das sind Walter und Stefanie«, sagte Gabi mit einer Handbewegung auf ihre Gäste. »Die beiden wohnen hier im Haus. Wir treffen uns ab und zu, um ... Karten zu spielen.«

Liz fiel das unmerkliche Zögern in Gabis Stimme sehr wohl auf, aber sie tat so, als hätte sie nichts gehört. Vielleicht war sie einfach nur überempfindlich. Und wenn nicht, ging es sie zumindest nichts an, was die vier wirklich taten. Trotzdem hätte sie gerne gewußt, warum sie vorhin das Gefühl gehabt hatte, daß mit diesen Spielkarten irgendetwas nicht stimmte. Ganz unbewußt sah sie sich um, konnte sie aber nirgends mehr entdecken.

»Das ist Liz«, sagte Gabi mit einer Handbewegung auf sie. »Liz König. Ich habe dir von ihr erzählt.«

»Liz?« Stefanie stand auf, reichte ihr die Hand und lächelte unverbindlich. Ihr Griff war weich und schlaff, jene Art von Händedruck, den Liz am allerwenigsten leiden konnte. »Sind Sie Engländerin?«

»Nein«, antwortete Liz. Stefanies Stimme gefiel ihr nicht. Sie war so dünn und kraftlos wie ihr Händedruck. Liz sagte sich, ob sie vielleicht nur voreingenommen war. »Ich bin so wenig Engländer wie Sie, Kindchen«, sagte sie. »Mein wirklicher Name ist Elisabeth, aber das spricht niemand aus. Und die Abkürzung Ellie hat mir noch nie gefallen.« Tatsächlich war sie früher zu Hause und in der Schule nur sogenannt worden, bis sie es - nach etlichen Familienkrächen und einigen handfesten Raufereien - durchgesetzt hatte, wenigstens Lisa genannt zu werden. Aber das hatte ihr nur wenig besser gefallen als Ellie. Die Abkürzung Liz hatte sie aus einem von Stefans Büchern, und sie mochte sie so sehr, wie sie ihren wirklichen Namen verabscheute. »Gabi hat eine Menge von Ihnen und Ihrem Mann erzählt«, fuhr Stefanie fort. »Und von Ihrem Gut, oben an der Küste.« Sie setzte sich wieder, legte den Kopf schräg und betrachtete Liz mit einem langen Blick. »Sie sehen nicht aus wie jemand, der aufs Land gezogen ist«, sagte Stefanie.

Die Worte waren durchaus freundlich gemeint, das spürte Liz, aber sie ärgerten sie trotzdem, vielleicht weil sie so sehr all den Klischees entsprachen, gegen die sie seit einem halben Jahr ankämpfte. Außerdem war sie einfach gereizt, und es erschien ihr immer noch besser, ihre schlechte Laune an einem wildfremden Menschen auszulassen als an ihren Freunden.

»Nein?« sagte sie spitz. »Nun, ich trage keine Latzhosen, und ich parfümiere mich noch immer mit Chanel, nicht mit Kuhmist, wenn Sie das meinen, Kindchen.« Sie erschrak fast selbst über ihre Worte, und sie sah, wie Stefanie peinlich berührt zusammen fuhr und auch Gabi verwirrt zu ihr auf sah. Selbst Rainer, Stefan und Walter unterbrachen für einen Moment ihr Gespräch, wenngleich Stefans Blick verriet, daß er nur mitbekommen hatte, daß sie etwas Außergewöhnliches gesagt hatte, nicht was.

»Entschuldigung«, sagte sie verlegen. »Das war unhöflich. Aber wie sieht denn jemand aus, der aus der Stadt aufs Land flieht - Ihrer Meinung nach?«

Es dauerte eine Weile, ehe das Mädchen antwortete, und jetzt war auch sie verlegen. Seltsam, dachte Liz. Sie wirkte betroffen und schuldbewußt, aber überhaupt nicht zornig. Wäre sie von einer wildfremden Frau so grundlos beleidigt worden, hätte sie ihr die Augen ausgekratzt.

»Ich gebe zu, es war eine dumme Bemerkung«, sagte Stefanie schließlich. »Aber ich habe mir Sie einfach... na ja, eben anders vorgestellt. Ich weiß selbst nicht, wie.« Sie lächelte. Es wirkte echt, und Liz kam sich noch ein bißchen schäbiger vor. Nein, heute war wirklich nicht ihr Tag. Was, zum Teufel, suchte sie hier überhaupt? »Stimmt es, daß Sie einen ganzen Wald besitzen?« fragte Stefanie, plötzlich wieder mit Tonfall und Blick eines begeisterten Kindes, das sich unversehens seinem seit langem bewunderten Idol gegenübersieht. Natürlich war dieses Idol Stefan, nicht sie, dachte Liz spöttisch. Aber als Ehefrau des Halbgottes fiel selbst für sie noch genug Bewunderung ab. »Und einen See, und...«

»Und ungefähr fünf zehntausend Quadratmeter Sumpf«, unterbrach Liz sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Tief genug, um alle unsere Gläubiger darin zu versenken.« Sie seufzte. »Und was den See angeht - ich bin nur nicht einmal sicher, ob man darin schwimmen kann. Aber auf dem Papier gehört es uns, ja.«

»Aber kostet das denn nicht ein Vermögen?« fragte Walter, der sich zwar weiter mit Stefan und Rainer unterhalten, ganz offensichtlich aber trotzdem mit einem Ohr zugehört hatte. »Ich meine, ein solches Anwesen zu kaufen muß doch irrsinnig teuer sein.« Er lächelte und machte eine rasche, entschuldigende Geste. »Halten Sie mich bitte nicht für aufdringlich«, sagte er. »Ich weiß, daß mich das nichts angeht - aber Stefanie und ich suchen auch nach so etwas, wissen Sie?«

»Das Kaufen nicht«, antwortete Liz, froh, das Thema wechseln zu können. »Diese Wohnung hier hat wahrscheinlich doppelt so viel gekostet wie Eversmoor.« Sie machte eine weit ausholende Handbewegung, und Gabi nickte. »Das Dreifache«, pflichtete sie ihr bei. »Beinahe jedenfalls.«

Walter runzelte demonstrativ die Stirn. »Stimmt das? Ich meine ... wir haben uns umgesehen, in der letzten Zeit. Die Höfe da oben sind zwar billig, aber das...«

»War so gut wie geschenkt«, unterbrach ihn Stefan. Aus irgendeinem Grund klang er ebenso gereizt wie zuvor Liz, als sie mit Stefanie gesprochen hatte. Möglicherweise war sie nicht die einzige, die die beiden nicht besonders sympathisch fand. »Aber Sie würden es verstehen, wenn Sie das Haus gesehen hätten, als wir ankamen.«

»So schlimm?«

»Schlimmer«, sagte Liz. »Es war eine Ruine. Zum Großteil ist es das heute noch. Wir haben eine Menge Geld reinstecken müssen, von der Arbeit ganz zu schweigen. Aber Sie haben recht - trotz allem war es ein Spottpreis. Wahrscheinlich hat die Gemeinde es so billig abgegeben, weil es niemand haben wollte.« Sie lachte leise. »Ich bin heute fast sicher, daß wir den Preis noch mehr hätten drücken können, wenn wir gewollt hätten. Der Hof hat dreißig Jahre lang leer gestanden.«

»Beinahe«, mischte sich Gabi ein. »Die Leute vor euch ...«

»Haben es nicht einmal halb so lange ausgehalten wie wir«, unterbrach sie Liz. »Vielleicht waren sie auch einfach nur schlauer als wir.«

»Oder sie wollten nicht so gerne auf einem Friedhof leben«, sagte Gabi.

»Einem ... Friedhof?« Liz blinzelte verwirrt. »Was soll das denn heißen?«

»Die ganze Gegend da oben ist ein Friedhof«, antwortete Gabi ernsthaft. »Sag bloß, dieser Makler hat euch nichts davon gesagt?«

»Wovon?« hakte Liz nach. Ein sehr ungutes Gefühl begann sich in ihr breit zumachen. Gabi sprach in diesem triumphierenden, leicht übertriebenen Ton, den sie immer einschlug, wenn sie irgend etwas loswerden konnte, worauf sie sich schon lange gefreut hatte - und das meistens etwas Unangenehmes war. »Wovon hat er nichts gesagt?« fragte sie noch einmal, sah aber jetzt Stefan an. Ihr Mann zuckte die Achseln und sah weg.

»Von der Sturmflut, die dort oben alles verwüstet hat«, antwortete Gabi. »Im Ernst - wußtest du nichts davon?« Sie runzelte übertrieben die Stirn, als Liz den Kopf schüttelte. Einen Moment lang blickte sie auch Stefan fragend an, dann stand sie auf, ging zum Bücherregal und kam mit einem in blaues Kunstleder gebundenen Band im Atlanten-Formatzurück. Als sie ihn auf den Tisch legte, sah Liz, daß ein Stück Papier als Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt worden war. Gabi schlug das Buch auf. Liz erkannte die Küstenlinie auf den ersten Blick, auch wenn sie nicht ganz originalgetreu abgebildet war. Dann begriff sie, daß es eine sehr alte Karte war. Der Küsten verlauf war damals anders gewesen als heute. Sie beugte sich vor, suchte einen Moment vergeblich nach Schwarzenmoor und blickte wieder zu Gabi auf. »Und?«

»Das Ganze ist sechshundert Jahre her«, erklärte Gabi. »Damals stand das ganze Gelände unter Wasser - eine Springflut, weißt du.«

»Sechshundert Jahre?« vergewisserte sich Liz.

»Ungefähr - glaube ich«, gestand Gabi. »Aber es war nicht irgendeine Springflut. Damals ist eine ganze Stadt da oben versunken, mit Mann und Maus: Rum hold. Du hast noch nie von der großen Mandränke gehört?«

Liz erinnerte sich schwach, die beiden Begriffe genau zweimal gehört zu haben - einmal in einer Fernsehsendung, das andere Mal in einem Lied von Achim Reichel; aber sie hatte ihn niemals mit Schwarzenmoor assoziiert. »Das... das war...«

»Praktisch unter euren Füßen«, beantwortete Gabi die Frage, ehe sie sie vollends aussprechen konnte. »Genau weiß heute niemand mehr, wo dieses Rum hold gelegen hat, aber es kann nicht sehr weit von eurem Schwarzenmoor entfernt gewesen sein. Auf jeden Fall war das ganze Gelände damals überflutet - siehst du?« Sie deutete auf die Küste, und Liz erkannte erst jetzt die zweite, gestrichelte Linie, die ein gutes Stück landeinwärts parallel zur Küste lief. Auch wenn weder Schwarzenmoor noch ihr Haus auf der Karte abgebildet waren - seltsam: Auch der See war nicht darauf -, erkannte sie doch klar, daß das ganze Gelände damals unter Wasser gestanden haben mußte. So furchtbar falsch war der Vergleich mit einem Friedhof nicht. Eine völlig unbegründete, aber sehr heftige Furcht machte sich in ihr breit. Da war etwas, das über Gabis Worte hinausging. Einen Moment lang blickte sie noch die Karte an, dann sah sie zu Stefan auf.

»Hast du davon gewußt?« fragte sie, ein wenig lauter und sehr viel schärfer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.

»Wovon?« fragte Stefan.

Liz zog eine ärgerliche Grimasse und ließ die flache Hand auf das Buch herunter klatschen. »Davon! Stell dich nicht dümmer, als du bist«, fauchte sie. »Diese Katastrophe. Diese... diese...« Sie sah zu Gabi auf. »Wie hast du es genannt?«

»Die große Mandränke«, antwortete Rainer an ihrer Stelle.

Liz nickte. »Genau das. Hast du davon gewußt?«

»Nein«, antwortete Stefan verwirrt. »Oder ja, wie du willst. Ich habe davon gehört, wie jedermann davon gehört hat.«

»Jedermann offensichtlich nicht. Ich wußte jedenfalls nichts davon«, unterbrach ihn Liz wütend. »Wenigstens nicht, daß Eversmoor praktisch auf den Ruinen dieses Rum hold errichtet wurde.«

»Aber das ist doch Blödsinn!« fuhr Stefan auf. Er beugte sich vor, klappte das Buch mit einer ärgerlichen Bewegung zu und griff nach dem Weinglas, ohne aber zu trinken. Der Blick, der Gabi dabei streifte, war nicht unbedingt freundlich. »Was, zum Teufel, soll das? Erstens weiß niemand ganz genau, wo dieses Rum hold überhaupt gelegen hat und zweitens ist es die Kleinigkeit von sechshundert Jahren her! Welchen Unterschied hätte es wohl gemacht, wenn du es gewußt hättest?«

»Keinen«, antwortete Liz. »Ich hätte es nur gerne gewußt, das ist alles.«

Stefan trank einen Schluck und stellte das Glas mit einem unnötig harten Ruck wieder auf den Tisch. »Jetzt weißt du es«, sagte er grob.

Einen Moment lang breitete sich Stille aus; jene ganz besonders unangenehme Art von Stille, in der man die Spannung beinahe knistern hören konnte. Gabi und Rainer warfen sich bezeichnende Blicke zu, und Stefanie und ihr Mann sahen plötzlich aus wie zwei Mäuse, die sich am liebsten unter den Teppich verkrochen hätten.

»Ich denke, ich mache uns allen erst einmal einen guten Kaffee«, sagte Gabi plötzlich. Sie stand auf, klemmte sich das Buch unter den linken Arm und schenkte Liz ein so freundliches Lächeln, als wäre gar nichts geschehen. »Kommst du mit, Liebes?« Natürlich ging es nicht um den Kaffee, und jedermann wußte es. Trotzdem stand Liz nach kurzem Zögern auf und folgte ihr in die Küche. Sie war ein wenig bestürzt, wie heftig ihre Reaktion auf Gabis sicher interessante, aber ganz und gar harmlose Neuigkeit gewesen war. Aber ihre eigenen Reaktionen erstaunten sie sowieso immer mehr. Sie schien nicht mehr sie selbst zu sein, seit sie Eversmoor verlassen hatten. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag kam sie zu der Überzeugung, daß es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen.

»Was ist mit euch los?« begann Gabi ganz unverblümt, kaum daß sie die Küchentür hinter sich geschlossen hatte. »Habt ihr Streit?«

»Nicht direkt«, antwortete Liz ausweichend. »Aber es war wahrscheinlich keine gute Idee, her zukommen.«

»Das hast du schon einmal gesagt«, sagte Gabi. »Wie meinst du das? Was ist passiert?«

»Nichts«, erwiderte Liz. »Das ist es ja gerade.« Sie seufzte, lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Tür und schloß für einen Moment die Augen. »Es ist meine Schuld«, sagte sie schließlich. »Stefan kann nichts dafür und ihr auch nicht. Und euer Besuch schon gar nicht.« Sie lächelte schief. »Ich muß mich bei der Kleinen entschuldigen. Ich war ziemlich ruppig mit ihr.«

»Das macht nichts«, sagte Gabi. »Sie wird es überleben.« Sie grinste. »Wer uns erträgt, muß schon ein dickes Fell haben, weißt du das nicht mehr? Uns zu Freunden zu haben bedeutet ein tägliches Überlebenstraining.« Sie wurde übergangslos wieder ernst. »Also - was war los?«

Warum erzählte sie ihr nicht einfach, was geschehen war? Gabi war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie ihr Erlebnis am Mitternachtssee anvertrauen konnte und die weder über sie lachen noch darüber reden würde, nicht einmal mit ihrem Mann, das wußte sie.

Sie wollte es sogar. Aber sie konnte nicht. Vielleicht hätte sie es gekonnt, bevor sie von Rum hold und der Sturmflut erfahren hatte, aber dieses Wissen, so bruchstückhaft und unvollkommen es war, machte es ihr unmöglich. So zuckte sie zur Antwort nur die Achseln.

»Ich weiß es selbst nicht«, log sie. »Ich bin wahrscheinlich einfach überreizt. Wir haben uns schon den ganzen Tag angegiftet, nicht erst, seit wir hier sind. Und noch dazu völlig grundlos.«

»Oh, so grundlos ist das meistens nicht«, sagte Gabi überzeugt. »Glaub mir, ich kenne das. So was passiert Raine rund mir dauernd.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab, um den Kaffee zuzubereiten.

Liz sah ihr schweigend dabei zu. Sie war gerne hier. Der Anblick erinnerte Liz an ihre eigene, schäbige Küche in Eversmoor, obwohl - oder vielleicht gerade weil - es wohl kaum zwei krassere Gegensätze gab - dies hier war eine supermoderne Küche; ein Ungeheuer aus Kunststoff und Glas, in der vom elektrischen Dosenöffner bis hin zum computergesteuerten Mikrowellenherd schlichtweg alles zu finden war, was gut oder wenigstens teuer war. Trotzdem hätte sie nicht lange überlegen müssen, hätte man sie vor die Wahl gestellt, sich für eines der beiden Extreme zu entscheiden.

»Sag mal, ehrlich - bereust du es wirklich nicht, in diese Ruine hin ausgezogen zu sein?« fragte Gabi, während sie Kaffeepulver in die Maschine tat und zusah, wie sich der durchsichtige Wassertank automatisch füllte, als sie den Deckel schloß. »Manchmal schon«, gestand Liz. Sie lächelte. »Vor allem, wenn ich das hier sehe. Aber im großen und ganzen ...« Sie schwieg einen Moment, fast, als müßte sie wirklich über diese Frage nachdenken (sie mußte es nicht), dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es gibt ein paar Nachteile, sicher. Aber wenn ich die große Bilanz ziehe...«

»Nach sechs Monaten?« unterbrach sie Gabi. »Ein bißchen früh, nicht?« Ihr Staunen war geschauspielert, und nicht einmal sehr gut. Es war eine Fortsetzung des Gespräches von gerade. Gabi wäre nicht Gabi, wenn sie so schnell aufgegeben hätte.

»Kaum«, antwortete Liz. »Ich hätte dir die gleiche Antwort auch nach sechs Wochen gegeben, wenn du mich gefragt hättest. Und das wird sich auch in sechs Jahren nicht ändern.« Aber schon während sie diese Worte aussprach, fragte sie sich, ob das wohl wirklich die Wahrheit war. Sicher, sie war überzeugt davon, glaubte es selbst - aber sie wußte auch, daß man oft an Dinge aus dem einzigen Grund glaubte, daß man sie glauben wollte. Und auch Gabi war keineswegs überzeugt.

»Du bist nicht glücklich«, behauptete sie gerade heraus. »Irgendwas stimmt nicht zwischen Stefan und dir. Was ist es?«

Liz schwieg. Sie wollte nicht antworten - sie konnte es nicht einmal, in diesem Moment, ganz einfach, weil sie die Antwort nicht wußte - und gleichzeitig spürte sie, daß Gabi der Wahrheit vielleicht näher gekommen war, als sie selbst ahnte. Irgend etwas stimmte wirklich nicht mehr zwischen Stefan und ihr. Aber sie wußte nicht, was.

»Unsinn«, sagte sie schließlich. »Es gab ... ein paar Meinungsverschiedenheiten in den letzten Tagen. Das war alles. Streitet ihr euch niemals?«

»Doch«, antwortete Gabt ernst »Ziemlich oft sogar. Aber das ist etwas anderes. Wir zanken uns, aber zwischen Stefan und dir ...«

»Ist alles in Ordnung«, unterbrach sie Liz, jetzt sehr viel heftiger und so laut, daß sie selbst erschrocken zusammen fuhr. Sehr viel leiser fuhr sie fort: »Wirklich, Gabi. Es ist alles in Ordnung. Das heißt, es ist nichts in Ordnung, aber...«

»Aber?« hakte Gabi nach, als sie nicht weiter sprach.

»Ich weiß es selbst nicht«, gestand Liz. »Ich bin ein bißchen überempfindlich in den letzten Tagen. Stefan kann nichts dafür, wirklich.« Plötzlich begriff sie, daß sie das alles beinahe wörtlich vor weniger als einer Minute schon einmal gesagt hatte. Sie begann Gabi auf den Leim zu gehen. Noch ein paar Augenblicke, und sie würde ihr erzählen, was wirklich geschehen war.

Und was wäre so schlimm daran? dachte sie. Sie fand keine Antwort darauf, wie auf so vieles, was sie sich in den letzten Tagen gefragt hatte. Natürlich gab es diese Antworten, so viele sie haben wollte, und eine davon war zum Beispiel die, daß sie Gabi nicht in all dies hineinziehen wollte oder daß es ihr einfach unangenehm war, zuzugeben, daß sie in den letzten Tagen ernsthaft begonnen hatte, an ihrem Verstand zu zweifeln.

Aber all das wäre nicht die Wahrheit gewesen. Die Wahrheit war sehr viel einfacher - und sehr viel erschreckender:Sie hatte Angst, nicht um sich, sondern um Gabi. Sie konnte es nicht begründen, aber sie spürte, daß es wichtig für Gabi war, nichts von alledem zu wissen. Vielleicht sogar lebenswichtig.

»Was macht der Kaffee?« fragte sie.

Gabi sah sie ernst an. Man mußte wohl nicht einmal so sensibel sein wie sie oder sie so lange kennen, um zu spüren, wie es unter der von Liz so mühsam zur Schau gestellten Beherrschung aussah. Aber sie kannten sich auch lange genug, daß Gabi erst gar nicht versuchte, jetzt noch irgendetwas von ihr zu erfahren. Jedes weitere Wort in diese Richtung würde sie nur noch verstockter machen. Sie runzelte die Stirn, schüttelte mit einem bedauernden Seufzen den Kopf und sah flüchtig zum Kaffeeautomaten hinüber.

»Gleich«, antwortete sie. »Sei ein Schatz und hilf mir, ihn reinzubringen. Weißt du noch, wo die Tassen stehen?«

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