Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich über dem Aryth-Meer ein Wind. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.
Der Wind über den kalten, graugrünen Wellenbergen wehte nach Osten in Richtung Tarabon, wo die Schiffe bereits entladen wurden oder darauf warteten, in den Hafen von Tanchico einfahren zu dürfen und darum meilenweit entlang der niedrigen Küstenlinie vor Anker gingen. Der große Hafen wimmelte vor Schiffen, großen und kleinen, und Barken brachten Leute und Frachtgut an Land, denn an keinem der städtischen Docks gab es auch nur eine freie Anlegestelle. Die Bewohner von Tanchico waren voller Furcht gewesen, als die Stadt an ihre neuen Herren fiel mit ihren seltsamen Bräuchen und merkwürdigen Kreaturen und den an einer Leine geführten Frauen, die die Eine Macht lenken konnten, und die Furcht kehrte zurück, als diese Flotte, deren Größe jede Vorstellungskraft sprengte, erschien und nicht nur Soldaten entlud, sondern auch emsige Kaufleute und Handwerker mit ihrem Werkzeug und ganze Familien mit Wagen voller Bauerngerätschaften und unbekannten Pflanzen. Allerdings gab es einen neuen König und einen neuen Panarchen, um Gesetze zu erlassen, doch auch wenn der König und der Panarch einer in weiter Ferne lebenden Kaiserin den Gehorsam schuldeten und seanchanische Adlige viele der Paläste besetzten und tiefere Gehorsamsbezeugungen verlangten als jeder tarabonische Lord oder seine Lady, hatte sich das Leben der meisten Menschen kaum verändert, und wenn, dann höchstens zum Besseren. Der seanchanische Adel hatte nur wenig Kontakt mit dem gewöhnlichen Volk, und mit seltsamen Bräuchen konnte man leben.
Die Anarchie, die das Land gespalten hatte, war nur noch eine Erinnerung, und der Hunger mit ihr. Die Rebellen und Banditen und Drachenverschworenen, die das Land wie eine Plage heimgesucht hatten, waren tot oder gefangen, und diejenigen, die sich nicht ergeben hatten, waren nach Norden auf die Ebene von Almoth gedrängt worden, und der Handel war wieder in Schwung gekommen. Die Horden hungernder Flüchtlinge, welche die Straßen der Stadt verstopft hatten, waren wieder in ihren Dörfern und auf ihren Bauernhöfen. Und von den Neuankömmlingen blieben nie mehr in Tanchico, als die Stadt mühelos ernähren konnte. Trotz des Schnees schwärmten Tausende und Zehntausende Soldaten, Kaufleute, Handwerker und Bauern ins Landesinnere und der eisige Wind peitschte ein Tanchico, in dem Frieden herrschte und das nach den schweren Heimsuchungen größtenteils mit seinem Los zufrieden war.
Der Wind wehte weiter nach Osten, viele Meilen weit, schoss als Böe hernieder und dann wieder als Lufthauch, teilte sich auf, ohne jemals zum Erliegen zu kommen, fuhr nach Osten und drehte nach Süden ab, flog über Wälder und Ebenen, die mit kahlen Ästen und braunem Gras fest im Griff des Winters waren, und überquerte schließlich die einstige Grenze zwischen Tarabon und Amadicia. Es war noch immer eine Grenze, wenn auch nur dem Namen nach, die Zollposten waren abgebaut und die Grenzwächter abgezogen. Der Wind wehte nach Osten und Süden, berührte die südlichen Ausläufer der Verschleierten Berge und wirbelte um das von hohen Mauern umgebene Amador. Das eroberte Amador. Das Banner oben auf der gewaltigen Festung des Lichts flatterte im Wind, und der goldene Falke, den es zeigte, schien sich mit Blitzen in den Krallen in die Lüfte zu erheben.
Nur wenige Einheimische verließen ihre Häuser, und dann auch nur, wenn es unvermeidlich war, und sie eilten die vereisten Straßen in ihre Umhänge gehüllt und mit gesenktem Blick entlang. Doch nicht nur, um die glatten Pflastersteine im Auge zu behalten und nicht auszurutschen, sondern weil sie die vereinzelten Seanchaner nicht ansehen wollten, die auf Bestien vorbeiritten, die bronzeschuppigen Katzen in der Größe von Pferden ähnelten, oder die mit Stahl verschleierten Taraboner, die Gruppen der ehemaligen Kinder des Lichts bewachten, die nun in Ketten gelegt wie Tiere arbeiteten, um Wagen mit Müll aus der Stadt zu ziehen. Kaum anderthalb Monate unter der Herrschaft der Seanchaner, fühlten die Menschen von Amadicias Hauptstadt den schneidenden Wind wie eine Geißel, und diejenigen unter ihnen, die ihr Schicksal nicht verfluchten, grübelten stattdessen darüber, welche Sünden ihnen das wohl eingebracht hatten.
Der Wind zog weiter nach Osten über ein verwüstetes Land, in dem es genauso viele verbrannte Dörfer und zerstörte Bauernhöfe gab wie solche, in denen es noch Menschen gab. Der Schnee bedeckte gleichermaßen verkohlte Balken und verlassene Scheunen und machte den Anblick erträglicher, während er gleichzeitig dafür sorgte, dass Erfrieren als zusätzliche Todesart zum Verhungern hinzukam. Schwert und Axt und Speer hatten bereits ihren Besuch abgestattet und blieben, um erneut zu töten. Und weiter wehte der Wind nach Osten, wo er wie ein Totenlied über dem mauerlosen Abila heulte. Auf den Wachtürmen der Stadt flatterten keine Banner, denn hier residierte der Prophet des Lord Drachen, und der Prophet brauchte außer seinem Namen kein Banner. In Abila zitterten die Menschen mehr bei der Erwähnung des Namens des Propheten, als es der Wind je vermocht hätte. An anderen Orten brachte der Name ebenfalls Menschen zum Zittern.
Perrin verließ das große Kaufmannshaus, in dem Masema wohnte, und zog die Handschuhe an, während der Wind seinen pelzverbrämten Umhang flattern ließ. Die mittägliche Sonne verbreitete keine Wärme und es war schneidend kalt. Er verzog keine Miene, aber er war zu wütend, um die Kälte zu spüren. Nicht nach der Axt an seinem Gürtel zu greifen kostete Kraft. Masema — er würde diesen Mann nicht Prophet nennen, nicht in seinen Gedanken, niemals! — Masema war mit ziemlicher Sicherheit ein Narr, außerdem bestimmt wahnsinnig. Ein mächtiger Narr, mächtiger als die meisten Könige, und wahnsinnig obendrein.
Masemas Wachen füllten die Straße von einer Seite zur anderen und waren auch noch an den Ecken der nächsten Straßen postiert, dürre Burschen in gestohlenen Seidengewändern, bartlose Lehrlinge in zerrissenen Mänteln, einstmals dicke Kaufmänner in den Überresten feiner Wollanzüge. Ihr Atem war feiner Nebel, und einige von ihnen zitterten ohne Umhang, aber jeder Mann hielt einen Speer gepackt oder eine Armbrust mit aufgelegtem Pfeil. Doch keiner von ihnen machte nach außen hin einen feindseligen Eindruck. Sie wussten, dass er sich auf die Bekanntschaft mit dem Propheten berief, und sie starrten ihn an, als erwarteten sie, dass er gleich in die Luft sprang und davonflog. Oder zumindest ein paar Saltos machte. Er sog die Luft ein und filterte den Holzrauch heraus, der aus den Kaminen der Stadt quoll. Sie alle stanken nach altem Schweiß und ungewaschenen Körpern, nach Eifer und Furcht. Und nach einem seltsamen Fieber, das er zuvor nicht wahrgenommen hatte, einer Widerspiegelung von Masemas Wahnsinn. Ob feindselig oder nicht, ein Wort Masemas würde genügen, und sie würden ihn oder jeden anderen auf der Stelle töten. Auf Masemas Wort hin würden sie ganze Nationen abschlachten. Als er dieses Fieber roch, fühlte er eine Kälte, die tiefer schnitt als der Winterwind. Er war erleichterter denn je, dass er sich geweigert hatte, Faile mitzunehmen.
Die Männer, die er bei den Pferden gelassen hatte, vertrieben sich auf einem vom Schneematsch befreiten Stück Straße beim Würfelspiel die Zeit oder taten zumindest so. Er vertraute Masema nicht so weit, wie er seinen Braunen werfen konnte. Die Männer konzentrierten sich mehr auf das Haus und die Wachen als auf ihr Spiel. Die drei Behüter sprangen sofort auf die Füße, als er erschien, und ihre Blicke richteten sich auf seine Begleiter, die hinter ihm hinaustraten. Ihre Hände waren nicht weit von den Schwertgriffen entfernt. Sie wussten, was ihre Aes Sedai dort drinnen gefühlt hatten. Neald war langsamer und hob erst die Würfel und die Münzen auf. Der Asha'man war ein eitler Geck, der sich ständig den gezwirbelten Schnurrbart strich und umherstolzierte und lüstern den Frauen nachsah, aber jetzt verlagerte er das Gewicht auf die Fußballen und war so aufmerksam wie eine Katze.
»Eine Zeit lang habe ich gedacht, wir müssten uns unseren Weg nach draußen freikämpfen«, murmelte Elyas hinter Perrins Schulter. Doch der Blick seiner goldenen Augen war gelassen. Er war ein schlaksiger alter Mann mit einem breitkrempigen Hut, dessen grau werdendes Haar auf seinem Rücken bis zur Taille reichte und dessen Bart seine Brust verdeckte. An seinem Gürtel steckte ein langes Messer, kein Schwert. Aber er war Behüter gewesen. In gewisser Weise war er es noch immer.
»Das ist auch das Einzige, was geklappt hat«, bemerkte Perrin und nahm Stehers Zügel von Neald entgegen. Der Asha'man hob fragend die Brauen, aber Perrin schüttelte den Kopf, da ihn die Frage nicht interessierte. Neald gab Elyas die Zügel seines mausgrauen Wallachs, bevor er den Mund verzog und auf seinen Schecken stieg.
Perrin hatte keine Zeit für die Launen des Murandianers. Rand hatte ihn losgeschickt, um Masema zurückzuholen, und Masema kam. Aber der verdammte Kerl hielt jeden, der außer Rand die Eine Macht lenkte, für einen Gotteslästerer. Denn Rand war eigentlich kein Sterblicher; er war das Fleisch gewordene Licht! Also würde es kein Schnelles Reisen geben, kein schneller Sprung nach Cairhien durch ein von einem der Asha'man erschaffenes Wegetor, ganz egal, wie eindringlich Perrin versucht hatte, Masema zu überreden. Sie würden die ganzen vierhundert Meilen reiten müssen, und allein das Licht wusste, was ihnen unterwegs begegnen würde. Und sie würden ihre Identität geheim halten müssen und Masemas ebenfalls. So lauteten Rands Befehle.
»Ich sehe da nur eine Möglichkeit, wie wir das schaffen können, mein Junge«, sagte Elyas, als hätte er gerade laut gesprochen. »Eine hauchdünne Chance. Wir hätten eine größere Aussicht auf Erfolg, wenn wir den Kerl bewusstlos schlagen und uns den Weg freikämpfen.«
»Ich weiß«, knurrte Perrin. Er hatte während der stundenlangen Streiterei mehr als nur einmal daran gedacht. Es wäre möglich gewesen, hätten die Asha'man und die Aes Sedai und die Weisen Frauen alle zusammen die Macht benutzt. Aber er hatte an einer Schlacht teilgenommen, die mit der Einen Macht ausgefochten worden war, er war Zeuge gewesen, wie Männer während eines Augenblinzelns in blutige Stücke gerissen wurden und Flammen aus der Erde schössen. Bevor sie fertig gewesen wären, hätte sich Abila in ein Schlachthaus verwandelt. Wenn es nach ihm ging, würde er so etwas niemals wieder sehen müssen.
»Was glaubst du, was dieser Prophet davon halten wird?«, fragte Elyas.
Perrin musste erst die Gedanken an die Quellen von Dumai abschütteln, bevor er darüber nachsinnen konnte, was Elyas gesagt hatte. Ach ja. Wie er das Unmögliche zustande bringen würde. »Mir ist es gleichgültig, was er davon hält.« Mal davon abgesehen, dass der Mann Ärger machen würde, denn so viel stand fest.
Gereizt rieb er sich den Bart. Er musste ihn stutzen. Das hieß, ihn stutzen lassen. Wenn er die Schere ergriff, würde Faile sie ihm abnehmen und sie Lamgwin geben. Es erschien noch immer unmöglich, dass dieser gewaltige Schulterklopfer mit seinem vernarbten Gesicht und den eingefallenen Knöcheln über die Fertigkeiten eines Leibdieners verfügte. Licht! Ein Leibdiener. Langsam kam er mit Faile und ihren seltsamen saldaeanischen Gebräuchen zurecht, aber je besser er damit zurechtkam, desto mehr gelang es ihr, die Dinge so zu regeln, dass sie ihr gefielen. Frauen taten das natürlich sowieso, aber manchmal war er der Meinung, eine Art von Wirbelwind gegen den anderen eingetauscht zu haben. Vielleicht sollte er es noch mal mit diesem meisterhaften Herumgebrülle versuchen, das ihr anscheinend so gut gefiel. Ein Mann sollte sich den Bart selbst stutzen können, wenn er wollte. Aber er bezweifelte, dass er das tun würde. Es war schon schwer genug zurückzubrüllen, wenn sie damit angefangen hatte. Außerdem war es idiotisch, ausgerechnet in diesem Augenblick darüber nachzudenken.
Er musterte die anderen, die zu ihren Pferden gingen, als wären sie Werkzeuge, die er für eine harte Arbeit ausgewählt hatte. Er hegte die Befürchtung, dass Masema diese Reise so schlimm wie die übelste Arbeit machen würde, die er jemals erledigen musste, und seine Werkzeuge hatten alle einen Sprung.
Seonid und Masuri blieben an seiner Seite stehen; die Kapuzen ihrer Umhänge waren so weit vorgezogen, dass ihre Gesichter im Schatten lagen. In den Geruch ihres Parfüms mischte sich ein rasiermesserscharfes Zittern; kontrollierte Furcht. Wäre es nach Masema gegangen, hätte er sie auf der Stelle getötet. Und die Wachen würden es noch immer tun, sollten sie das Gesicht einer Aes Sedai erkennen. Unter so vielen Männern würde es mit Sicherheit einen geben, der es auch schaffte. Masuri war um eine Handspanne die größere der beiden, aber Perrin konnte auf ihre Köpfe herabsehen. Die Schwestern ignorierten Elyas und wechselten im Schatten ihrer Umhänge einen Blick, dann ergriff Masuri leise das Wort.
»Versteht Ihr jetzt, warum er getötet werden muss? Der Mann ist... wie ein tollwütiges Tier.« Nun, die Braune nahm selten ein Blatt vor den Mund. Glücklicherweise stand keiner der Wächter nahe genug, um sie belauschen zu können.
»Ihr hättet einen besseren Ort wählen können, um das zu sagen«, erwiderte er trotzdem. Er wollte die Argumente nicht noch einmal hören, weder jetzt noch später, aber vor allem nicht jetzt. Und es hatte den Anschein, als musste er es auch nicht.
Edarra und Carelle erhoben sich hinter den Aes Sedai, die Köpfe bereits mit dunklen Schals umwickelt. Die Enden, die auf Brust und Rücken hingen, schienen kaum einen Schutz vor der Kälte zu bieten, aber der Schnee schien die Weisen Frauen mehr zu stören — ja, schon seine bloße Existenz ärgerte sie. Ihre von der Sonne gebräunten Gesichter hätten, soweit sie zu sehen waren, aus Stein gemeißelt sein können, aber der von ihnen ausgehende Geruch erinnerte an einen Stahldorn. Der Ausdruck in Edarras blauen Augen, die für gewöhnlich so gelassen blickten, dass sie in einem seltsamen Gegensatz zu ihren jugendlichen Gesichtszügen zu stehen schienen, war so hart wie dieser Stahldorn. Natürlich verbarg sich unter ihrer Miene Stahl. Scharfer Stahl.
»Das hier ist kein Ort für Gespräche«, sagte Carelle sanft zu der Aes Sedai und steckte eine Strähne feuerroten Haars unter ihren Schal. Sie überragte viele Männer und gab sich immer sanft. Für eine Weise Frau. Was lediglich bedeutete, dass sie einem nicht die Nase abbiss, ohne einen vorher zu warnen. »Steigt auf eure Pferde.«
Die kleineren Frauen machten hastig einen Knicks und eilten zu ihren Sätteln, als wären sie keine Aes Sedai. Was sie für die Weisen Frauen auch nicht waren. Perrin glaubte nicht, dass er sich jemals daran gewöhnen würde. Selbst wenn es Masuri und Seonid selbst getan hatten.
Mit einem Seufzen schwang er sich auf Steher, während die Weisen Frauen ihren Aes Sedai-Lehrlingen folgten. Der Hengst tänzelte nach der Ruhepause, aber Perrin brachte ihn mit einem Kniedruck und ruhigen Händen an den Zügeln unter Kontrolle. Die Aiel stiegen unbeholfen auf ihre Pferde, obwohl sie in den letzten Wochen doch so viel Übung darin bekommen hatten; ihre schweren Röcke rutschten in die Höhe und enthüllten die mit Wollstrümpfen bekleideten Beine bis weit übers Knie. Sie teilten die Meinung der beiden Schwestern über Masema, genau wie die anderen Weisen Frauen in seinem Lager. Ein brodelnder Eintopf, den er zurück nach Cairhien tragen musste, ohne sich dabei zu verbrennen.
Grady und Aram saßen bereits im Sattel und Perrin konnte ihre Gerüche nicht unter denen der anderen herausfiltern. Aber das war auch nicht nötig. Er war immer schon der Meinung gewesen, dass Grady trotz seines schwarzen Mantels mit dem silbernen Schwert am Kragen wie ein typischer Bauer aussah, aber in diesem Augenblick war er ein anderer Mann. Der untersetzte Asha'man saß reglos wie eine Statue in seinem Sattel und musterte die Wächter mit dem grimmigen Blick eines Mannes, der entschied, wo er den ersten Schnitt ansetzte. Und den zweiten und dritten und wie viele auch immer nötig waren. Aram, dessen giftgrüner Kesselflickerumhang im Wind flatterte, während er die Zügel nahm, und dessen Schwertgriff über seine Schulter ragte — Arams Gesicht zeigte eine Aufregung, die Perrin das Herz schwer machte. Aram hatte in Masema einen Mann kennen gelernt, der sein Leben und sein Herz und seine Seele dem Wiedergeborenen Drachen verschrieben hatte. In Arams Denken kam der Wiedergeborene Drache kurz hinter Perrin und Faile.
Du hast dem Jungen keinen Gefallen getan, hatte Elyas ihm gesagt. Du hast ihm dabei geholfen, dass er all das losließ, woran er glaubte, und jetzt hat er nur noch dich und dieses Schwert, an das er glauben kann. Und das ist nicht genug, und zwar ^ für keinen Mann. Elyas hatte Aram gekannt, als dieser noch ein Kesselflicker war, bevor er zum Schwert gegriffen hatte.
Ein Eintopf, der für manche möglicherweise vergiftet sein würde.
Es reichte nicht, dass sie aufgesessen waren. Die Wächter sahen Perrin vielleicht mit Erstaunen an, aber sie gaben den Weg erst frei, als sich jemand aus einem Fenster des Hauses beugte und ihnen etwas zurief. Dann rückten sie gerade nahe genug auseinander, dass die Reiter einzeln hintereinander losreiten konnten. Den Propheten ohne seine Erlaubnis zu erreichen war schwer. Ohne seine Erlaubnis zu gehen war unmöglich.
Sobald sie Masema und seine Wächter hinter sich gelassen hatten, ritt Perrin so schnell, wie es in den dicht bevölkerten Straßen möglich war. Nicht, dass das besonders schnell war. Abila mit seinen gepflasterten Marktplätzen und bis zu vier Stockwerken hohen, schiefergedeckten Häusern war vor gar nicht allzu langer Zeit eine große, blühende Stadt gewesen. Es war noch immer groß, aber nun ragten Schuttberge in die Höhe, wo Häuser und Schenken abgerissen worden waren. In ganz Abila gab es keine einzige Schenke mehr oder gar ein Haus, wo jemand nicht schnell genug lauthals die Pracht des Wiedergeborenen Drachen gepriesen hatte. Masemas Missbilligung war niemals subtil.
In der Menge waren nur wenige zu sehen, die aussahen, als wären sie Bürger der Stadt gewesen; farblose Leute in zerlumpter Kleidung, die größtenteils furchterfüllt an den Straßenrändern vorbeihuschten. Es gab auch keine Kinder. Auch keine Hunde; mittlerweile dürfte Hunger an diesem Ort zu einem Problem geworden sein. Überall stapften Gruppen Bewaffneter durch den knietiefen Matsch, der vergangene Nacht noch Schnee gewesen war; hier waren es zwanzig Mann, dort fünfzig, und sie stießen die Leute, die ihnen nicht schnell genug aus dem Weg gingen, einfach zu Boden; sie brachten selbst Ochsengespanne dazu, um sie herumzufahren. Ständig waren Hunderte von ihnen in Sichtweite. In der Stadt musste es Tausende von ihnen geben. Masemas Armee war ein Mob, aber ihre Größe machte bis jetzt andere Mängel wieder wert. Man musste dem Licht danken, dass der Mann eingewilligt hatte, nur ein paar Hundert mitzunehmen. Es hatte zwar eine Stunde der Diskussion gebraucht, aber er hatte eingewilligt. Am Ende hatte Masemas Verlangen, trotz des Verzichts auf das Schnelle Reisen möglichst rasch zu Rand zu stoßen, den Ausschlag gegeben. Nur wenige seiner Anhänger hatten Pferde, und je mehr zu Fuß marschierten, desto langsamer würden sie vorankommen. Wenigstens würde er bei Einbruch der Dunkelheit in Perrins Lager eintreffen.
Perrin sah außer seinen Leuten keine Reiter, und sie riefen bei den Bewaffneten finstere Blicke hervor, steinerne Blicke, fiebrige Blicke. Es kam oft vor, dass gut gekleidete Leute dem Propheten einen Besuch abstatteten, Adlige und Kaufleute, die von der Hoffnung geleitet wurden, dass sie durch die persönliche Unterwerfung größeren Segen und geringere Bestrafungen bekamen, aber für gewöhnlich gingen sie wieder zu Fuß. Jedoch stellte sich Perrines Männern niemand in den Weg, wenn man einmal davon absah, dass sie um Gruppen von Masemas Anhängern herumreiten mussten. Wenn sie zu Pferd abreisten, dann konnte das nur Masemas Wille sein. Trotzdem brauchte Perrin keinen zu ermahnen, in der Nähe zu bleiben. In Abila herrschte eine Atmosphäre gespannter Erwartung, und niemand, der halbwegs bei Verstand war, würde in der Nähe sein wollen, wenn das Warten zu Ende war.
Er verspürte Erleichterung, als Balwer kurz hinter der niedrigen Holzbrücke, die aus der Stadt herausführte, seinen hammernasigen Wallach aus einer Seitenstraße lenkte, fast eine genauso große Erleichterung, wie er sie verspürt hatte, als sie die Brücke überquert und die letzten Wächter passiert hatten. Der kleine Mann mit dem spitzen Gesicht und den eckigen Gliedern, dessen einfacher brauner Mantel mehr an seiner Gestalt herabhing, als dass er ihn trug, konnte des äußeren Erscheinungsbildes zum Trotz sehr gut auf sich selbst aufpassen. Aber Falle baute einen richtigen Adelshaushalt auf, und es hätte ihr mehr als nur missfallen, wenn ihr Sekretär zu Schaden gekommen wäre.
Ihren und Perrins, was das anging. Perrin war sich nicht so richtig darüber im Klaren, was er davon halten sollte, einen Sekretär zu haben, aber der Bursche hatte noch andere Fertigkeiten als eine schöne Handschrift. Wie er unter Beweis stellte, sobald sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und von niedrigen, bewaldeten Hügeln umgeben wurden. Die meisten Äste waren kahl, und diejenigen, die noch Blätter oder Nadeln aufwiesen, hoben sich mit einem kräftigen Grün von dem Weiß ab. Sie hatten die Straße für sich, aber der in den Bodenfurchen gefrorene Schnee sorgte dafür, dass sie nur langsam vorankamen.
»Vergebt mir, mein Lord Perrin«, murmelte Balwer und beugte sich auf seinem Sattel vor, um an Elyas vorbeisehen zu können, »aber ich habe zufällig etwas belauscht, das für Euch möglicherweise von Interesse sein könnte.« Er hustete diskret in seinen Handschuh, dann griff er eilig nach seinem Umhang und zog ihn eng um sich.
Eigentlich war Perrins Geste überflüssig, mit der er Elyas, Aram und die anderen aufforderte, sich ein Stück zurückzuziehen. Jeder war daran gewöhnt, dass der kleine pedantische Mann allein sein wollte, wenn er mit Perrin etwas zu besprechen hatte. Warum er den Anschein erwecken wollte, dass niemand wusste, dass er in jeder Stadt und in jedem Dorf, an dem sie vorbeikamen, Informationen beschaffte, konnte Perrin nicht mal erahnen. Ihm musste doch klar sein, dass Perrin seine Erkenntnisse mit Falle und Elyas besprach. Aber egal, er war sehr gut darin, jemandem Informationen zu entlocken.
Balwer legte den Kopf schief, um Perrin zu beobachten, während sie Seite an Seite ritten. »Ich habe zwei Neuigkeiten, Mein Lord, eine, die ich für wichtig halte, und eine dringende.« Dringend oder nicht, selbst seine Stimme klang pedantisch und trocken, wie abgefallene Blätter, die über den Boden rauschten.
»Wie dringend?« Perrin wettete mit sich selbst, wen die erste Neuigkeit betraf.
»Vielleicht sogar sehr, Mein Lord. König Ailron hat sich ungefähr einhundert Meilen westlich von hier nahe der Stadt Jeramel mit den Seanchanern eine Schlacht geliefert. Das war vor etwa zehn Tagen.« Balwer schürzte gereizt die Lippen. Er verabscheute Ungenauigkeit; es störte ihn, wenn er nicht genau Bescheid wusste. »Verlässliche Informationen sind knapp, aber zweifellos ist das amadicianische Heer erschlagen, gefangen genommen oder in alle Winde verstreut. Es sollte mich sehr überraschen, wenn irgendwo noch mehr als hundert Mann zusammen sein sollten, und die werden bald das Handwerk der Straßenräuberei ergreifen. Ailron selbst wurde gefangen genommen, zusammen mit seinem ganzen Hof. Amadicia hat keinen Adel mehr; es hat gar nichts mehr.«
In Gedanken erklärte Perrin seine Wette für verloren. Für gewöhnlich begann Balwer immer mit Neuigkeiten über die Weißmäntel. »Ich schätze, für Amadicia ist das eine Schande. Auf jeden Fall aber für die Gefangenen.« Balwer zufolge sprangen die Seanchaner auf eine ziemliche grobe Weise mit denen um, die sich ihnen mit Waffengewalt entgegenstellten. Also hatte Amadicia kein Heer mehr und auch keine Adligen, die ein neues ausheben oder befehligen konnten. Es gab nichts mehr, um die Seanchaner daran zu hindern, sich so schnell auszubreiten, wie sie wollten, obwohl sie sich auch dann schnell auszubreiten schienen, wenn es Gegenwehr gab. Am besten ritten sie nach Osten, sobald Masema im Lager eintraf, und zwar so schnell, wie es Männer und Pferde schafften.
Er sagte es und Balwer nickte mit einem schmalen Lächeln. Der Mann schätzte es, wenn Perrin den Wert seiner Berichte erkannte.
»Die andere Sache, mein Lord«, fuhr er fort. »Die Weißmäntel haben an der Schlacht teilgenommen, aber anscheinend ist es Valda gelungen, die meisten von ihnen am Ende vom Schlachtfeld zu schaffen. Er hat das Glück des Dunklen Königs. Keiner scheint zu wissen, wo sie abgeblieben sind. Das heißt, jeder weiß eine andere Richtung zu berichten. Ich würde sagen, sie sind nach Osten abgezogen. Fort von den Seanchanern.« Und natürlich in Richtung Abila.
Also hatte er doch nicht so weit danebengetippt. Auch wenn der Mann nicht damit angefangen hatte. Na gut, dann eben ein Gleichstand. Weit über ihnen zog ein Falke am wolkenlosen Himmel vorbei und flog nach Norden. Er würde das Lager lange vor ihnen erreichen. Perrin konnte sich an eine Zeit erinnern, in der er genauso wenig Sorgen wie dieser Falke gehabt hatte. Zumindest verglichen mit dem heutigen Tag. Diese Zeit war lange her.
»Ich schätze, Balwer, die Weißmäntel sind mehr darauf bedacht, den Seanchanern aus dem Weg zu gehen, als uns in die Quere zu kommen. Aber es spielt sowieso keine Rolle, ich kann wegen ihnen genauso wenig schneller reisen als wegen der Seanchaner. War das die zweite Neuigkeit?«
»Nein, Mein Lord. Nur ein interessantes Detail.« Balwer schien die Kinder des Lichts zu hassen, vor allem Valda — Perrin vermutete, dass er irgendwann in der Vergangenheit grob von ihnen behandelt worden war —, aber wie alles bei diesem Mann war es ein trockener, kalter Hass. Leidenschaftslos. »Die zweite Neuigkeit ist, dass die Seanchaner noch eine andere Schlacht geschlagen haben, und zwar im südlichen Altara. Möglicherweise gegen Aes Sedai, obwohl einige auch Männer erwähnten, welche die Macht lenkten.« Balwer drehte sich ein Stück auf seinem Sattel um und warf einen Blick zurück auf Grady und Neald in ihren schwarzen Mänteln. Grady unterhielt sich angeregt mit Elyas und Neald mit Aram, aber die beiden Asha'man schienen den Wald dabei genauso aufmerksam im Auge zu behalten wie die Behüter, die die Nachhut bildeten. Die Aes Sedai und die Weisen Frauen waren ebenfalls in leise Unterhaltungen vertieft. »Wer auch immer gegen sie gekämpft hat, Mein Lord, es steht fest, dass die Seanchaner verloren und sich fluchtartig nach Ebou Dar zurückgezogen haben.«
»Gute Neuigkeiten«, sagte Perrin tonlos. Die Quellen von Dumai blitzten vor seinem inneren Auge auf, diesmal stärker als zuvor. Einen Augenblick lang stand er wieder Rücken an Rücken mit Loial und kämpfte verzweifelt in der festen Überzeugung, dass jeder Atemzug der letzte sein würde. Zum ersten Mal an diesem Tag zitterte er am ganzen Leib. Immerhin wusste Rand über die Seanchaner Bescheid. Wenigstens musste er sich darüber keine Sorgen machen.
Ihm wurde bewusst, dass Balwer ihn ansah. Ihn ins Auge fasste, so wie ein Vogel ein seltsames Insekt ins Auge fasste. Das Zittern war ihm nicht entgangen. Der kleine Mann wusste gern über alles Bescheid, aber es gab einige Geheimnisse, die niemals jemand erfahren würde.
Perrins Blick kehrte zu dem Falken zurück, der selbst für ihn kaum noch zu sehen war. Er erinnerte ihn an Faile, sein wildes Falkenweibchen von einer Frau. Sein wunderschönes Falkenweibchen von einer Frau. Er verbannte Seanchaner und Weißmäntel und Schlachten und sogar Masema aus seinen Gedanken. Zumindest für den Augenblick.
»Reiten wir etwas schneller«, rief er den anderen zu. Der Falke würde Faile vielleicht vor ihm sehen, aber im Gegensatz zu dem Vogel würde er die Liebe seines Herzens sehen. Und heute würde er sie nicht anbrüllen, ganz egal, was sie getan hatte.