13.

Als sie zum Wohnhaus hin überging, fing Carry wieder an zu bellen.

Liz blieb stehen. Der Laut jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken: Es war ein helles, kläffendes Bellen, nicht das tiefe Rra-Wuff, das sie von ihm gewöhnt war, und als sie näher kam, sah sie, daß er zitterte. Seine Nackenhaare waren aufgestellt, und von seinen Fängen tropfte rosafarbener Schaum.

Der Hund... hat Angst! dachte Liz schaudernd. Panische Angst. Aber wovor nur? Sie hob die Hand, streckte sie nach ihm aus, und zog den Arm erschrocken wieder zurück, als Carry nach ihr schnappte und ein drohendes Knurren hören ließ, ohne dabei mit Jaulen und Kläffen aufzuhören. Blasiger Geifer troff von seinen Lefzen, die so weit hochgezogen waren, daß es ihr im ersten Moment fast unmöglich erschien. Wieder erinnerte sie sein Anblick an einen Wolf, und wie um den Eindruck noch zu verstärken, echoten Peters Worte dumpf hinter ihrer Stirn: Ich selbst hab' keinen mehr gesehen, aber mein Vater... vor fünfzig Jahren ... Und Carry sah in diesem Augenblick wirklich aus wie ein Wolf:Sein Gebiß war furchteinflößend gefletscht, die Augen groß und rund und schwarz vor Zorn (Zorn?), jeder einzelne Muskel in seinem mächtigen Leib bis zum Zerreißen gespannt. Sein Fell war gesträubt, als wäre es elektrisch geladen.

Mehr verwirrt als wirklich erschrocken trat sie abermals auf ihn zu »Carry, was ist denn los, Junge?« murmelte sie. Abermals hob sie die Hand, um ihm beruhigend den Kopf zu tätscheln, aber er wich vor ihrer Berührung zurück und stieß ein jämmerliches Jaulen aus, um gleich darauf wieder wie ein Irrer loszukläffen.

Der Hund hatte Angst, dachte sie erneut.

Und dann hörte sie es auch.

Das Geräusch wurde vom Bellen des Hundes fast verschluckt, aber es war da, und es wurde mit jeder Sekunde lauter, schien näher zu kommen, anzuschwellen, wieder zu verebben, wieder anzuschwellen, wieder leiser zu werden und wieder lauter, ein dämonischer, entsetzlicher Rhythmus, der lauter wurde, lauter, lauter, immer lauter und lauter und lauter. Es war ein helles, kreischendes Geräusch, ein... Schrei? Ein Wimmern? Ein Brüllen? Auf absurde Weise klang es gleichzeitig hell und kreischend und tief und drohend, voller Angst und Schmerzen und Kraft und Zorn, als schrie das Land selbst seine Not hinaus. Ein Schmerzensschrei der Erde, ein Geräusch, das gleichzeitig Angst und unsägliche Qual auszudrücken schien, aber auch eine unfaßbare, grauenhafte Drohung. Ihr Herz begann wie wild zuschlagen. Das Geräusch ließ sie zusammen zucken, wogte auf und ab, lauter und leiser, um bei jedem Mal deutlicher und drohender zu werden. Näher. Einen Moment lang brach es ab, um kurz darauf noch lauter wiederzukommen, ein gräßlicher, alles übertönender Schrei, der ihren Schädel zum Zerspringen zu bringen schien und ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Sie schlug entsetzt die Hände vor die Ohren, aber es half nicht. Der Schrei gellte weiter in ihrem Schädel, ein gräßlicher Laut, der geradewegs aus der Hölle zu kommen schien.

Sie starrte aus schreckgeweiteten Augen zum Waldrand hinüber, von wo der Schrei kam. Neben ihr rollte sich Carry zu einem pelzigen Ball zusammen, verbarg die Schnauze unter den Vorderpfoten und stieß ein ängstliches Geheul aus.

Mit einem Mal erschien ihr der Wald näher als noch vor Sekunden, und es war kein schattiger, kühler Hain mehr, sondern eine schwarze drohende Mauer, hinter der sich das Grauen verbarg, der See mit seinem entsetzlichen Bewohner, die gräßliche Stimme, die zu ihr gesprochen hatte.

Die hohen, knorrigen Umrisse der Bäume hatten Gestalt angenommen, waren zu den Silhouetten drohender, schwarzer Riesen geworden, Alptraum gestalten, die nur dar aufwarteten, die Wurzeln wie Krallenfüße mit dürren braunen Zehen aus dem Boden zu reißen, sich ihr zu nähern, sie zupacken, zu töten oder ihr Schlimmeres anzutun. Schatten rasten durch den Wald, ein dumpfer, feuchter Laut drang an ihr Ohr, ein Geräusch, als erhebe sich etwas Gigantisches, Schwarzes und Nasses aus dem See, aber nicht nur aus ihm, sondern auch aus dem dahinter liegenden Moor, denn es war viel zu groß, um in der Tiefe des Sees allein Platz zu haben.

Sie konnte hören, wie sich haardünne schwarze Fühler wie zuckende Nervenfäden aus dem Boden lösten, hörte das saugende, schmatzende Geräusch, mit dem ES seinen kolossalen Körper aus dem Griff des Moores her auszog, der es äonenlang gleichermaßen beschützt wie gefangen gehalten hatte, hörte das Splittern von Unterholz, durch das eine ungeheuerliche Masse schwarzen, pulsierenden Fleisches kroch, ein knochen- und sehnenloses Etwas, alles-in-einem-und-nichts-von-allem, Lovecrafts Nyarlathotep, das schleichende Chaos, die menschenfressende Riesenamöbe, jeder Schrecken, den ein menschliches Gehirn jemals ersonnen hatte; und noch ein paar mehr. Der Wald war jetzt vollends schwarz, es gab nicht einmal mehr Schatten, und hinter diesem Schwarz kroch es heran, langsam, aber unaufhaltsam.

Dann hörte sie das Geräusch wieder: Den Schrei, das entsetzliche Kreischen, das sie gestern morgen geweckt hatte. Sie schrie ebenfalls auf, aber der Laut ging in dem entsetzlichen Crescendo unter, wurde zu einem Bestandteil dieses anderen, irrsinnig machenden Schreis und steigerte seine Grausamkeit noch. Sie wollte aufhören zu schreien, aber das konnte sie nicht. Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Lungen brannten, als hätte sie Säure eingeatmet, und ihr Herz schien zu zerspringen, aber sie konnte einfach nicht aufhören.

Wie durch einen dichten Nebel registrierte sie, daß Stefan hinter ihr erschien, wie Peter aufgeschreckt durch ihren Schrei und das Wimmern des Hundes aus der Scheune gestürmt kam und auf sie zu hetzte. Beide schrien, und beide rannten, so schnell sie nur konnten, aber ihre Stimmen waren Lichtjahre weit weg und ihre Bewegungen lächerlich langsam. Das DING würde sie erreichen, ehe sie auch nur die halbe Strecke zurückgelegt hatten.

Langsam, wimmernd, brach sie in die Knie.

Der Schrei echote zwischen den Bäumen, schien lauter zu werden, drohender, bis er seine gesamte Energie auf einen winzigen Fleck konzentrierte, in dessen Brennpunkt sie hockte, unfähig zu fliehen, sich zu wehren oder irgend etwas zu tun oder zu denken. Und er wurde immer noch lauter, hatte längst die Grenzen des Vorstellbaren überschritten und steigerte sich immer noch mehr, der Blitz einer Science-fiction-Waffe, der Strahl einer Schallkanone, der ihr Gehirn sprengen, jede einzelne Zelle in ihrem Körper zum Kochen bringen mußte.

Sie spürte kaum, wie Stefan sie an den Schultern hochriß und sie schüttelte, sie spürte auch nicht, wie er sie an schrie, sie schließlich schlug, um ihren Schreikrampf zu lösen. Alles in ihr war Schrei, war der Schrei. Ihr Körper vibrierte im Rhythmus des gräßlichen Lautes, schien zerspringen, zerplatzen zu wollen. Auch Stefan und Peter schrien, ihre Gestalten verschwanden in einem blutigen Nebel aus Schmerz vor ihren Augen. Stefan schlug wieder zu, und plötzlich schlug sie zurück, spürte selbst, mit welcher Kraft ihre Hand in sein Gesicht klatschte, und...

Und dann war Ruhe.

Von einer Sekunde zur anderen brach der Schrei ab. Er wurde nicht etwa leiser und verklang, sondern brach so abrupt ab, als hätte irgend jemand einen Schalter umgelegt.

»Liz! Um Gottes willen, was ist denn los?«

Sie hörte seine Worte, aber sie war unfähig, darauf zu reagieren. Sie konnte immer noch nicht atmen, ihr ganzer Körper war ein einziger Krampf. Ihr Schrei er starb, nicht weil sie es wollte, sondern weil in ihren Lungen einfach keine Luft mehr war. Sie wankte, brachte irgendwie die Kraft auf, sich halb in die Höhe zu stemmen, und fiel gegen Stefan.

Sie fühlte seine starken Arme um ihre Schulter, das Brennen im Gesicht, wo er sie geschlagen hatte, und endlich konnte sie wieder atmen.

Ein Weinkrampf packte sie. Sie ließ sich einfach fallen, preßte ihr Gesicht an seine breite, kräftige Brust und schluchzte hemmungslos. Sie registrierte kaum, wie er sie hochhob und ins Haus trug. Draußen, auf dem Hof, stieß Carry ein jämmerliches Wimmern aus.

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