Von der ersten Stunde der Gefangenschaft an, in der sie sich durch die verschneiten Wälder kämpften, hatte Faile Angst zu erfrieren. Wind kam auf und erstarb wieder. Nur wenige der verstreut stehenden Bäume trugen noch Blätter, von denen die meisten braun und verwelkt waren. Der Wind strich ungehindert durch den Wald, und so kurz die Böen auch andauerten, trugen sie dennoch Eiseskälte mit sich. Sie dachte kaum an Perrin, einmal abgesehen von der Hoffnung, dass er irgendwie von Masemas geheimen Aktivitäten erfuhr. Und natürlich von den Shaido. Selbst wenn diese Hure Berelain die Einzige war, die ihn jetzt darüber noch informieren konnte. Sie hoffte, dass Berelain dem Hinterhalt entgangen war und Perrin alles berichtet hatte. Und dann in ein Loch gefallen und sich den Hals gebrochen hatte. Aber sie hatte viel dringlichere Sorgen als ihren Ehemann.
Sie hatte dieses Wetter als herbstlich bezeichnet, aber im saldaeanischen Herbst kam es vor, dass Menschen erfroren; von ihrer Kleidung waren nur noch ihre dunklen Wollstrümpfe übrig geblieben. Mit dem einen hatte man ihr die Ellbogen auf dem Rücken fest zusammengebunden, während der andere als Leine um ihren Hals lag. Mutige Worte boten eine dürftige Bedeckung für nackte Haut. Ihr war zu kalt, um zu schwitzen, doch ihre Beine schmerzten schon bald durch die Anstrengung, mit ihren Enführern Schritt zu halten. Die Shaido- Marschreihe, die aus verschleierten Männern und Töchtern des Speers bestand, wurde langsamer, sobald der Schnee bis zu ihren Knien reichte, nahm aber sofort ihren normalen Dauerlauf wieder auf, wenn er nur bis zu ihren Knöcheln ragte, und sie schienen nicht zu ermüden. Pferde wären nicht schneller vorangekommen. Am ganzen Leib zitternd kämpfte sich Falle am Ende ihrer Leine voran und mühte sich, durch Zähne, die sie zusammenbiss, um sie am Klappern zu hindern, ausreichend Atem zu schöpfen.
Die Shaido waren weniger, als sie beim Angriff gedacht hatte, kaum mehr als hundertfünfzig, und fast alle hielten Speere oder Bogen bereit. Kaum vorstellbar, dass sie jemand überraschen konnte. Sie hielten das Land, das sie durchquerten, aufmerksam im Auge, und abgesehen von dem leisen Knirschen des Schnees unter ihren weichen, kniehohen Stiefeln huschten sie geistergleich lautlos daher. Allerdings hob sich das Grün und Grau und Braun ihrer Kleidung von der weißen Landschaft ab. Seit der Überquerung der Drachenmauer hatte man dem Cadin 'sor Grün hinzugefügt, um sich in einem grünen Land besser verbergen zu können. Das hatten ihr Bain und Chiad verraten. Warum hatten diese Leute kein Weiß für den Winter hinzugefügt? Im Moment konnte man sie aus einiger Entfernung sehen.
Faile versuchte, sich alles zu merken, was sich später als nützlich erweisen könnte, wenn die Zeit zur Flucht gekommen war. Sie hoffte, dass es ihre Mitgefangenen auch taten. Perrin würde die Shaido mit Sicherheit jagen, aber der Gedanke an eine Rettung fand keinen Eingang in ihre Berechnungen. Warte auf die Rettung und womöglich wartest du für alle Zeiten. Außerdem mussten sie so schnell wie möglich fliehen, bevor ihre Entführer sich mit dem Rest der Shaido vereinigten. Noch sah sie keine Möglichkeit, aber es musste einen Weg geben. Zumindest hatten sie das Glück, dass sich die Hauptgruppe der Shaido Tage von ihnen entfernt befinden musste. In diesem Teil von Amadicia herrschte das Chaos, aber sie hätten davon gehört, wenn sich Tausende von Shaido in ihrer Nähe befunden hätten.
Ganz zu Anfang hatte sie einmal versucht, zu den Frauen zurückzublicken, die zusammen mit ihr gefangen worden waren, aber der Versuch hatte lediglich zu einem Sturz in eine Schneebank geführt. Zur Hälfte unter weißem Pulverschnee begraben, hatte die eisige Berührung sie nach Luft schnappen lassen, und dann hatte sie erneut gekeucht, als der riesenhafte Shaido, der ihre Leine hielt, sie wieder auf die Füße setzte. Rolan, der so breit wie Perrin und mindestens einen ganzen Kopf größer war, hatte sie einfach an den Haaren in die Höhe gezerrt und sie mit einem Schlag auf den nackten Hintern angetrieben, um dann wieder in jenen weit ausholenden Dauerlauf zu verfallen, der sie zur Schnelligkeit zwang. Der Schlag hätte auch dazu dienen können, ein Pony anzutreiben. Trotz ihrer Nacktheit stand in Rolans blauen Augen nichts von einem Mann zu lesen, der eine Frau betrachtete. Ein Teil von ihr war dafür sehr dankbar. Ein anderer Teil war auf eine vage Weise ... entsetzt. Sie wollte mit Sicherheit nicht, dass er sie mit Lust oder gar Begehren betrachtete, aber diese ausdruckslosen Blicke waren fast schon eine Beleidigung! Danach konzentrierte sie sich darauf, nicht erneut zu stürzen, doch als die Stunden ohne die geringste Rast vergingen, wurde es bereits zu einer gewaltigen Anstrengung, sich nur auf den Beinen zu halten.
Anfangs hatte sie sich noch darüber gesorgt, welche ihrer Körperteile wohl zuerst erfrieren würden, aber als der Morgen ohne Marschpause in den Nachmittag übergegangen war, konzentrierte sie sich auf ihre Füße. Rolan und die vor ihm Gehenden hatten eine Art Pfad für sie getrampelt, aber es blieb genug eisiger Schnee mit scharfen Kanten übrig, und sie fing an, rote Flecken zu hinterlassen, die in ihren Fußabdrücken gefroren. Noch schlimmer war die Kälte. Falle hatte schon Erfrierungen gesehen. Wie lange würde es dauern, bis ihre Zehen schwarz wurden? Bei jedem stolpernden Schritt nach vorn dehnte sie den Fuß und bewegte ständig die Hände. Finger und Zehen schwebten in der größten Gefahr. Was das Gesicht und den Rest ihres Körpers anging, konnte sie nur hoffen. Das Dehnen schmerzte, es ließ die Schnitte in ihren Fußsohlen brennen, aber jede Empfindung war besser als keine. Wenn das Gefühl verschwand, würde ihr nur noch wenig Zeit bleiben. Dehnen und gehen, dehnen und gehen. Das füllte ihre Gedanken, sonst nichts. Sich mit zitternden Beinen weiter fortbewegen und Hände und Füße vor dem Erfrieren zu bewahren. Sich weiter bewegen.
Plötzlich stolperte sie gegen Rolan und wurde keuchend von seiner breiten Brust zurückgeworfen. Zur Hälfte benommen — vielleicht sogar mehr als das — hatte sie nicht mitbekommen, dass er stehen geblieben war. Genau wie die anderen, die sich vor ihnen befanden; ein paar von ihnen blickten zurück, der Rest sicherte misstrauisch mit erhobenen Waffen die Seiten, so als würden sie einen Angriff erwarten. Das war alles, was sie sehen konnte, bevor Rolan wieder eine Hand voll ihres Haars packte und sich bückte, um einen ihrer Füße anzuheben. Licht, der Mann behandelte sie wirklich wie ein Pony!
Er ließ Haare und Fuß los, schob einen Arm um ihre Beine, und im nächsten Augenblick wirbelte alles um sie herum, als er sie sich über die Schulter legte und ihr Kopf neben dem auf seinem Rücken hängenden Hornbogen zu ruhen kam. Empörung stieg in ihr auf, als er sie ungerührt hin und her schob, bis er die beste Trageposition gefunden hatte, aber sie unterdrückte sie, so schnell sie gekommen war. Das war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Ihre Füße waren aus dem Schnee, das war alles, was zählte. Und auf diese Weise konnte sie verschnaufen. Allerdings hätte er sie vorher warnen können.
Mühsam verdrehte sie den Nacken, damit sie ihre Gefährtinnen sehen konnte, und verspürte Erleichterung, dass sie alle noch dabei waren. Sicher, es waren nackte Gefangene, aber sie war davon überzeugt, dass man nur die Leichen zurückgelassen hätte. Außer ihr trug keiner eine Leine, aber den meisten hatte man die Arme auf den Rücken gefesselt. Alliandre krümmte sich nicht länger zusammen in dem Versuch, ihren Körper zu verbergen. Für die Königin von Ghealdan gab es nun andere Sorgen als Sittsamkeit. Sie keuchte und zitterte am ganzen Leib, und sie wäre gestürzt, hätte der untersetzte Shaido, der ihre Füße untersuchte, sie nicht bei den zusammengebundenen Ellbogen gehalten. Untersetzt bedeutete bei einem Aiel, dass er an den meisten Orten nicht weiter aufgefallen wäre, wären da nicht Schultern gewesen, die fast so breit wie Rolans waren. Das dunkle Haar, das auf Alliandres Rücken fiel, war vom Wind zerzaust, ihr Gesicht wirkte abgezehrt. Maighdin hinter ihr schien sich in einem fast genauso schlechten Zustand zu befinden; sie rang keuchend nach Luft, das rotgoldene Haar war zerzaust und der Blick der blauen Augen war starr, aber sie schaffte es, aus eigener Kraft stehen zu bleiben, während eine knochendürre Tochter ihren Fuß hob. Irgendwie sah Failes Dienerin mehr wie eine Königin aus, als dies Alliandre tat, wenn auch eine in Mitleidenschaft gezogene Königin.
Bain und Chiad schienen sich in keinem schlimmeren Zustand als die Shaido zu befinden, auch wenn Chiads Wange von dem Schlag, den sie bei ihrer Gefangennahme abbekommen hatte, angeschwollen war und sich gelb verfärbte, und das schwarze Blut, das Bains feuerrotes kurzes Haar verklebte und ihr ins Gesicht gelaufen war, schien gefroren zu sein. Das war böse; das konnte eine Narbe geben. Aber die beiden Töchter des Speers atmeten nicht schwer und hoben sogar selbst die Füße zur Untersuchung. Sie waren die einzigen Gefangenen, die nicht gefesselt waren. Wenn man einmal von Bräuchen absah, die stärker als alle Ketten waren. Sie hatten ihr Schicksal ruhig akzeptiert, sie hatten eingewilligt, ein Jahr und einen Tag als Gai'schain zu dienen. Möglicherweise würden sie bei einer Flucht helfen können — Faile vermochte nicht genau zu sagen, wie weit die Bräuche sie einschränkten —, aber sie selbst würden nicht zu fliehen versuchen.
Lacile und Arrela, die beiden letzten Gefangenen, versuchten alles den Töchtern nachzumachen, natürlich erfolglos. Ein hoch gewachsener Aiel hatte sich die kleine Lacile einfach unter den Arm geklemmt, um sich ihre Füße anzusehen, und ihre bleichen Wangen waren vor Entsetzen und Scham blutrot. Arrela war groß, aber die beiden Töchter, die auf sie aufpassten, waren noch größer als Faile, und sie gingen mit der Frau aus Tairen mit unpersönlicher Mühelosigkeit um. Ihre Untersuchung rief bei ihr ein Stirnrunzeln hervor, möglicherweise war es auch die flinke Fingersprache, mit der sie sich austauschten. Faile hoffte, dass sie keinen Ärger machte, nicht jetzt. Jeder der Cha Faile versuchte wie ein Aiel zu sein und so zu leben, wie man glaubte, dass sie leben würden, aber Arrela wollte eine Tochter sein, und sie nahm es Sulin und den anderen übel, dass sie ihr nicht die Fingersprache beibrachten. Hätte sie gewusst, dass Bain und Chiad Faile darin ein wenig unterrichtet hatten, wäre sie noch erzürnter gewesen. Zwar reichte es nicht aus, um mehr als jedes zweite Wort zu verstehen, das die Töchter jetzt übermittelten, aber es war besser als nichts. Und es war gut, dass Arrela nichts davon mitbekam. Sie waren der Ansicht, dass die Feuchtländerin weiche Füße hatte und dass sie überhaupt viel zu verwöhnt und weich war, und das hätte die Frau mit Sicherheit zu einem Wutausbruch provoziert.
Wie sich herausstellte, war Falles Sorge um Arrela unnötig. Die Tairenerin versteifte sich, als eine der Töchter sie sich auf die Schulter lud — die Frau tat dabei so, als würde sie taumeln und benutzte die freie Hand, eine Nachricht zu signalisieren, die der anderen Tochter hinter ihrem Schleier ein bellendes Lachen entlockte —, aber nach einem Blick auf Bain und Chiad, die bereits gehorsam über den Schultern von Aielmännern lagen, machte sich Arrela mürrisch ganz locker. Lacile kreischte auf, als der große Mann, der sie hielt, sie plötzlich umdrehte und in die gleiche Position brachte, aber danach fügte sie sich stumm ihrem Schicksal, obwohl ihr Gesicht noch immer feuerrot war. Es hatte durchaus seine Vorteile, dass sie den Aiel alles gleichtun wollten.
Alliandre und Maighdin jedoch, die letzten Frauen, von denen Faile angenommen hätte, dass sie sich zieren würden, waren da ganz anders. Als sie begriffen, was mit ihnen geschah, setzten sie sich erbost zur Wehr. Es war kein großer Kampf, zwei nackte und erschöpfte Frauen, denen man die Ellbogen eng aneinander gefesselt hatte, aber sie wanden sich und brüllten und traten nach jedem, der in ihre Nähe kam, und Maighdin versenkte sogar ihre Zähne in die Hand eines unachtsamen Aiels und verbiss sich wie ein Jagdhund in ihn.
»Hört damit auf, ihr Närrinnen!«, rief ihnen Faile zu. »Alliandre! Maighdin! Lasst sie euch tragen! Gehorcht mir!« Weder ihre Dienerin noch ihre Vasallin schenkten ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Maighdin knurrte wie eine Löwin durch ihre festgebissenen Zähne. Alliandre wurde niedergerungen, sie brüllte und trat noch immer um sich. Faile wollte es ihnen noch einmal befehlen.
»Die Gai'schain wird stumm sein«, knurrte Rolan und versetzte ihr einen harten Schlag.
Faile biss die Zähne zusammen und murmelte etwas Unverständliches. Was ihr einen weiteren Schlag einbrachte! Der Mann hatte sich ihre Messer hinter den Gürtel gesteckt. Hätte sie doch nur eines in die Finger bekommen ...! Nein. Was man ertragen musste, konnte man auch ertragen. Sie wollte fliehen und keine nutzlosen Gesten machen.
Maighdins Kampf dauerte etwas länger als Alliandres, und zwar bis zwei starke Männer ihren Kiefer öffnen und von der Hand des Shaido befreien konnten. Sie brauchten dazu zwei Mann. Zu Falles Überraschung versetzte der Gebissene Maighdin keinen Schlag, sondern schüttelte sich das Blut von der Hand und lachte! Aber das rettete sie nicht. Im Handumdrehen lag Failes Dienerin neben der Königin mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Ihnen blieben nur wenige Augenblicke, in denen sie sich in der nassen Kälte winden konnten. Zwei Shaido — eine davon eine Tochter — traten zwischen den Bäumen hervor und schnitzten mit ihren schweren Gürtelmessern Verästelungen von langen Ruten. Dann wurde jeder Frau ein Fuß zwischen die Schulterblätter gesetzt, und eine Faust schob die um sich greifenden Hände aus dem Weg, und dann erblühten rote Striemen auf weißen Hüften.
Zuerst setzten sich beide Frauen weiter zur Wehr und wanden sich. Aber ihr Kampf war noch sinnloser als zuvor, als sie aufrecht gestanden hatten. Oberhalb ihrer Taille bewegte sich nichts außer zurückgeworfenen Köpfen und wild um sich greifenden Händen. Alliandre kreischte weiterhin, dass man das nicht mit ihr machen könnte, was für eine Königin verständlich, unter diesen Umständen aber dumm war. Offensichtlich konnten sie es und sie taten es auch. Überraschenderweise hob Maighdin ihre Stimme zu der gleichen schrillen Ungläubigkeit. Jeder hätte sie für eine Angehörige des Adels statt für eine Dienerin gehalten. Faile wusste genau, dass Lini Maighdin mit der Rute bestraft hatte, ohne dass es ein solches Theater gegeben hatte. Auf jeden Fall halfen die ungläubigen Proteste den Frauen nicht im mindesten. Die Prügel wurden fortgesetzt, bis sie beide wortlos jammerten und um sich traten, und dann noch etwas länger, damit die Botschaft auch ankam. Als sie schließlich wie alle Gefangenen über die Schulter gelegt wurden, hingen sie schluchzend da, und der Wille zum Widerstand war restlos verschwunden.
Faile verspürte keinerlei Mitleid. Ihrer Ansicht nach hatten diese Närrinnen jeden Schlag verdient. Von Erfrierungen und zerschnittenen Füßen einmal abgesehen, je länger sie ohne Kleidung den Elementen ausgesetzt waren, desto eher stand an zu befürchten, dass es einige von ihnen nicht überleben würden, um später zu entfliehen. Die Shaido würden sie zu einer Art Unterschlupf bringen und Alliandre und Maighdin hatten die Ankunft dort verzögert. Vielleicht war es ja nicht mehr als eine Viertelstunde, aber Minuten konnten den Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten ausmachen. Außerdem würden selbst Aiel zumindest etwas in ihrer Wachsamkeit nachlassen, sobald sie in einer Unterkunft waren und Feuer entzündet hatten. Und sie, die Gefangenen, konnten nun neue Kräfte schöpfen, da sie getragen wurden. Jetzt konnten sie auf ihre Chance warten und sie ergreifen, wenn sie kam.
Die Shaido verfielen wieder in ihren weitausholenden Schritt. Und tatsächlich hatte es den Anschein, dass sie sich jetzt, da sie ihre Gefangenen trugen, noch schneller als zuvor durch den Wald bewegten. Die harte Ledertasche des Bogens stieß in Failes Seite, während sie hin und her schwankte, und langsam wurde ihr schwindelig. Jeder der langen Schritte Rolans sandte eine harte Erschütterung durch ihren Leib. Verstohlen versuchte sie eine Position zu finden, in der sie nicht so energisch durchgeschüttelt wurde.
»Beweg dich nicht, sonst wirst du runterfallen«, murmelte Rolan und tätschelte ihre Hüfte, so wie er ein Pferd getätschelt hätte, um es zu beruhigen.
Faile hob den Kopf und schaute mit gerunzelter Stirn zu Alliandre hinüber. Von der Königin von Ghealdan war nicht viel zu sehen, und das, was zu sehen war, war von dicken roten Striemen gezeichnet. Wenn man mal so darüber nachdachte, wären eine kurze Verzögerung und ein paar Striemen womöglich ein geringer Preis dafür gewesen, ein Stück aus diesem Flegel herauszubeißen, der sie wie ein Sack Korn trug. Aber nicht aus seiner Hand. Seine Kehle wäre das bessere Ziel gewesen.
Kühne Gedanken, und mehr als nutzlos. Närrisch. Obwohl sie getragen wurde, musste sie weiter gegen die Kälte ankämpfen. Sie begriff, dass das Getragenwerden in gewisser Weise sogar schlechter war. Als sie gegangen war, hatte sie darum kämpfen müssen, auf den Füßen und damit wach zu bleiben. Als der Abend kam und die Dunkelheit hereinbrach, schien die wiegende Bewegung auf Rolans Schulter eine einschläfernde Wirkung zu haben. Nein. Es war die Kälte, die ihren Verstand betäubte. Ihr Blut langsamer fließen ließ. Sie musste dagegen ankämpfen oder sie würde sterben.
Faile bewegte rhythmisch ihre Hände und die gefesselten Arme, spannte die Beine an und entspannte sie wieder, zwang ihre Muskeln dazu, ihr Blut zirkulieren zu lassen. Sie dachte an Perrin, schmiedete Pläne, wie er mit Masern a verfahren sollte und wie sie ihn davon überzeugen würde, wenn er sich sträubte. Sie ging in Gedanken die Diskussion durch, die sie haben würden, wenn er erfuhr, dass sie Cha Faile als Spione benutzt hatte, plante, wie sie seinem Zorn begegnen und ihn abwenden würde. Die Wut eines Ehemanns in eine gewünschte Richtung zu lenken war eine Kunst und sie hatte von einer Expertin gelernt, ihrer Mutter. Es würde ein großartiger Streit werden. Und eine großartige Versöhnung — danach.
Der Gedanke an die Versöhnung mit Perrin ließ sie vergessen, ihre Muskeln zu bewegen, also versuchte sie sich auf den Streit zu konzentrieren, auf das Pläneschmieden. Aber die Kälte erschwerte jegliches Denken. Sie fing an, den Faden zu verlieren, musste den Kopf schütteln und von vorn anfangen. Rolans grobe Befehle halfen ebenfalls, es war eine Stimme, auf die sie sich konzentrieren konnte, die sie wach hielt. Sogar die begleitenden Schläge auf ihre Kehrseite halfen, so sehr sie es hasste, das zugeben zu müssen, denn jeder davon war eine Erschütterung, die sie aufweckte. Eine Zeit lang später fing sie an, öfters herumzurutschen, dann wehrte sie sich, bis sie beinahe herunterfiel, und provozierte die groben Klapse. Alles, nur um wach zu bleiben. Sie vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit verging, aber ihre Bewegungen wurden schwächer, bis Rolan sie nicht länger anfuhr und sie auch nicht mehr schlug. Licht, sie wollte, dass der Mann auf ihr spielte wie auf einer Trommel!
Warum, beim Licht, sollte ich so etwas tatsächlich wollen? dachte sie träge, und in einer trüben Ecke ihres Be —wusstseins erkannte sie, dass die Schlacht verloren war. Sogar die Nacht erschien dunkler, als sie sein sollte. Sie konnte nicht einmal mehr den Schein des Mondlichts auf dem Schnee erkennen. Sie konnte spüren, wie sie allem entglitt, immer schneller einer noch tieferen Finsternis entgegenraste. Sie schluchzte stumm und versank in der Betäubung.
Träume kamen. Sie saß auf Perrins Schoß, und er umarmte sie so fest, dass sie sich kaum bewegen konnte, während in einem breiten Kamin ein Feuer loderte. Sein Bart kratzte auf ihren Wangen, während er beinahe schmerzhaft an ihrem Ohrläppchen knabberte. Plötzlich tobte ein gewaltiger Windstoß durch den Raum und löschte das Feuer wie eine Kerze. Und Perrin verwandelte sich in Rauch, der in der nicht enden wollenden Böe verschwand. Allein in der bedrückenden Finsternis kämpfte sie gegen den Wind, aber er wirbelte sie umher, bis ihr so schwindelig war, dass sie oben nicht mehr von unten unterscheiden konnte. Allein taumelte sie immer tiefer in die eisige Dunkelheit hinein, in dem Wissen, dass sie ihn niemals wiederfinden würde.
Sie lief durch ein erfrorenes Land, quälte sich von Schneewehe zu Schneewehe, stürzte, kämpfte sich wieder hoch, um voller Panik weiterzulaufen, atmete keuchend Luft ein, die so kalt war, dass sie ihre Kehle wie Glasscherben aufschlitzte. An den kahlen Ästen um sie herum funkelten Eiszapfen, eisiger Wind heulte durch den blattlosen Wald. Perrin war sehr wütend und sie musste fort. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte sie sich nicht mehr an die Einzelheiten des Streits erinnern, nur dass sie ihren wunderschönen Wolf irgendwie richtig wütend gemacht hatte, bis Gegenstände geworfen wurden. Nur dass Perrin nie mit Gegenständen um sich warf. Er würde sie übers Knie legen, so wie er es schon einmal vor langer Zeit getan hatte. Aber warum rannte sie davor fort? Da war doch noch immer die Versöhnung. Und natürlich würde sie ihn für die Demütigung zahlen lassen. Gut, sie hatte ihn gelegentlich mit einer wohlgezielten Schale oder einem Krug ein bisschen bluten lassen, ohne das eigentlich zu wollen, aber sie wusste, dass er ihr niemals richtig wehtun würde. Doch sie wusste auch, dass sie rennen musste, immer weiter, oder sie würde sterben.
Wenn er mich fängt, dachte sie trocken, wird zumindest ein Teil von mir warm sein. Der Gedanke ließ sie lachen, bis das tote weiße Land um sie herumwirbelte, und sie wusste, dass auch sie bald tot sein würde.
Ein gewaltiges Feuer ragte vor ihr auf, ein Turm aus dicken Scheiten, aus dem prasselnde Flammen schlugen. Sie war nackt. Und ihr war kalt, so kalt. Ganz egal, wie nahe sie sich an das Feuer heranschob, ihre Knochen fühlten sich wie gefroren an, ihr Fleisch schien bereit, beim geringsten Schlag zu zersplittern. Sie ging noch näher heran. Die Hitze der lodernden Scheite wuchs, bis sie zusammenzuckte, aber die bittere Kälte blieb unter ihrer Haut gefangen. Näher heran. O Licht, es war heiß, zu heiß! Und in ihrem Inneren zu kalt. Noch näher heran. Das Brennen, der verzehrende Schmerz ließ sie schreien, aber innen drin war sie noch immer Eis. Und noch näher heran. Näher. Sie würde sterben. Sie kreischte, aber da war nur Stille und die Kälte.
Plötzlich war da Tageslicht, doch der Himmel war voller bleigrauer Wolken. Schnee fiel, federgleiche Schneeflocken wirbelten vom Wind getrieben an den Bäumen vorbei. Es war kein scharfer Wind, aber er züngelte mit Eiszungen. Auf den Ästen wuchsen weiße Grate in die Höhe, bis sie groß genug waren, durch ihr eigenes Gewicht und den Wind zusammenzubrechen, was schwerere Schauer zu Boden schickte. Hunger nagte mit stumpfen Zähnen in ihrem Bauch. Ein hoch gewachsener, knochiger Mann, dessen Gesicht von einer weißen Wollkapuze verhüllt wurde, zwang ihr etwas in den Mund, den Rand einer großen Tontasse. Seine Augen waren von einem atemberaubenden Grün, das an Smaragde erinnerte, und sie wurden von faltigen Narben umgeben. Er kniete neben ihr auf einer braunen Wolldecke, und eine weitere, grau gestreifte Wolldecke bedeckte ihre Nacktheit. Der Geschmack von heißem Tee mit Honig explodierte auf ihrer Zunge, und sie packte das sehnige Handgelenk des Mannes mit beiden Händen, nur damit er nicht versuchen konnte, den Becher wegzunehmen. Ihre Zähne schlugen gegen die Tasse, aber sie schluckte die dampfende, sämige Flüssigkeit gierig.
»Nicht zu schnell, du darfst nichts verschütten«, sagte der grünäugige Mann sanft. Sanftheit passte eigentlich nicht zu diesem wilden Gesicht, und dann auch noch in einer solch rauen Stimme. »Sie haben deine Ehre beleidigt. Aber du bist eine Feuchtländerin, also zählt das bei dir vielleicht nicht.«
Langsam dämmerte es ihr, dass das kein Traum war. Die Gedanken kamen in tröpfelnden Schatten, die schmolzen, wenn sie zu energisch versuchte, sie festzuhalten. Der in Weiß gekleidete Kerl war ein Gai'schain. Ihre Leine und die Fesseln waren verschwunden. Er löste sich aus ihrem schwachen Griff, aber nur, um aus dem von seiner Schulter hängenden Lederbeutel eine dunkle Flüssigkeit einzuschenken. Dampf wallte aus der Tasse hoch und der Duft von Tee.
Sie zitterte so sehr, dass sie beinahe vornüberfiel, und sie zog die dicke Wolldecke enger um sich herum. In ihren Füßen tobte ein wütender Schmerz. Sie hätte nicht stehen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Nicht, dass sie es wollte. So lange sie sich zusammenkauerte, schien die Decke alles bis auf ihre Füße zu bedecken; Stehen hätte ihre Beine und vielleicht noch mehr entblößt. Aber sie dachte dabei an Wärme, nicht an Schicklichkeit, obwohl es von beidem nicht viel gab. Der Hunger nagte in ihr und sie konnte nicht aufhören zu zittern. Ihr Inneres war erfroren, der heiße Tee bereits nur noch Erinnerung. Ihre Muskeln bestanden aus einer Woche altem, geronnenen Pudding. Sie wollte die sich füllende Tasse anstarren, ihren Inhalt begehren, aber sie zwang sich dazu, nach ihren Gefährtinnen Ausschau zu halten.
Sie waren alle in einer Reihe mit ihr da, Maighdin und Alliandre und die anderen, hockten zusammengesunken auf Wolldecken, zitterten unter von Schnee gesprenkelten Decken. Vor jeder von ihnen kniete ein Gai'schain mit einem dicken Wasserbeutel und einem Becher, und selbst Bain und Chiad tranken wie Frauen, die halb verdurstet waren. Jemand hatte Bains Gesicht vom Blut gesäubert, aber im Gegensatz zum letzten Mal, als Faile die beiden Töchter gesehen hatte, waren die beiden so abgezehrt und unsicher auf den Beinen wie alle anderen auch. Von Alliandre bis Lacile sahen ihre Gefährtinnen aus, als — wie pflegte Perrin doch immer zu sagen? — hätte man sie rücklings durch ein Astloch gezogen. Aber es waren noch alle am Leben; das war das wichtigste. Nur die Lebenden konnten entfliehen.
Rolan und die anderen Algai'd'siswai, in deren Gewalt sie waren, bildeten eine dicht zusammengedrängte Gruppe am Ende der knienden Reihe. Fünf Männer und drei Frauen, und der Schnee reichte den Töchtern fast bis zu den Knien. Die schwarzen Schleier hingen ihnen auf der Brust und sie betrachteten ihre Gefangenen und die Gai'schain reglos. Einen Augenblick lang sah Faile sie stirnrunzelnd an, versuchte einen schlüpfrigen Gedanken festzuhalten. Ja, natürlich. Wo waren die anderen? Die Flucht würde leichter sein, wenn der Rest aus irgendeinem Grund verschwunden war. Aber da war noch eine andere, genauso nebelhafte Frage, die ihr jedoch immer wieder entglitt.
Plötzlich sprang das, was sich hinter den acht Aiel befand, förmlich in ihr Blickfeld, und die Frage und die Antwort kamen ihr gleichzeitig in den Sinn. Wo kamen die Gai'schain her? Etwa hundert Schritte entfernt floss ein stetiger, vom fallenden Schnee und ein paar vereinzelt stehenden Bäumen leicht verdeckter Strom von Menschen, Lasttieren, Wagen und Karren vorbei. Nein, kein Strom. Eine Flut von Aiel auf der Reise. Statt mit hundertfünfzig Shaido musste sie sich nun mit dem ganzen Clan auseinandersetzen. Es erschien ihr unmöglich, dass so viele Menschen nur einen oder mehrere Tagesmärsche von Abila entfernt vorbeireisen konnten, ohne einen Alarm auszulösen, selbst in einem Land, in dem Anarchie herrschte, aber der Beweis lag vor ihren Augen. In ihrem Inneren fühlte sie sich wie betäubt. Vielleicht würde die Flucht ja dennoch nicht schwieriger durchzuführen sein, aber sie glaubte es nicht.
»Wieso haben sie mich beleidigt?«, fragte sie stockend und schloss dann den Mund, um ihre Zähne am Klappern zu hindern. Und öffnete ihn wieder, als ihr der Gai'schain den Becher reichte. Sie schluckte die kostbare Wärme, würgte, zwang sich zu langsameren Schlucken. Der Honig war so dick, dass er zu einem anderen Zeitpunkt ekelhaft geschmeckt hätte, aber jetzt dämpfte er ihren Hunger ein wenig.
»Ihr Feuchtländer wisst auch gar nichts«, sagte der Narbige abschätzig. »Gai'schain erhalten keine Kleidung, bis man ihnen die richtigen Gewänder geben kann. Aber sie fürchteten, ihr würdet erfrieren, und sie hatten nur ihre Mäntel, um euch zu wärmen. Man hat euch beschämt, als schwach bezeichnet, falls man Feuchtländer beschämen kann. Rolan und viele der anderen sind Mem'din, aber Efalin und der Rest hätte es besser wissen sollen. Efalin hätte es nicht erlauben dürfen.«
Beschämt? In Wut versetzt traf wohl eher zu. Faile wollte den Kopf nicht von dem gesegneten Becher abwenden, also verdrehte sie die Augen, bis sie den Riesen sehen konnte, der sie wie einen Sack Korn getragen und sie gnadenlos geschlagen hatte. Sie glaubte sich vage zu erinnern, dass sie diese Schläge auf den Hintern willkommen geheißen hatte, aber das war unmöglich. Natürlich war es unmöglich! Davon abgesehen, sah Rolan nicht wie ein Mann aus, der fast einen ganzen Tag und eine Nacht ohne Rast gelaufen war und dabei jemanden getragen hatte. Sein Atem, der in der Luft zu weißem Dampf erstarrte, ging ganz ruhig. Mem'din? Hieß das nicht Bruderlos in der Alten Sprache? Das sagte ihr nichts, aber in der Stimme des Gai'schain hatte eine Spur von Verachtung gelegen. Sie würde Bain und Chiad fragen müssen und hoffen, dass das nicht zu jenen Dingen gehörte, über die Aiel nicht mit Feuchtländern sprechen konnten, nicht mal mit Feuchtländern, die enge Freunde waren. Jede noch so geringe Information konnte bei der Flucht helfen.
Also hatten sie ihren Gefangenen wegen der Kälte etwas angezogen? Nun, wären Rolan und die anderen nicht gewesen, hätte keiner in der Gefahr geschwebt zu erfrieren. Doch vielleicht schuldete sie ihm ja einen kleinen Gefallen. Einen sehr kleinen, alles in allem betrachtet. Vielleicht würde sie ihm nur die Ohren abschneiden. Falls sie jemals dazu die Gelegenheit erhielt, umgeben von Tausenden von Shaido. Tausende? Die Shaido zählten Hunderttausende und Zehntausende davon waren Algai'd'siswai. Wütend auf sich selbst kämpfte sie gegen ihre Verzweiflung an. Sie würde fliehen; sie alle würden fliehen, und sie würde die Ohren dieses Mannes mitnehmen!
»Ich sorge dafür, dass Rolan so dafür entschädigt wird, wie er es verdient«, murmelte sie, als der Gai'schain den Becher wegnahm, um nachzufüllen. Er schenkte ihr einen misstrauischen Blick, und sie beeilte sich zu sagen: »Wie Ihr gesagt habt, ich bin eine Feuchtländerin. Das sind die meisten von uns. Wir folgen Ji'e'toh nicht. Euren Bräuchen zufolge dürfte man uns gar nicht zu Gai'schain machen, ist das nicht so?« Der Narbige verzog keine Miene, er blinzelte nicht mal. Ein flüchtiger Gedanke sagte ihr, dass es zu früh war, dass sie das Parkett noch nicht kannte, auf dem sie sich bewegte, aber ihre durch die Kälte trägen Gedanken konnten ihre Zunge nicht aufhalten. »Was ist, wenn die Shaido auch noch mit anderen Bräuchen brechen? Sie könnten sich entscheiden, Euch nicht gehen zu lassen, wenn die Zeit vorbei ist.«
»Die Shaido brechen mit vielen Bräuchen«, erwiderte er gelassen, »aber ich nicht. Ich muss das Weiß noch über ein halbes Jahr tragen. Bis dahin werde ich so dienen, wie es der Brauch verlangt. Wenn du so viel sprechen kannst, hast du vielleicht genug Tee getrunken?«
Faile riss ihm unbeholfen den Becher aus der Hand. Er hob die Brauen, und sie richtete die Decke so schnell sie konnte mit einer Hand, während sich ihre Wangen röteten. Er wusste, dass er eine Frau ansah. Licht, sie stolperte umher wie ein Ochse! Sie musste nachdenken, sich konzentrieren. Ihr Verstand war die einzige Waffe, die sie hatte. Und im Augenblick hätte ihr Gehirn genauso gut aus gefrorenem Käse bestehen können. Sie trank den heißen, süßen Tee und grübelte darüber nach, wie man aus der Tatsache, von Tausenden von Shaido umzingelt zu sein, einen Vorteil machen konnte. Aber ihr fiel nichts ein. Gar nichts.