10 Ein Plan hat Erfolg

Elayne schlug die Augen auf. Es war dunkel. Sie starrte auf verschwommene Schatten, die vor einer nebelhaften, bleichen Helligkeit tanzten. Ihr Gesicht war kalt, ihr Körper heiß und verschwitzt; etwas hielt ihre Arme und Beine fest. Einen Augenblick lang stieg Panik in ihr auf. Dann spürte sie Aviendhas Anwesenheit in dem Raum, eine einfache, tröstende Anwesenheit, und Birgitte, die wie eine Faust aus ruhigem, kontrolliertem Zorn war. Sie beruhigten sie, einfach, indem sie da waren. Sie befand sich in ihrem eigenen Schlafzimmer, lag unter den Decken in ihrem Bett und starrte auf den dicht gespannten Leinenbaldachin; neben ihr lagen Flaschen mit heißem Wasser. Die schweren Winterbettvorhänge waren an den gedrechselten Pfosten festgebunden, und das einzige Licht im Raum kam von den winzigen, flackernden Flammen im Kamin; es reichte gerade aus, um die Schatten mit Leben zu erfüllen und sie nicht zu verscheuchen.

Automatisch griff sie nach der Quelle und fand sie. Berührte erstaunt Saidar, ohne davon zu nehmen. Das starke Verlangen, tief davon zu schöpfen, stieg in ihr auf, aber sie zog sich zögernd zurück. Oh, sogar schrecklich zögernd, und nicht nur, weil das Verlangen, von dem wogenden Leben Saidars erfüllt zu sein, oft eine bodenlose Begierde war, die kontrolliert werden musste. Während dieser endlosen Minuten des Schreckens hatte ihre größte Furcht nicht dem Tod gegölten, sondern der Vorstellung, nie wieder die Quelle berühren zu können. Einst hätte sie das für seltsam gehalten.

Abrupt kehrte die Erinnerung zurück und sie setzte sich mühsam auf. Die Decken rutschten ihr bis zur Taille herunter. Sofort riss sie sie wieder hoch. Die Luft fühlte sich eiskalt auf ihrer nackten, verschwitzten Haut an. Sie hatten ihr nicht einmal ein Unterhemd gelassen, und so gern sie auch Aviendha und ihre Unbekümmertheit, sich vor anderen unbekleidet zu präsentieren, nachgeahmt hätte, konnte sie sich nicht dazu überwinden. »Dyelin«, sagte sie besorgt und verrenkte sich, um die Decken besser um den Körper drapieren zu können. Es war ein unbeholfenes Bemühen; sie fühlte sich ausgelaugt und mehr als nur etwas wackelig. »Und der Gardist. Sind sie...?«

»Der Mann hat keinen Kratzer abbekommen«, sagte Nynaeve und trat wie ein Schemen aus den tanzenden Schatten heraus. Sie legte eine Hand auf Elaynes Stirn und grunzte zufrieden, als sie sie kühl vorfand. »Ich habe bei Dyelin eine Heilung vollzogen, aber sie wird Zeit brauchen, bis sie wieder bei Kräften ist. Sie hat viel Blut verloren. Dir geht es übrigens auch gut. Eine Zeit lang dachte ich, du würdest Fieber bekommen. Das kann schnell geschehen, wenn man geschwächt ist.«

»Sie hat dir Krauter verabreicht, statt dich zu Heilen«, sagte Birgitte ungehalten von einem Stuhl am Fußende des Bettes. In der fast völligen Dunkelheit war sie nur ein kauernder, unheilvoller Umriss.

»Nynaeve al'Meara ist klug genug, um zu wissen, was sie nicht tun darf«, sagte Aviendha in einem ruhigen Tonfall. Eigentlich war von ihr nur ihre weiße Bluse und ein silbernes Aufblitzen zu sehen, und zwar ganz unten an der Wand. Wie gewöhnlich zog sie den Boden einem Stuhl vor. »Sie erkannte den Geschmack von Spaltwurzel im Tee, wusste jedoch nicht, welches Gewebe aus Macht sie dagegen weben sollte, also ging sie keine unbedachten Risiken ein.«

Nynaeve gab ein deutlich hörbares Schnauben von sich. Zweifellos genauso wegen Aviendhas Verteidigung wie Birgittes Schärfe. Wegen Letzterem vielleicht sogar noch mehr. Nynaeve wäre es lieber gewesen, man hätte nicht erwähnt, wo ihr Wissen Lücken aufwies und was sie nicht tun konnte. Und in letzter Zeit war sie empfindlicher als gewöhnlich, was das Heilen anging. Vor allem seit offensichtlich wurde, dass mehrere der Kusinen ihre Fähigkeiten bereits übertrafen. »Du hättest es selbst erkennen müssen, Elayne«, sagte sie brüsk. »Auf jeden Fall hätten dich Grünkraut und Ziegenzunge schlafen lassen, aber sie sind besser bei Magenkrämpfen. Ich dachte, du würdest den Schlaf vorziehen.«

Unwillkürlich erschauderte Elayne, während sie die Lederflaschen mit dem siedend heißen Wasser unter den Decken hervorzog, um nicht weiter gegart zu werden. Die Tage, nachdem Ronde Macura Nynaeve und sie unter Spaltwurzel gesetzt hatte, waren eine Qual gewesen, die sie zu verdrängen versucht hatte. Welche Krauter ihr Nynaeve auch immer verabreicht hatte, sie fühlte sich nicht schwächer, als es bei der Spaltwurzel der Fall gewesen wäre. Sie glaubte laufen zu können, so lange es keine große Strecke war oder sie lange stehen musste. Und sie konnte klar denken. Die Fensterläden ließen nur bleiches Mondlicht durch. Wie spät in der Nacht war es überhaupt?

Sie griff erneut nach der Quelle und lenkte vier Stränge aus Feuer, um zuerst eine Stehlampe und dann die zweite zu entzünden. Die kleinen, von Spiegeln verstärkten Flammen rissen den Raum aus der Dunkelheit und Birgitte hielt sich eine Hand vor die Augen. Der Mantel des Generalhauptmanns stand ihr großartig; sie hätte die Kaufleute nachhaltig beeindruckt.

»Du solltest noch nicht die Macht lenken«, schalt Nynaeve und blinzelte wegen der plötzlichen Helligkeit. Sie trug noch immer das blaue Gewand mit dem tiefen Ausschnitt, in dem Elayne sie früher am Tag gesehen hatte, das mit gelben Fransen versehene Schultertuch lag in ihren Ellenbeugen. »Am besten wären ein paar Tage Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen.« Sie bedachte die Lederflaschen auf dem Boden mit einem Stirnrunzeln. »Und du musst dich warm halten. Es ist besser, ein Fieber zu vermeiden, als es Heilen zu müssen.«

»Ich glaube, Dyelin hat heute ihre Loyalität bewiesen«, sagte Elayne und zog die Kopfkissen zurecht, damit sie sich gegen das Kopfteil lehnen konnte. Nynaeve warf angewidert die Hände hoch. Auf einem der Nachttische stand ein kleines Silbertablett mit einem silbernen Becher, der dunklen Wein enthielt. Elayne warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Auf eine harte Art und Weise. Aviendha, ich glaube, ich schulde ihr Toh.«

Aviendha zuckte mit den Schultern. Nach ihrer Ankunft in Caemlyn hatte sie sich mit beinahe lächerlicher Hast auf Aiel-Kleider gestürzt und Seide gegen Algode-ßlusen und dicke Wollröcke getauscht, so als würde Feuchtländer-Luxus sie ängstigen. Mit dem dunklen Schultertuch, das sie zusammengefaltet um die Taille geknotet hatte, und dem dunklen Tuch, mit dem ihr Haar zusammengebunden war, bot sie das perfekte Bild der Schülerin einer Weisen Frau, auch wenn ihr einziger Schmuck aus einer Halskette bestand, einer komplizierten Silberschmiedearbeit aus miteinander verbundenen Scheiben; es war ein Geschenk von Egwene. Elayne konnte ihre Eile noch immer nicht verstehen. Solange sie die Kleidung der Feuchtländer trug, hatten Melaine und die anderen scheinbar nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass sie ihren eigenen Weg ging, aber jetzt hatten sie Aviendha wieder so fest im Griff wie die Aes Sedai ihre Novizinnen. Es gab nur einen Grund, warum sie ihr überhaupt erlaubten, im Palast — oder in der Stadt, was das anging — zu bleiben: Elayne und sie waren Erstschwestern.

»Wenn du das glaubst, dann tust du es auch.« Ihr Tonfall, mit dem sie das Offensichtliche erklärte, verwandelte sich zu liebevoller Schelte. »Aber nur ein kleines Toh, Elayne. Du hattest Gründe für deinen Zweifel. Du kannst dich nicht für jeden Gedanken verpflichtet fühlen, Schwester.« Sie lachte, als wäre ihr plötzlich ein wunderbarer Witz klar geworden. »Auf diesem Weg liegt zu viel Stolz, und ich muss dann wegen allem, was du tust, übermäßigen Stolz zeigen, aber die Weisen Frauen werden dich dafür nicht zur Rechenschaft ziehen können.«

Nynaeve rollte demonstrativ mit den Augen, aber Aviendha schüttelte bloß den Kopf und nahm die Unwissenheit der anderen Frau mit resignierter Geduld auf. Sie hatte bei den Weisen Frauen mehr als nur den Umgang mit der Macht studiert.

»Nun, das können wir wirklich nicht zulassen, dass ihr beiden zu stolz seid«, sagte Birgitte mit einem Unterton, der verdächtig nach unterdrückter Heiterkeit klang. Ihr Gesicht war viel zu reglos, beinahe erstarrt vor Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.

Aviendha betrachtete Birgitte ausdruckslos und voller Vorsicht. Seit Elayne und sie einander adoptiert hatten, hatte auch Birgitte sie in gewisser Weise adoptiert. Nicht als Behüterin, das nicht, aber sie behandelte sie manchmal, als wäre sie ihre ältere Schwester, wie sie es oft bei Elayne tat. Aviendha wusste nicht genau, was sie davon halten sollte. Die Aufnahme in den kleinen Kreis, der wusste, wer Birgitte in Wirklichkeit war, hatte mit Sicherheit nicht geholfen. Sie schwankte zwischen wilder Entschlossenheit, allen zu zeigen, dass Birgitte Silberbogen sie nicht einschüchterte, und allen möglichen seltsamen Reaktionen bis hin zu überraschender Nachgiebigkeit.

Birgitte lächelte sie an, es war ein amüsiertes Lächeln, aber es verblasste, als sie ein kleines Bündel vom Schoß hochhob und es mit großer Vorsicht zu öffnen begann. Als sie schließlich einen Dolch mit einem lederumwickelten Griff und einer langen Klinge enthüllte, war ihre Miene ernst, und kontrollierter Zorn floss durch den Bund. Elayne erkannte das Messer auf der Stelle; zuletzt hatte sie seinen Zwilling in der Hand eines strohblonden Attentäters gesehen.

»Sie wollten dich nicht entführen, Schwester«, sagte Aviendha leise.

Birgittes Tonfall war grimmig. »Nachdem Mellar die Ersten beiden getötet hat — den Zweiten spießte er mit seinem Schwert auf, das er quer durch den Raum warf, wie in der Geschichte eines verdammten Spielmanns« — sie hielt den Dolch am Griff in die Höhe —»hat er den hier dem letzten Burschen abgenommen und ihn damit getötet. Sie hatten vier fast identische Dolche. Der hier ist vergiftet.«

»Diese braunen Flecken auf der Klinge sind grauer Fenchel, der mit gemahlenen Pfirsichkernen vermischt wurde«, sagte Nynaeve. Sie setzte sich auf die Bettkante und verzog angewidert das Gesicht. »Einen Blick in seine Augen und auf die Zunge und ich wusste, dass das den Kerl umgebracht hat und nicht das Messer.«

»Ein komplizierter Plan«, sagte Elayne einen Augenblick später leise. Diese Worte trafen es in der Tat. »Spaltwurzel, damit ich nicht nach der Macht greifen oder stehen konnte, und zwei Mann, die mich auf den Beinen halten, während der dritte mir einen vergifteten Dolch in den Leib stößt.«

»Feuchtländer lieben komplizierte Pläne«, sagte Aviendha. Sie bedachte Birgitte mit einem unbehaglichen Blick und fügte hinzu: »Zumindest einige von ihnen.«

»Auf seine Weise war er einfach«, sagte Birgitte und wickelte den Dolch wieder mit der gleichen Sorgfalt ein, die sie beim Auspacken gezeigt hatte. »Man konnte leicht an dich herankommen. Jeder weiß, dass du allein zu Mittag isst.« Ihr langer Zopf schaukelte, als sie den Kopf schüttelte. »Ein glücklicher Umstand, dass der Mann, der dich als Erster erreichte, keinen hiervon hatte; ein Schnitt, und du wärst tot gewesen. Ein glücklicher Umstand, dass Mellar zufällig vorbeiging und in deinen Gemächern einen Mann fluchen hörte. Genug Glück, um ein Ta'veren zu sein.«

Nynaeve schnaubte. »Ein Schnitt an deinem Arm, der tief genug gewesen wäre, und du wärst tot. Der Kern ist der giftigste Teil eines Pfirsichs. Dyelin hätte keine Chance gehabt, wären die anderen Dolche ebenfalls vergiftet gewesen.«

Elayne sah nacheinander in die ausdruckslosen Gesichter ihrer Freundinnen und seufzte. Ein sehr komplizierter Plan. Als wären Spione im Palast nicht schon schlimm genug. »Birgitte, eine kleine Leibwache«, sagte sie schließlich. »Etwas... Diskretes.« Sie hätte wissen sollen, dass die Frau vorbereitet sein würde. Birgittes Miene veränderte sich nicht im Mindesten, aber durch ihren Bund schoss ein winziges Aufflackern von Zufriedenheit.

»Für den Anfang die Frauen, die dich heute bewacht haben«, sagte sie, ohne auch nur so zu tun, als müsste sie erst nachdenken, »und noch ein paar, die ich aussuche. Zu wenige können dich nicht Tag und Nacht bewachen, und verdammt noch mal, es muss sein.« Das hörte sich energisch an, obwohl Elayne nicht protestiert hatte. »Frauen können dich bewachen, wo Männern der Zugang verwehrt ist, und weil sie sind, was sie sind, werden sie auch diskret sein. Die meisten Leute werden sie für eine zeremonielle Wache halten —deine eigenen Töchter des Speers —, und wir werden ihnen etwas geben, eine Schärpe vielleicht, damit sie auch danach aussehen.«

Das brachte ihr einen scharfen Blick von Aviendha ein, doch sie gab vor, ihn nicht zu bemerken. »Das Problem besteht darin, wer das Kommando führen soll«, sagte sie und runzelte nachdenklich die Stirn. »Zwei oder drei Adlige, Jägerinnen, streiten sich bereits um Ränge, die ›ihrem Stand angemessen‹ sind. Die verdammten Frauen wissen Befehle zu geben, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie auch verdammt noch mal die richtigen Befehle geben können. Ich könnte Caseille zum Leutnant befördern, aber im Herzen ist sie eher ein Bannerträger.« Birgitte zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wird sich eine der anderen noch als vielversprechend erweisen, aber ich glaube, sie alle sind bessere Befehlsempfänger und keine Anführer.«

O ja, alles genau durchdacht. Etwa zwanzig? Sie würde Birgitte genau im Auge behalten müssen, um sichergehen zu können, dass die Zahl nicht auf fünfzig stieg. Oder noch mehr. Die sie bewachen konnten, wo Männern der Zugang verwehrt war. Elayne zuckte innerlich zusammen. Das bedeutete auch Leibwächterinnen, die ihr beim Baden zusahen. »Caseille wird es bestimmt schaffen. Eine Bannerträgerin kann zwanzig Leute bändigen.« Sie war überzeugt, Caseille dazu überreden zu können, alles so unauffällig wie möglich zu halten. Und die Leibwächterinnen vor der Tür zu postieren, wenn sie ein Bad nahm. »Der Mann, der im allerletzten Augenblick dazukam. Mellar? Was weißt du von ihm, Birgitte?«

»Doilin Mellar«, sagte Birgitte langsam und mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Ein kaltherziger Bursche, obwohl er viel lächelt. Hauptsächlich zu Frauen. Er zwickt Dienstmägde, und ich weiß von dreien, die er in vier Tagen rumgekriegt hat — er redet gern über seine ›Eroberungen‹ —, aber er ist bei keiner zudringlich geworden, die abgelehnt hat. Er behauptet, in der Kaufmannswache und danach Söldner gewesen zu sein, und jetzt ist er ein Jäger des Horns. Zweifelsohne hat er die dazu nötigen Fähigkeiten. Sie reichen auf jeden Fall dazu aus, dass ich ihn zum Leutnant gemacht habe. Er ist Andoraner, kommt aus dem Westen, irgendwo aus der Nähe von Baerlon, und er behauptet, während der Thronfolge für deine Mutter gekämpft zu haben, obwohl er damals kaum älter als ein Junge gewesen sein kann. Zumindest kennt er die richtigen Antworten, ich habe das überprüft, also war er vielleicht wirklich dabei. Söldner lügen über ihre Vergangenheit, ohne darüber nachzudenken.«

Elayne faltete die Hände und dachte über Doilin Mellar nach. Sie erinnerte sich nur an das Bild eines drahtigen Mannes mit scharf geschnittenem Gesicht, der einen ihrer Angreifer würgte, während sie um den vergifteten Dolch kämpften. Ein Mann, der über genügend soldatische Fähigkeiten verfügte, dass Birgitte ihn zum Offizier ernannt hatte. Sie bemühte sich, dass zumindest so viele Offiziere wie möglich Andoraner waren. Eine Rettung in letzter Sekunde, ein Mann gegen drei, und ein wie einen Speer quer durch den Raum geschleudertes Schwert; es klang wirklich wie die Geschichte eines Spielmannes. »Er verdient eine angemessene Belohnung. Eine Beförderung zum Hauptmann und das Kommando über meine Leibwache, Birgitte. Caseille kann seine Stellvertreterin sein.«

»Bist du verrückt geworden?«, rief Nynaeve aus, aber Elayne brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.

»Ich werde mich viel sicherer fühlen, wenn ich weiß, dass er da ist, Nynaeve. Mich wird er nicht versuchen zu zwicken, nicht, wenn Caseille und zwanzig von ihrer Sorte um ihn herum sind. Mit seinem Ruf werden sie ihn wie Falken beobachten. Du sagtest doch zwanzig, Birgitte? Ich werde dich beim Wort nehmen.«

»Zwanzig«, sagte Birgitte abwesend. »In etwa.« Aber an dem Blick, den sie auf Elayne richtete, war nichts Abwesendes. Sie beugte sich konzentriert vor, die Hände auf die Knie gelegt. »Ich schätze, du weißt, was du da tust.« Gut, wenigstens dieses eine Mal würde sie sich wie eine Behüterin benehmen, statt zu streiten. »Der Gardeleutnant Mellar wird Gardehauptmann Mellar, weil er das Leben der Tochter-Erbin gerettet hat. Das wird ihn noch großspuriger dahergehen lassen. Es sei denn, du hältst es für besser, die ganze Sache geheim zu halten.«

Elayne schüttelte den Kopf. »O nein, keineswegs. Soll es die ganze Stadt wissen. Jemand hat versucht, mich zu ermorden, und Leutnant — Hauptmann — Mellar hat mir das Leben gerettet. Aber das mit dem Gift behalten wir für uns. Nur für den Fall, dass sich jemand verspricht.«

Nynaeve räusperte sich und sah sie von der Seite an. »Eines Tages wirst du zu clever sein, Elayne. So clever, dass du selbst darüber stolperst.«

»Sie ist clever, Nynaeve al'Meara.« Aviendha erhob sich anmutig auf die Füße, richtete die schweren Röcke und tätschelte dann das Gürtelmesser mit dem Horngriff. Es war nicht so groß wie die Klinge, die sie als Tochter des Speers getragen hatte, aber immer noch eine hervorragende Waffe. »Und sie hat mich, um ihr den Rücken zu decken. Ich habe jetzt die Erlaubnis, bei ihr zu bleiben.«

Nynaeve öffnete wütend den Mund. Und, welch ein Wunder, sie schloss ihn wieder, riss sich deutlich sichtbar zusammen und glättete die Röcke und ihre Züge.

»Was starrt ihr mich alle so an?«, murmelte sie. »Wenn Elayne diesen Kerl so nahe bei sich haben will, dass er sie zwicken kann, wenn ihm danach ist, was geht es mich an?« Birgitte blieb der Mund offen stehen, und Elayne fragte sich, ob Aviendha ersticken würde. Auf jeden Fall quollen ihre Augen hervor.

Der leise Klang des Gongs oben im höchsten Turm des Palasts schlug die Stunde und ließ sie zusammenzucken. Es war später, als sie gedacht hatte. »Nynaeve, vermutlich wartet Egwene bereits auf uns.« Ihre Kleider waren nicht in Sicht. »Wo ist meine Tasche? Da ist mein Ring drin.« Ihr Großer Schlangenring saß auf ihrem Finger, aber den meinte sie nicht.

»Ich werde mich allein mit Egwene treffen«, sagte Nynaeve entschieden. »Du bist nicht in der richtigen Verfassung, um Tel'aran'rhiod zu betreten. Davon abgesehen hast du den ganzen Nachmittag verschlafen. Jede Wette, dass du in nächster Zeit nicht wieder einschlafen kannst. Und ich weiß, dass du kein Glück darin hattest, dich in eine Wachtrance zu versetzen, also ist die Angelegenheit damit erledigt.« Sie lächelte selbstzufrieden und siegessicher. Der Versuch, sich in jene Wachtrance zu versetzen, die Egwene ihnen beizubringen versucht hatte, hatte sie nur schwindelig und benommen gemacht.

»Da gehst du jede Wette ein, ja?«, murmelte Elayne. »Was willst du wetten? Weil ich entschlossen bin, das da zu trinken« — sie warf dem Silberbecher auf dem Nachttisch einen Blick zu — »und ich wette, dass ich sofort einschlafe. Wenn du natürlich nichts hineingetan hast, wenn du nicht versuchst, mich mit einem Trick dazu zu bringen, es zu trinken... Nun, aber natürlich würdest du das nicht tun. Also, worum wollen wir wetten?«

Das unerträgliche Lächeln verschwand schlagartig von Nynaeves Gesicht und wurde von hellroten Punkten auf den Wangen ersetzt.

»Eine schöne Idee«, sagte Birgitte und stand auf. Mit in die Hüften gestemmten Händen baute sie sich am Bettende auf und ihr Gesicht und Tonfall verrieten gleichermaßen Missbilligung. »Die Frau hat dich vor einem verdorbenen Magen bewahrt und du benimmst dich wie eine verzogene kleine Lady. Wenn du diesen Becher austrinkst und einschläfst und heute Nacht darauf verzichtest, in der Welt der Träume herumzustreifen, erkläre ich dich für erwachsen genug, dass ich weniger als hundert Gardistinnen für nötig erachte, um dich am Leben zu halten. Oder muss ich dir die Nase zuhalten, damit du trinkst?« Nun, Elayne hatte auch nicht damit gerechnet, dass sich Birgitte lange zurückhalten würde. Weniger als einhundert?

Aviendha wirbelte zu Birgitte herum, bevor sie geendet hatte, und wartete kaum ab, bis sie das letzte Wort gesagt hatte. »Birgitte Trahelion, du solltest nicht so zu ihr sprechen«, sagte sie und richtete sich auf, um den Vorteil ihrer überragenden Größe voll ausnutzen zu können. Zog man die hohen Absätze von Birgittes Stiefeln in Betracht, machte es keinen großen Unterschied, aber mit dem eng über den Brüsten zusammengezogenen Schultertuch sah sie eher wie eine Weise Frau als wie eine Schülerin aus. Einige von ihnen hatten ein Gesicht, das nicht viel älter als das ihre aussah. »Du bist ihre Behüterin. Frage Aan'allein, wie man sich zu benehmen hat. Er ist ein großer Mann, doch er gehorcht Nynaeves Befehlen.« Aan'allein war Lan. Der Mann, der allein seinen Weg ging. Seine Geschichte war unter den Aiel wohlbekannt und bewundert.

Birgitte musterte sie von oben bis unten, als würde sie Maß nehmen, und nahm eine entspannte Pose ein, die die zusätzlichen Zentimeter ihrer Stiefelabsätze fast wieder zunichte machte. Sie öffnete mit einem spöttischen Grinsen den Mund, offensichtlich bereit, Aviendha zum Platzen zu bringen, wenn es ihr gelang.

Normalerweise gelang es ihr. Bevor sie ein Wort sagen konnte, ergriff Nynaeve leise, doch ziemlich entschieden das Wort.

»Oh, bei aller Liebe des Lichts, hör auf, Birgitte. Wenn Elayne sagt, sie geht, dann geht sie. Und jetzt will ich kein Wort mehr hören.« Sie stieß mit dem Finger in Richtung der anderen Frau. »Oder wir beide werden uns später unter vier Augen unterhalten.«

Birgitte starre Nynaeve an, ihre Lippen bewegten sich stumm, der Behüterbund übermittelte eine intensive Mischung aus Gereiztheit und Frustration. Schließlich ließ sie sich wieder in ihren Stuhl fallen, spreizte die Beine, balancierte die Stiefel auf den löwenköpfigen Sporen und murmelte mürrisch vor sich hin. Hätte Elayne sie nicht besser gekannt, hätte sie angenommen, sie würde schmollen. Sie wünschte, sie hätte gewusst, wie Nynaeve das machte. Einst hatte Nynaeve genauso viel Ehrfurcht vor Birgitte gehabt, als Aviendha jemals haben würde, aber das hatte sich geändert. Völlig. Jetzt schubste sie Birgitte genauso herum wie die anderen. Und erfolgreicher als so mancher. Sie ist eine ganz normale Frau, hatte Nynaeve gesagt. Das hat sie mir selbst gesagt, und ich habe erkannt, dass sie Recht hatte. Als würde das etwas erklären. Birgitte war immer noch Birgitte.

»Meine Tasche?«, fragte Elayne, und ausgerechnet Birgitte war es, die aufstand, um die goldbestickte rote Gürteltasche aus dem Ankleideraum zu holen. Nun, Behüterinnen taten solche Dinge, doch für gewöhnlich machte Birgitte eine Bemerkung, wenn sie es tat. Aber vielleicht sollte ihre Rückkehr dazu dienen. Sie überreichte Elayne die Tasche mit einer anmutigen Verbeugung und schenkte Nynaeve und Aviendha ein spöttisches Verziehen der Lippen. Elayne seufzte. Man konnte nicht sagen, dass die Frauen einander nicht mochten; sie kamen großartig miteinander aus, wenn man ihre kleinen Schwächen ignorierte. Manchmal rieben sie sich eben aneinander.

Der seltsam verdrehte Steinring, der an einem einfachen Lederband befestigt war, lag ganz unten in der Tasche unter einer Anzahl verschiedener Münzen, direkt neben dem sorgfältig zusammengefalteten Seidentaschentuch, in dem die Federn verstaut waren, die sie für ihren größten Schatz hielt. Das Ter'angreal schien aus Stein zu bestehen; es war mit blauen, roten und braunen Flecken übersät, fühlte sich aber so hart und glatt wie Stahl an und war selbst dafür zu schwer. Elayne legte sich das Lederband um den Hals und den Ring zwischen ihre Brüste, dann zog sie die Schnüre fest zusammen und legte die Gürteltasche auf den Nachttisch, um dann den Silberbecher zu nehmen. Er roch nur nach gutem Wein, aber sie hob trotzdem eine Braue und lächelte Nynaeve an.

»Ich gehe in mein Zimmer«, sagte Nynaeve steif. Sie schenkte sowohl Birgitte wie auch Aviendha einen strengen Blick. Irgendwie ließ der Ki'sain auf ihrer Stirn sie noch unnachgiebiger erscheinen. »Ihr beiden bleibt wach und haltet die Augen offen! Bis ihr sie mit diesen Frauen umgeben habt, schwebt sie noch immer in Gefahr. Wie auch danach, woran ich euch wohl nicht zu erinnern brauche.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht?«, protestierte Aviendha, während Birgitte gleichzeitig knurrte: »Nynaeve, ich bin keine Närrin!«

»Das sagst du«, entgegnete Nynaeve gleichzeitig an beide gemünzt. »Das hoffe ich, um Elaynes willen. Und um euretwillen.« Sie raffte ihr Schultertuch zusammen und rauschte so majestätisch aus dem Raum, wie es sich eine Aes Sedai nur wünschen konnte. In letzter Zeit wurde sie sehr gut darin.

»Man könnte glauben, sie wäre hier die verdammte Königin«, murmelte Birgitte.

»Sie ist hier diejenige, die zu stolz ist, Birgitte Trahelion«, knurrte Aviendha. »So stolz wie eine Shaido mit einer Ziege.« Sie nickten einander in perfekter Übereinstimmung zu.

Aber Elayne entging nicht, dass sie gewartet hatten, bis sich hinter Nynaeve die Tür geschlossen hatte. Die Frau, die immer so heftig bestritten hatte, eine Aes Sedai werden zu wollen, verwandelte sich sehr wohl in eine. Vielleicht hatte Lan etwas damit zu tun, der sie mit seiner Erfahrung lehrte. Manchmal musste sie sich noch immer bemühen, die Beherrschung nicht zu verlieren, aber seit ihrer seltsamen Hochzeit schien es ihr zusehends leichter zu fallen.

Der erste Schluck Wein schmeckte so, wie er sollte, es war ein sehr guter Wein, aber Elayne bedachte den Becher mit einem Stirnrunzeln und zögerte. Bis sie erkannte, was sie da tat und warum. Die Erinnerung an die in ihren Tee gemischte Spaltwurzel war noch immer stark. Was hatte Nynaeve hier reingetan? Natürlich keine Spaltwurzel, aber was dann? Den Becher zu heben, um einen großen Schluck zu nehmen, erschien sehr mühsam. Trotzig trank sie den Wein aus. Ich war durstig, das war alles, dachte sie und stellte den Becher wieder auf dem Silbertablett ab. Ich Iwbe bestimmt nicht versucht, etwas zu beweisen.

Die anderen beiden Frauen hatten sie beobachtet, aber als sie eine bequemere Position einnahm, um zu schlafen, sahen sie sich an.

»Ich halte im Wohnzimmer Wache«, erklärte Birgitte. »Dort stehen mein Bogen und mein Köcher. Du bleibst hier für den Fall, dass sie dich braucht.«

Statt zu streiten, zog Aviendha ihr Gürtelmesser und kniete an der Seite nieder, wo sie jeden, der durch die Tür kam, sehen würde, bevor derjenige sie sah. »Klopf zweimal, dann einmal und sag deinen Namen, bevor du eintrittst«, sagte sie. »Sonst gehe ich davon aus, dass es ein Feind ist.« Und Birgitte nickte, als wäre es das Vernünftigste auf der Welt.

»Das ist doch...« Elayne verbarg ein Gähnen hinter der Hand. »Albern«, setzte sie hinzu, als sie wieder sprechen konnte. »Niemand wird einen Versuch unternehmen...« Das nächste Gähnen, und diesmal hätte sie sich die Faust in den Mund stopfen können! Licht, was hatte Nynaeve in den Wein getan? »...mich heute Nacht zu töten«, sagte sie schläfrig, »und das wisst ihr beide...«-Ihre Lider waren wie Blei und senkten sich trotz aller Bemühungen, sie aufzuhalten. Unbewusst schmiegte sie das Gesicht ins Kissen und versuchte, den Satz zu beenden, aber...

Sie befand sich im Großen Saal, dem Thronsaal des Palastes. In der Widerspiegelung des Großen Saals im Tel'amn'rhiod. Hier schien der verdrehte Steinring, der in der Welt der Wachenden viel zu schwer für seine Größe zu sein schien, leicht genug zu sein, um zwischen ihren Brüsten hervorzuschweben. Natürlich gab es Licht, das von überall zugleich und von nirgendwo herzukommen schien. Es glich keinem Sonnenlicht, auch keinem Lampenlicht, aber selbst wenn es hier Nacht war, gab es immer noch genug von diesem seltsamen Licht, um etwas erkennen zu können. Wie in einem Traum. Das ständig gegenwärtige Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, war nicht wie im Traum — eher wie in einem Albtraum, aber daran hatte sie sich gewöhnt.

Im Großen Saal wurden prächtige Audienzen abgehalten, ausländische Botschafter empfangen und den versammelten Würdenträgern wichtige Verträge und Kriegserklärungen verkündet; das lang gezogene Gemach passte zu seinem Namen und seiner Funktion. Jetzt, da es menschenleer war, erschien es wie eine Höhle. Zwei Reihen leuchtender weißer Säulen, die zehn Spannen hoch waren, säumten den Raum, und an einem Ende stand der Löwenthron auf einem Marmorpodest, dessen weiße Stufen, die von dem mit roten und weißen Fliesen ausgelegten Boden hinaufführten, mit rotem Teppich belegt waren. Der Thron hatte die richtige Größe für eine Frau, war aber mit den Beinen, die in stämmigen geschnitzten und vergoldeten Löwenpranken endeten, durchaus massiv; oben auf der hohen Lehne stach der aus Mondsteinen gefertigte Weiße Löwe aus einem Feld aus Rubinen hervor und verkündete allen, dass derjenige, der hier saß, eine mächtige Nation beherrschte. Aus hoch oben in der Kuppeldecke eingesetzten bunten Fenstern blickten die Königinnen, die Andor gegründet hatten, in die Tiefe; ihre Bilder wechselten sich mit dem Weißen Löwen und Szenen aus den Schlachten ab, die sie ausgefochten hatten, um Andor aus einer unbedeutenden Stadt in Artur Falkenflügels zerbrechendem Reich zu dieser Nation zu machen. Viele Länder, die aus dem Hundertjährigen Krieg hervorgegangen waren, gab es nicht mehr, aber Andor hatte die seitdem vergangenen tausend Jahre überstanden und war aufgeblüht. Manchmal hatte Elayne das Gefühl, dass diese Portraits sie einschätzten und für wert befanden, in ihre Fußstapfen zu treten.

Sie hatte sich kaum im Großen Saal eingefunden, als eine andere Frau auf dem Löwenthron erschien, eine dunkelhaarige junge Frau in fließender roter Seide, deren Ärmel und Säume mit silbernen Löwen bestickt waren, die eine Kette aus Feuertropfen so groß wie Taubeneier um den Hals trug und auf deren Kopf die Rosenkrone saß. Eine Hand leicht auf dem Löwenkopf am Ende der Thronlehne ruhend, ließ sie majestätisch den Blick durch den Saal schweifen. Dann entdeckte sie Elayne und zusammen mit Verwirrung kam die Erinnerung. Krone, Feuertropfen und Seide verschwanden, um von einfacher Wolle und einer langen Schürze ersetzt zu werden. Einen Augenblick später verschwand auch die junge Frau.

Elayne lächelte amüsiert. Selbst Tellerwäscherinnen träumten davon, auf dem Löwenthron zu sitzen. Hoffentlich war das Mädchen wegen der erlebten Überraschung nicht voller Furcht aufgewacht oder zumindest in einen anderen schönen Traum übergewechselt. Einen sichereren Traum als im Tel'aran'rhiod.

Im Thronsaal veränderten sich andere Dinge. Die kunstvollen Kandelaber, die in Reihen das Gemach säumten, schienen zu vibrieren. Die großen Flügeltüren standen in dem einen Augenblick offen, im nächsten waren sie wieder geschlossen. Nur Dinge, die für lange Zeit an ein und demselben Ort gestanden hatten, hatten in der Welt der Träume eine permanente Spiegelung.

Elayne stellte sich einen Spiegel vor und schon stand er vor ihr und zeigte ihr Abbild in einem hochgeschlossenen grünen Seidengewand, dessen Oberteil mit silbernen Mustern geschmückt war, mit Smaragdohrringen und kleineren Smaragden, die in ihre rotblonden Locken geflochten waren. Sie ließ die Smaragde aus ihrem Haar verschwinden und nickte. So passte es zu einer Tochter-Erbin und war nicht zu auffällig. Hier musste man vorsichtig sein, wie man sich selbst vorstellte, sonst... Ihr bescheidenes grünes Seidengewand wurde zu den eng anliegenden Falten einer tarabonischen Tracht, blitzte auf und wich dunklen, weit geschnittenen Meervolk-Hosen und nackten Füßen, komplett mit goldenen Ohrringen und Nasenring und einer Kette voller Medaillons und sogar dunklen Tätowierungen auf den Händen. Aber ohne Bluse, so wie das Atha'an Miere zur See fuhr. Mit geröteten Wangen machte sie hastig alles wieder ungeschehen und kehrte zur ursprünglichen Kleidung zurück, wechselte jedoch die Smaragdohrringe gegen schlichte Silberreifen aus. Je einfacher man sich seine Kleidung vorstellte, desto leichter war es, sie aufrechtzuerhalten.

Sie ließ den Spiegel verschwinden — sie musste nur aufhören, an ihn zu denken —, und schaute zu den strengen Gesichtern über ihr auf. »Frauen haben den Thron bestiegen, die genauso jung waren wie ich«, sagte sie zu ihnen. Aber nicht sehr viele; nur sieben, die es geschafft hatten, die Rosenkrone für längere Zeit zu behalten. »Frauen, die noch jünger als ich waren.« Drei. Und eine von ihnen hatte kaum ein Jahr durchgehalten. »Ich will nicht behaupten, dass ich so großartig wie ihr sein werde, aber ich werde euch auch keine Schande bereiten. Ich werde eine gute Königin sein.«

»Unterhältst du dich mit Fenstern?«, sagte Nynaeve und ließ Elayne überrascht zusammenzucken. Sie benutzte eine Kopie des Rings, den Elayne auf der Haut trug, und sie schien aus Nebel zu bestehen, war nahezu durchsichtig. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie auf Elayne zuzugehen und stolperte beinahe wegen des hinderlichen Rocks eines dunkelblauen tarabonischen Gewandes, das viel enger war als jenes, das sich Elayne vorgestellt hatte. Nynaeve starrte es an, und unversehens wurde es zu einem andoranischen Gewand aus Seide von der gleichen Farbe, dessen Ärmel und Oberteil mit goldenen Stickereien verziert waren. Sie behauptete noch immer, dass die ›gute, ausdauernde Wolle von den Zwei Flüssen‹ gut genug für sie war, aber selbst hier, wo sie das einfache Tuch hätte tragen können, wenn sie nur gewollt hätte, trug sie es so gut wie hie.

»Was hast du in den Wein getan, Nynaeve?«, fragte Elayne. »Ich war weg wie eine Kerze, die man auslöscht.«

»Versuche nicht, das Thema zu wechseln. Wenn du mit Fenstern redest, solltest du wirklich besser schlafen, statt hier zu sein. Ich hätte nicht übel Lust, dir zu befehlen...«

»Bitte nicht. Ich bin nicht Vandene, Nynaeve. Licht, ich kenne nicht mal die Hälfte der Bräuche, die für Vandene und die anderen alltäglich sind. Aber ich möchte vermeiden, dir nicht gehorchen zu müssen, also lass es bitte.«

Nynaeve schaute sie finster an und zog einmal fest an ihrem Zopf. Einzelheiten ihres Gewandes veränderten sich, die Röcke wurden etwas voluminöser, die Stickereien nahmen neue Formen an, der hohe Kragen senkte und hob sich, Spitze quoll aus ihm hervor. Sie war nicht sehr gut darin, die nötige Konzentration beizubehalten. Allerdings blieb der rote Punkt auf ihrer Stirn unverändert.

»Also gut«, sagte sie ruhig und die Falten auf ihrer Stirn verschwanden. Ihr mit gelben Fransen versehenes Schultertuch erschien auf ihren Schultern und ihr Gesicht nahm etwas von der Aes Sedai-Alterslosigkeit an. An ihren Schläfen zeigten sich ein paar weiße Strähnen. Allerdings standen ihre Worte in scharfem Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild und dem gelassenen Tonfall. »Lass mich reden, wenn Egwene kommt. Ich meine, über das, was heute passiert ist. Am Ende plaudert ihr wieder, als würdet ihr euch vor dem Zubettgehen das Haar kämmen. Licht! Ich will nicht mit ihr zur Amyrlin gehen, und du weißt, dass sie uns keine Ruhe lassen wird, wenn sie es herausfindet.«

»Wenn ich was herausfinde?«, fragte Egwene. Nynaeves Kopf fuhr mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen herum und einen Augenblick lang wurden das fransenbesetzte Schultertuch und das Seidengewand vom Weiß einer Aufgenommenen ersetzt. Selbst der Ki'sain verschwand. Aber das dauerte nur einen Moment, dann war wieder alles so, wie es gewesen war, abgesehen von dem Weiß in ihrem Haar, aber er reichte aus, um einen traurigen Ausdruck auf Egwenes Gesicht zu zaubern. Sie kannte Nynaeve sehr gut. »Wenn ich was herausfinde, Nynaeve?«

Elayne holte tief Luft. Eigentlich hatte sie nicht beabsichtigt, etwas zurückzuhalten. Jedenfalls nichts, das für Egwene wichtig gewesen wäre. Aber in ihrer derzeitigen Stimmung würde Nynaeve vermutlich entweder alles ausplaudern oder stur darauf beharren, dass es nichts herauszufinden gab. Was Egwene nur noch hartnäckiger graben lassen würde.

»Jemand hat Spaltwurzel in meinen Mittagstee getan«, sagte sie und gab einen knappen Bericht über die Männer mit den Dolchen und Doilin Mellars glückliches Erscheinen und wie sich Dyelin bewährt hatte. Außerdem erzählte sie noch von Elenia und Naean und der Jagd der Haushofmeisterin auf die Spione im Palast, und sogar dass Zarya und Kirstian Vandene zugeteilt worden waren und dass man Rand angegriffen hatte und er verschwunden war. Egwene schien alles unberührt aufzunehmen — sie unterbrach Elayne sogar, als sie auf Rand zu sprechen kam, und sagte, sie wisse bereits Bescheid —, aber als sie hörte, dass Vandene keine Fortschritte darin gemacht hatte, die Identität der Schwarzen Schwester aufzudecken, schüttelte sie kurz den Kopf; das war ihre größte Sorge. »Oh, und ich bekomme eine Leibwache«, kam Elayne zum Ende. »Zwanzig Frauen, die von Hauptmann Mellar kommandiert werden. Ich glaube nicht, dass Birgitte Töchter des Speers für mich finden wird, aber sie wird dem sehr nahe kommen.«

Hinter Egwene erschien ein schwarzer, lehnenloser Stuhl und sie setzte sich, ohne hinzusehen. Sie war hier viel versierter als Elayne oder Nynaeve. Sie trug ein schön geschnittenes, dunkelgrünes Reitgewand aus Wolle, das keine Verzierungen aufwies; vermutlich war es dasselbe, das sie an diesem Tag getragen hatte. Und es blieb ein grünes Reitgewand aus Wolle. »Ich würde euch ja bitten, morgen... also heute Abend in Murandy zu mir zu stoßen«, sagte sie, »wenn die Ankunft der Kusinen unter den Sitzenden keinen Flächenbrand auslösen würde.«

Nynaeve hatte sich wieder gefasst, obwohl sie unnötigerweise ihre Röcke richtete. Die Stickereien auf ihrem Gewand waren jetzt silbern. »Ich dachte, du hättest den Saal der Burg mittlerweile unter Kontrolle.«

»Das ist ungefähr so, als hätte man ein Frettchen unter Kontrolle«, erwiderte Egwene trocken. »Es streckt und windet sich, um einen ins Handgelenk zu beißen. Oh, wenn es um den Krieg gegen Elaida geht, tun sie, was ich sage — da kommen sie nicht herum, auch wenn sie über die Kosten für weitere Soldaten murren! Aber die Abmachung mit den Kusinen hat nichts mit dem Krieg zu tun oder dass man sie darüber informiert hat, dass die Weiße Burg die ganze Zeit von ihnen gewusst hat. Oder es zumindest gedacht hat. Der ganze Saal bekäme einen Schlaganfall, wenn sie herausfänden, wie viel sie eigentlich nicht wissen. Sie geben sich ziemliche Mühe, einen Weg zu finden, die Aufnahme neuer Novizinnen zu verhindern.«

»Das können sie doch nicht tun, oder?«, wollte Nynaeve wissen. Sie machte einen Stuhl für sich, aber als sie nachsah, um sich zu vergewissern, dass er auch dort stand, war es eine Kopie von Egwenes Stuhl; als sie sich setzte, war es ein dreibeiniger Stuhl, und als sie saß, hatte er sich in einen Bauernhofstuhl mit Sprossenlehne verwandelt. Ihr Gewand wies nun einen Reitrock auf. »Du hast eine Proklamation herausgegeben. Jede Frau jeden Alters, falls sie den Test besteht. Du musst nur eine weitere verfassen, diesmal über die Kusinen.« Elayne machte ihren Stuhl zu einer Kopie der Stühle aus ihrem Wohnzimmer. So war es viel einfacher, ihn aufrechtzuerhalten.

»Oh, eine Proklamation der Amyrlin ist so gut wie ein Gesetz«, sagte Egwene. »Bis der Saal eine Möglichkeit findet, sie zu umgehen. Bei der neuesten Beschwerde geht es darum, dass wir nur sechzehn Aufgenommene haben. Allerdings behandeln die meisten Schwestern Faolain und Theodrin, als wären sie noch immer Aufgenommene. Aber selbst achtzehn reichen nicht mal annähernd aus, um den Novizinnen den Unterricht zu erteilen, den Aufgenommene zu leisten imstande sein müssten. Also müssen ihn die Schwestern mit übernehmen. Ich glaube, einige von ihnen hatten die Hoffnung, das Wetter würde ihre Zahl klein halten, aber das hat es nicht.« Plötzlich musste sie lächeln und in ihren dunklen Augen funkelte Schadenfreude. »Es gibt da eine Novizin, die ich dir gern vorstellen würde, Nynaeve. Sharina Melloy. Eine Großmutter. Ich glaube, du würdest mir zustimmen, dass sie eine erstaunliche Frau ist.«

Nynaeves Stuhl löste sich in Luft auf und sie landete mit einem deutlich hörbaren Aufprall auf dem Boden. Sie schien es kaum zu bemerken, denn sie blieb dort sitzen und starrte Egwene erstaunt an. »Sharina Melloy?«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Sie ist Novizin?« Plötzlich trug sie ein Gewand, wie es Elayne noch nie zuvor gesehen hatte, mit fließenden Ärmeln und einem tiefen Ausschnitt, bestickt mit Blumenmustern und Zuchtperlen. Ihr Haar floss bis zur Taille, gehalten von einem Netz aus feinem, mit Smaragden und Mondsteinen besetztem Golddraht, der nicht dicker als ein Wollfaden war. Und an ihrem linken Zeigefinger steckte ein einfacher Goldring. Nur der Ki'sain und der Große Schlangenring hatten sich nicht verändert.

Egwene blinzelte. »Du kennst diesen Namen?«

Nynaeve erhob sich wieder auf die Füße und starrte ihre Kleidung an. Sie hielt die linke Hand hoch und berührte den schlichten Goldring beinahe zögernd.

Seltsamerweise ließ sie alles so, wie es war. »Möglicherweise handelt es sich um eine andere Frau«, murmelte sie. »Es kann nicht sein!« Sie erschuf einen Stuhl wie Egwenes und sah ihn stirnrunzelnd an, als würde sie ihm befehlen, sich keinesfalls von der Stelle zu rühren, aber als sie Platz nahm, wies er eine hohe Lehne auf. »Da gab es eine Sharina Melloy... Es war während meiner Prüfung zur Aufgenommenen«, stieß sie atemlos hervor. »Ich muss darüber nicht sprechen, so lautet die Regel!«

»Natürlich musst du das nicht«, erwiderte Egwene, obwohl der Blick, den sie Nynaeve zuwarf, mit Sicherheit genauso seltsam war wie der, mit dem Elayne sie ansah. Dennoch konnte man nicht mehr tun; wenn Nynaeve stur sein wollte, konnte sie Maultiere darin unterrichten.

»Da du die Kusinen angesprochen hast, Egwene«, sagte Elayne, »hast du dir weitere Gedanken über den Eidstab gemacht?«

Egwene hob eine Hand, als wollte sie sie aufhalten, aber ihre Erwiderung war ruhig und besonnen. »Darüber muss man nicht weiter nachdenken. Die Drei Eide, die auf den Eidstab abgelegt werden, machen uns zu Aes Sedai. Ich habe das zuerst nicht eingesehen, aber jetzt tue ich es. Am ersten Tag, an dem wir in der Burg herrschen, werde ich die Drei Eide auf den Eidstab schwören.«

»Das ist Wahnsinn!«, rief Nynaeve und beugte sich auf ihrem Stuhl vor. Überraschenderweise war es noch immer derselbe Stuhl. Und noch immer dasselbe Gewand. Sehr überraschend. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die auf ihrem Schoss ruhten. »Du weißt, was das zur Folge hat, die Kusinen sind der Beweis dafür! Wie viele Aes Sedai werden älter als dreihundert Jahre? Oder erreichen überhaupt dieses Alter? Und sag mir nicht, ich soll nicht über das Alter sprechen. Das ist ein lächerlicher Brauch und das weißt du. Egwene, sie haben Reanne zur Ältesten gemacht, weil sie die älteste Frau der Kusinen in Ebou Dar war. Die älteste überhaupt ist eine Frau namens Aloisia Nemosni, eine Ölhändlerin in Tear. Egwene, sie ist fast sechshundert Jahre alt! Wenn der Saal das hört, dann wette ich, dass die Schwestern bereit sind, den Eidstab auf ein Regal zu verbannen.«

»Dreihundert Jahre sind eine lange Zeit«, warf Elayne ein, »aber ich kann nicht behaupten, dass mich die Aussicht glücklich macht, möglicherweise meine Lebensspanne zu halbieren, Egwene. Und was ist mit dem Eidstab und deinem Versprechen gegenüber den Kusinen? Reanne möchte eine Aes Sedai sein, aber was geschieht, wenn sie die Eide schwört? Und Aloisia? Werden sie tot umfallen? Du kannst sie nicht um den Schwur bitten, wenn du es nicht weißt.«

»Ich bitte um nichts.« Egwenes Gesicht war noch immer unbewegt, aber sie saß aufrechter da und ihre Stimme war kühler. Und härter. Ihr Blick war bohrend. »Jede Frau, die Schwester werden will, wird die Eide schwören. Und jede, die sich weigert und sich trotzdem Aes Sedai nennt, wird die volle Macht der Burgjustiz zu spüren bekommen.«

Der kompromisslose Blick ließ Elayne schlucken. Nynaeve wurde blass. Egwenes Worte waren unmissverständlich. Jetzt hörten sie nicht ihre Freundin, sondern den Amyrlin-Sitz, und der Amyrlin-Sitz hatte keine Freunde, wenn die Zeit gekommen war, Recht zu sprechen.

Anscheinend zufrieden mit dem, was sie sah, entspannte sich Egwene. »Ich kenne das Problem«, sagte sie in einem gelasseneren Tonfall. Gelassener, das schon, aber er lud nicht zur Diskussion ein. »Ich erwarte von jeder Frau, die im Novizinnenbuch steht, dass sie so weit geht, wie sie kann, dass sie sich die Stola verdient, wenn sie kann, und als Aes Sedai dient, aber ich will nicht, dass einer dafür stirbt, wenn er sonst leben könnte. Sobald der Saal von den Kusinen erfährt und sobald sie sich wieder beruhigt haben, werde ich ihnen wohl die Zustimmung abringen können, dass eine Schwester, die sich zur Ruhe setzen will, das auch tun kann. Von den Eiden entbunden.« Sie waren vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass der Stab auch dazu benutzt werden konnte, jemanden von seinen Eiden zu entbinden; wieso hätten die Schwarzen Schwestern sonst lügen können?

»Ich schätze, das wäre in Ordnung«, gestand ihr Nynaeve verständnisvoll zu. Elayne nickte bloß; sie war sich sicher, dass da noch mehr kam.

»Sich bei den Kusinen zur Ruhe setzt, Nynaeve«, ergänzte Egwene sanft. »Auf diese Weise sind die Kusinen ebenfalls an die Burg gebunden. Natürlich werden sie weiterhin ihren Regeln folgen, aber sie werden sich einverstanden erklären müssen, dass ihr Nähkränzchen unter der Amyrlin anzusiedeln ist, wenn nicht sogar unter dem Saal, und dass Kusinen unter den Schwestern stehen. Ich will, dass sie ein Teil der Burg werden und nicht ihre eigenen Wege gehen. Aber ich glaube, dass sie darin einwilligen.«

Nynaeve nickte erneut, diesmal glücklich, aber ihr Lächeln verschwand, als ihr die volle Tragweite bewusst wurde. Sie stotterte indigniert. »Aber...! Bei den Kusinen bestimmt das Alter die Stellung! Du wirst dann Schwestern haben, die Befehle von Frauen annehmen müssen, die es nicht einmal bis zur Aufgenommenen geschafft haben!«

»Ehemalige Schwestern, Nynaeve.« Egwene spielte an dem Großen Schlangenring an ihrer rechten Hand herum und seufzte leise. »Selbst Kusinen, die sich den Ring verdient haben, tragen ihn nicht. Also werden wir auch das aufgeben müssen. Wir werden dann Kusinen sein, Nynaeve, keine Aes Sedai mehr.«

Sie hörte sich an, als könnte sie diesen fernen Tag und den Verlust, den er bringen würde, bereits spüren, aber sie ließ den Ring los und holte tief Luft. »Nun, gibt es sonst noch etwas? Ich habe noch eine lange Nacht vor mir, und ich würde gern etwas echten Schlaf mitbekommen, bevor ich mich wieder den Sitzenden stellen muss.«

Nynaeve hatte stirnrunzelnd die Faust geballt und die andere Hand darübergelegt, um die Ringe zu verbergen, aber sie schien bereit zu sein, nicht weiter wegen den Kusinen zu diskutieren. Zumindest für den Augenblick. »Machen dir deine Kopfschmerzen noch immer zu schaffen? Ich finde, wenn die Massagen dieser Frau etwas helfen würden, hättest du sie nicht mehr.«

»Halimas Massagen wirken Wunder. Ohne sie könnte ich überhaupt nicht schlafen. Nun, gibt es noch...« Sie verstummte und starrte auf den Eingang zum Thronraum und Elayne drehte sich um und folgte ihrem Blick.

Ein Mann stand dort und beobachtete sie, ein Mann, der beinahe so groß wie ein Aiel war. Er hatte dunkelrotes Haar, in dem sich ein paar weiße Strähnen abzeichneten, aber kein Aiel hätte je diesen blauen Mantel mit hohem Kragen getragen. Er wirkte muskulös und sein hartes Gesicht kam ihnen irgendwie bekannt vor. Als er bemerkte, dass sie ihn gesehen hatten, drehte er sich um und rannte in den Korridor hinein, bis er aus ihrer Sicht verschwunden war.

Unwillkürlich keuchte Elayne auf. Er hatte sich nicht zufällig ins Tel'aran'rhiod hineingeträumt, sonst wäre er längst verschwunden gewesen, aber sie konnte die Laute seiner Stiefel hören, die von den Bodenfliesen widerhallten. Entweder war er ein Traumgänger — die es den Weisen Frauen zufolge nur selten gab —, oder er besaß ein eigenes Ter'angreal.

Sie sprang auf und rannte ihm hinterher, aber so schnell sie auch war, Egwene war schneller. In dem einen Augenblick befand sie sich hinter ihnen, im nächsten stand sie an der Tür und sah in die Richtung, in der der Mann verschwunden war. Elayne versuchte, sich neben Egwene hinzudenken, und schon stand sie da. Im Korridor herrschte nun Stille, er war bis auf die flackernden Kandelaber und Truhen und Wandbehänge leer.

»Wie habt ihr das gemacht?«, wollte Nynaeve wissen, die mit geschürzten Röcken angelaufen kam. Sie trug rote Strümpfe, aus Seide! Als sie bemerkte, dass Elayne ihre Strümpfe bemerkt hatte, ließ sie die Röcke hastig fallen und spähte in den Korridor. »Wo ist er hin? Er könnte alles gehört haben! Habt ihr ihn erkannt? Er hat mich an jemanden erinnert, ich weiß nur nicht, an wen.«

»An Rand«, sagte Egwene. »Er hätte Rands Onkel sein können.«

Aber natürlich, dachte Elayne. Falls Rand einen bösartigen Onkel gehabt hätte.

Am anderen Ende des Thronsaals ertönte ein metallisches Geräusch. Die hinter dem Podest befindliche Tür zu den Ankleidezimmern schloss sich. Im Tel'aran'rhiod standen Türen entweder offen oder geschlossen, manchmal waren sie auch angelehnt; aber sie schwangen niemals zu.

»Beim Licht!«, murmelte Nynaeve. »Wie viele Leute haben uns denn belauscht? Ganz zu schweigen, wer und warum?«

»Wer auch immer sie sind«, erwiderte Egwene beherrscht, »anscheinend kennen sie das Tel'aran'rhiod nicht so gut wie wir. Und man kann mit Sicherheit sagen, dass es keine Freunde waren, andernfalls hätten sie nicht gelauscht. Und ich glaube auch nicht, dass sie Freunde waren, warum hätten sie sonst von entgegengesetzten Enden des Raums lauschen sollen? Der Mann trug einen schienarischen Mantel. In meinem Heer sind Schienarer, aber die kennt ihr ja alle. Keiner von ihnen ähnelt Rand.«

Nynaeve schnaubte. »Nun, wer auch immer es ist, mir lauschen zu viele Leute hinter Ecken. Das ist jedenfalls meine Meinung. Ich will in meinen Körper zurück, wo ich mir bloß wegen Spionen und vergifteten Dolchen Sorgen machen muss.«

Schienarer, dachte Elayne. Grenzländer. Wie hatte ihr das nur entfallen können? Nun, da war diese kleine Angelegenheit mit der Spaltwurzel gewesen. »Da ist noch etwas«, sagte sie mit lauter, aber beherrschter Stimme, von der sie hoffte, dass sie nicht weit tragen würde, und berichtete von Dyelins Nachricht über die Grenzländer im Braem-Wald. Sie fügte auch Meister Norrys Brieffreunde hinzu, während sie die ganze Zeit sowohl den Korridor als auch den Thronsaal im Auge zu behalten versuchte. Sie wollte nicht noch von einem anderen Spion überrascht werden. »Ich glaube, diese Herrscher sind im Braem-Wald«, endete sie. »Alle vier.«

»Rand«, hauchte Egwene; es klang gereizt. »Selbst wenn er unauffindbar ist, macht er die Dinge komplizierter. Was meinst du, sind sie gekommen, um ihm ein Bündnis anzubieten, oder wollen sie ihn Elaida übergeben? Sonst wüsste ich keinen Grund, warum sie tausend Meilen reisen sollten. Mittlerweile müssen sie doch ihre Schuhe essen! Hast du auch nur eine Vorstellung davon, wie schwer es ist, ein Heer auf dem Marsch zu versorgen?«

»Ich glaube, das kann ich herausfinden«, sagte Elayne. »Ich meine, den Grund ihres Kommens. Und gleichzeitig... Egwene, du hast mich auf eine Idee gebracht.« Unwillkürlich musste sie lächeln. Der heutige Tag hatte doch etwas Gutes gebracht. »Ich glaube, ich könnte sie dazu benutzen, den Löwenthron zu sichern.«

Asne musterte den vor ihr stehenden großen Stickrahmen und stieß ein Seufzen aus, das zu einem Gähnen wurde. Die flackernden Lampen verbreiteten für diese Arbeit zu wenig Licht, aber das war nicht der Grund, warum ihre Vögel alle Schlagseite zu haben schienen. Sie wünschte sich, in ihrem Bett zu liegen, und sie verabscheute Stickereien. Aber sie musste wach bleiben und das war die einzige Möglichkeit, einer Unterhaltung mit Chesmal zu entgehen. Was Chesmal Unterhaltung nannte. Die arrogante Gelbe saß auf der anderen Seite des Raums konzentriert über ihre eigene Stickerei gebeugt, und sie glaubte, dass jeder, der eine Nadel ergriff, auch ein tiefes Interesse an dieser Handarbeit hatte. Andererseits wusste Asne genau, dass wenn sie nun von ihrem Stuhl aufstehen würde, Chesmal sie in kürzester Zeit mit Geschichten über ihre eigene Wichtigkeit erfreuen würde. In den Monaten seit Moghediens Verschwinden hatte Asne die Geschichte, wie Chesmal dabei geholfen hatte, Tamra Ospenya der Befragung zu unterziehen, mindestens zwanzigmal gehört, und wie sie die Roten veranlasst hatte, Sierin Vayu zu ermorden, bevor sie ihre Verhaftung befehlen konnte, mindestens fünfzigmal! Wenn man Chesmal so zuhörte, hatte sie die Schwarze Ajah im Alleingang gerettet, und sie würde es erzählen, wenn sie die Gelegenheit erhielt. Diese Art von Gesprächen waren nicht nur langweilig, sie waren auch gefährlich! Sogar tödlich, wenn der Hohe Rat davon erfuhr. Also unterdrückte Asne ein neuerliches Gähnen, betrachtete die Arbeit mit zusammengekniffenen Augen und stieß die Nadel durch das fest aufgespannte Leinentuch. Vielleicht würde sie, wenn sie das Rotkehlchen größer machte, auch die Schwingen größer machen können.

Das Klicken des Türriegels ließ beide Frauen aufsehen. Die beiden Diener wussten, dass man sie nicht stören durfte, außerdem waren die Frau und ihr Mann schon längst am Schlafen. Asne umarmte Saidar und knüpfte ein Gewebe, das einen Eindringling bis auf die Knochen verbrennen würde, und auch Chesmal wurde von dem Glühen umgeben. Falls die falsche Person durch diese Tür schritt, würde sie es bereuen, bis sie starb.

Es war Eldrith; in der Hand hielt sie ihre Handschuhe, und ihr dunkler Umhang lag noch immer über ihren Schultern. Auch das Gewand der untersetzten Braunen war dunkel und schmucklos. Asne hasste es, einfache Wollkleider zu tragen, aber sie durften kein Aufsehen erregen. Die schmucklose Kleidung passte zu Eldrith.

Sie blieb bei ihrem Anblick stehen und blinzelte, auf ihrem runden Gesicht spiegelte sich momentane Verwirrung. »Du meine Güte«, sagte sie. »Was habt ihr geglaubt, wer ich bin?« Sie warf die Handschuhe auf den kleinen Tisch neben der Tür, dann wurde sie sich plötzlich ihres Umhangs bewusst und runzelte die Stirn, als wäre ihr erst jetzt klar geworden, dass sie ihn oben getragen hatte. Sie öffnete sorgfältig die Silberbrosche an ihrem Hals und warf den Umhang auf einen Stuhl, wo er in einem unordentlichen Haufen liegen blieb.

Das Licht Saidars um Chesmal verlosch, als sie den Stickereirahmen zur Seite schob, damit sie aufstehen konnte. Ihr strenges Gesicht ließ sie größer erscheinen, als sie war, und sie war eine große Frau. Die hellbunten Blumen, die sie gestickt hatte, hätten in einem Garten stehen können. »Wo seid Ihr gewesen?«, verlangte sie zu wissen. Eldrith nahm unter ihnen den höchsten Rang ein, außerdem hatte Moghedien ihr das Kommando übergeben, aber Chesmal nahm das, wenn überhaupt, nur flüchtig zur Kenntnis. »Ihr solltet heute Nachmittag zurück sein und jetzt ist die halbe Nacht vorbei!«

»Ich habe die Zeit vergessen«, erwiderte Eldrith scheinbar in Gedanken verloren. »Es ist lange her, seit ich das letzte Mal in Caemlyn war. Die Innenstadt ist faszinierend, und ich habe großartig in einem Gasthaus gegessen, an das ich mich erinnerte. Obwohl ich sagen muss, dass es früher dort weniger Schwestern gab. Jedoch hat mich niemand erkannt.« Sie schaute die Brosche an, als würde sie sich fragen, wo sie herkam, dann steckte sie sie in ihre Gürteltasche.

»Ihr habt die Zeit vergessen«, sagte Chesmal tonlos und verflocht die Finger auf Taillenhöhe. Vielleicht um zu verhindern, dass sie sie um Eldriths Kehle legte. In ihren Augen funkelte Wut. »Ihr habt die Zeit vergessen.«

Eldrith blinzelte wieder, als wäre sie überrascht, angesprochen zu werden. »Oh. Habt Ihr gefürchtet, Kennit hätte mich wiedergefunden? Ich versichere Euch, seit Samara habe ich große Sorgfalt walten lassen, dass der Bund verhüllt ist.«

Manchmal fragte sich Asne, wie viel von Eldriths scheinbarer Zerstreutheit echt war. Niemand, der so wenig von der ihn umgebenden Welt mitbekam, hätte so lange überleben können. Andererseits war sie unaufmerksam genug gewesen, um die Verhüllung vor dem Eintreffen in Samara mehr als einmal verrutschen zu lassen; es hatte gereicht, damit ihr Behüter ihre Spur aufnehmen konnte. Sie hatten Moghediens Befehl befolgt, ihre Rückkehr abzuwarten, und sich während des Aufruhrs nach ihrem Verschwinden verborgen gehalten; sie hatten abgewartet, während der Mob des so genannten Propheten südwärts nach Amadicia strömte und waren selbst dann in dieser erbärmlichen zerstörten Stadt geblieben, nachdem Asne zu der Überzeugung gelangt war, dass Moghedien sie aufgegeben hatte. Bei der Erinnerung daran verzogen sich ihre Lippen verächtlich. Die Ankunft von Eldriths Behüter Kennit in der Stadt hatte den Ausschlag für ihren Aufbruch gegeben; er war sich sicher, dass sie eine Mörderin war, war zur Hälfte überzeugt, dass sie der Schwarzen Ajah angehörte, und fest entschlossen, sie zu töten, ganz egal, welche Konsequenzen das für ihn haben mochte. Sie selbst war ebenfalls nicht willens gewesen, sich diesen Konsequenzen zu stellen, was keine große Überraschung gewesen war, und hatte sich geweigert, den Mann töten zu lassen. Die einzige Alternative hatte in der Flucht bestanden. Allerdings war Eldrith diejenige gewesen, die sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ihre einzige Hoffnung in Caemlyn lag.

»Habt Ihr irgendetwas erfahren, Eldrith?«, fragte Asne höflich. Chesmal war eine Närrin. Wie zerrüttet die Welt im Augenblick auch erschien, alles würde sich wieder einrenken. Auf die eine oder andere Weise.

»Was? Oh. Diese Pfeffersoße war nicht so gut, wie ich sie in Erinnerung hatte. Natürlich ist das fünfzig Jahre her.«

Asne unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht war doch die Zeit gekommen, dass Eldrith einen Unfall erlitt.

Die Tür öffnete sich, und Temaile schlüpfte so leise ins Zimmer, dass sie alle überrascht wurden. Die kleine Graue mit dem Fuchsgesicht hatte einen mit Löwen bestickten Morgenmantel übergeworfen, aber er klaffte auf und entblößte ein cremefarbenes Seidennachthemd, das auf unanständige Art und Weise an ihrem Körper klebte. In der einen Hand hielt sie einen Armreif aus in sich verdrehten Glasringen. Es sah wie Glas aus und fühlte sich auch so an, aber kein Hammer hätte auch nur einen Splitter herauslösen können.

»Ihr wart im Td'amn'rhiod«, sagte Eldrith und bedachte das Ter'angreal mit einem Stirnrunzeln. Allerdings hielt sie ihren Tonfall gemäßigt. Seit Moghedien sie gezwungen hatte, mit anzusehen, wie Liandrin endgültig gebrochen wurde, fürchteten sie sich alle ein wenig vor Temaile. Asne vermochte nicht mehr zu sagen, wie oft sie in den hundertdreißig Jahren seit Erringung der Stola getötet oder gefoltert hatte, aber ihr war nur selten jemand begegnet, der so... enthusiastisch wie Temaile ans Werk gegangen war. Chesmal beobachtete sie und versuchte gleichzeitig so zu tun, als täte sie es nicht, und sie schien sich nicht bewusst zu sein, dass sie sich nervös die Lippen befeuchtete. Asne zog hastig ihre eigene Zunge hinter die Zähne und hoffte, dass es keiner bemerkt hatte. Wegen Eldrith brauchte sie sich da keine Sorgen zu machen. »Wir waren übereingekommen, es nicht zu benutzen«, fuhr Eldrith fort, und es fehlte nicht viel, und es hätte sich flehentlich angehört. »Ich bin überzeugt, es war Nynaeve, die Moghedien verwundet hat, und wenn sie im Tel'aran'rhiod eine der Auserwählten besiegen kann, welche Chance haben dann wir?« Sie wandte sich den anderen zu und bemühte sich um einen rügenden Tonfall. »Habt ihr davon gewusst?« Es gelang ihr tatsächlich, zänkisch zu klingen.

Chesmal erwiderte Eldriths Blick empört, während Asne überraschte Unschuld zur Schau stellte. Sie hatten Bescheid gewusst, aber wer würde sich Temaile in den Weg stellen? Und Asne bezweifelte doch sehr, dass Eldrith, wäre sie hier gewesen, mehr getan hätte als nur der Form halber zu protestieren.

Temaile wusste genau, welche Wirkung sie auf die anderen ausübte. Eigentlich hätte sie nach Eldriths Strafpredigt — so halbherzig sie auch gewesen war —den Kopf hängen lassen und sich dafür entschuldigen müssen, gegen ihre Anweisungen gehandelt zu haben. Stattdessen lächelte sie. Allerdings erreichte das Lächeln nie ihre Augen, die groß und dunkel waren und viel zu sehr strahlten. »Ihr hattet Recht, Eldrith, dass Elayne herkommen und Nynaeve sie begleiten würde. Sie waren zusammen, und es ist eindeutig, dass sich beide im Palast aufhalten.«

»Ja«, sagte Eldrith und wand sich unter Temailes Blick. »Gut.« Und sie befeuchte ihre Lippen und scharrte sogar mit den Füßen. »Trotzdem, bis wir eine Möglichkeit gefunden haben, an allen diesen Wilden vorbeizukommen ...«

»Es sind Wilde, Eldrith.« Temaile warf sich auf einen Stuhl, streckte alle viere von sich, und ihr Tonfall wurde härter. Nicht genug, um befehlend zu erscheinen, aber zweifellos mehr als nur entschieden. »Es gibt nur drei Schwestern, die uns Schwierigkeiten bereiten könnten, und deren können wir uns entledigen. Wir können Nynaeve gefangen nehmen und Elayne vielleicht gleich mit.« Abrupt beugte sie sich vor und legte die Hände auf die Stuhllehnen. In Unordnung gebrachte Kleidung oder nicht, in diesem Augenblick ging von ihr nicht mal ein Hauch von Lässigkeit aus. Eldrith trat zurück, als hätte Temailes Blick sie zurückgestoßen. »Warum sind wir sonst hier, Eldrith? Deswegen sind wir gekommen.«

Darauf wusste niemand etwas zu erwidern. Hinter ihnen lag eine Reihe von Fehlschlägen — in Tear, in Tanchico —, die ihnen möglicherweise das Leben kosten würden, wenn der Hohe Rat sie in seine Hände bekam. Aber das würde nicht geschehen, wenn sie einen der Auserwählten zum Patron hatten, und da Moghedien so verzweifelt auf Nynaeve Jagd gemacht hatte, würde sie möglicherweise auch für einen der anderen von ihnen interessant sein. Die eigentliche Schwierigkeit würde darin liegen, einen der Auserwählten zu finden, um ihr Geschenk zu übergeben. Daran schien bis auf Asne noch keiner gedacht zu haben.

»Da waren noch andere«, fuhr Temaile fort und lehnte sich wieder zurück. Sie klang fast gelangweilt. »Die unsere beiden Aufgenommenen belauscht haben. Ein Mann, der zuließ, dass sie ihn sahen, und jemand anders, den ich nicht sehen konnte.« Sie schmollte verärgert. Das heißt, es wäre ein Schmollen gewesen, hätte in ihren Augen nicht dieser Ausdruck gelegen. »Ich musste mich hinter einer Säule verbergen, damit mich die Mädchen nicht entdecken konnten. Es dürfte Euch erfreuen, Eldrith, dass sie mich nicht wahrgenommen haben. Seid Ihr zufrieden?«

Eldrith stammelte beinahe, als sie herausplatzte, wie zufrieden sie war.

Asne tastete nach ihren vier Behütern, die immer näher kamen. Nach der Abreise aus Samara hatte sie aufgehört, ihren Bund zu verhüllen. Nur Powl war ein Schattenfreund, doch die anderen würden tun, was auch immer sie befahl, glauben, was auch immer sie ihnen sagte. Man würde sie unbedingt vor den anderen Schwestern verbergen müssen, es sei denn, ihre Hilfe wäre von entscheidender Bedeutung, aber sie wollte bewaffnete Männer in der Nähe haben. Muskeln und Stahl waren sehr nützlich. Und falls es zum Schlimmsten kam, konnte sie immer noch den langen, flötenartigen Stab enthüllen, den Moghedien doch nicht so gut verborgen hatte, wie sie geglaubt hatte.

Das Licht des anbrechenden Tages, das durch die Fenster des Wohnzimmers schien, war grau; es war eine frühere Stunde, als Lady Shiaine für gewöhnlich aufstand, aber an diesem Morgen hatte sie sich ankleidet, als draußen noch völlige Finsternis herrschte. Lady Shiaine, so sah sie sich heutzutage. Mili Skane, des Sattelmachers Tochter, war fast völlig vergessen. Sie war die Lady Shiaine Avarhin, und zwar auf jede Weise, die zählte, und das seit Jahren. Lord Willim Avarhin war verarmt gewesen, hatte in einem heruntergekommenen Bauernhaus leben müssen und nicht einmal mehr das ordentlich instandhalten können. Er und seine einzige Tochter, die Letzte eines dahinschwindenden Adelsgeschlechts, hatten auf dem Land gelebt, weit von allem entfernt, was ihre Armut hätte enthüllen können, und jetzt waren sie nur noch im Wald neben diesem Bauernhaus begrabene Knochen, und sie war die Lady Shiaine. Und wenn dieses große, stattliche Steinhaus auch kein herrschaftliches Anwesen darstellte, war es doch immerhin der Besitz einer wohlhabenden Händlerin gewesen. Auch sie war schon lange tot — nachdem sie ihrer ›Erbin‹ ihr ganzes Gold vermacht hatte. Die Möbel verrieten solides Handwerk, die Teppiche waren teuer, die Wandbehänge und sogar die Kissen mit Goldfäden bestickt, und in dem großen Kamin aus blau geädertem Marmor knisterte ein Feuer. Sie hatte in den einst schmucklosen Türbalken Avarhins Herz und Hand einschnitzen lassen, in mehreren Reihen.

»Mehr Wein, Mädchen«, sagte sie knapp und Falion eilte mit dem Silberkrug mit dem hohen Hals herbei, um ihren Pokal mit dampfendem, gewürztem Wein aufzufüllen. Die Livree einer Magd mit dem Roten Herzen und der Goldenen Hand auf der Brust stand Falion gut. Ihr langes Gesicht war eine erstarrte Maske, als sie davoneilte, um den Krug auf der Kommode abzustellen und wieder ihren Platz neben der Tür einzunehmen.

»Ihr spielt ein gefährliches Spiel«, sagte Marillin Gemalphin und rollte ihren Pokal zwischen den Händen. Die Schwester der Braunen war eine dürre Frau mit leblosem braunem Haar und sah nicht wie eine Aes Sedai aus. Ihr schmales Gesicht und die breite Nase hätte besser zu Falions Livree gepasst als zu dem teuren blauen Tuch ihres Gewandes, und das passte ohnehin nur zu einer mäßig erfolgreichen Händlerin. »Sie ist irgendwie abgeschirmt, ich weiß, aber wenn sie wieder die Macht lenken kann, wird sie Euch für das hier schreien lassen.« Ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Vielleicht werdet Ihr Euch dann sogar wünschen, Ihr könntet noch schreien.«

»Das war Moridins Entscheidung«, erwiderte Shiaine. »Sie hat in Ebou Dar versagt und er befahl ihre Bestrafung. Ich kenne die Einzelheiten nicht und ich will sie auch gar nicht kennen, aber wenn Moridin ihre Nase im Dreck sehen will, stoße ich sie so tief hinein, dass sie ein Jahr lang nur Schlamm atmet. Oder schlagt Ihr mir etwa vor, ich soll einem der Auserwählten nicht gehorchen?« Bei dem Gedanken konnte sie nur mühsam ein Schaudern unterdrücken. Marillin versuchte ihren Gesichtsausdruck zu verbergen, indem sie einen Schluck trank, aber ihre Augen wurden schmaler. »Was ist mit dir, Falion?«, fragte Shiaine. »Möchtest du, dass ich Moridin bitte, dich fortzuholen? Er könnte für dich etwas weniger Beschwerliches finden.« Und vielleicht würden Maultiere wie Nachtigallen singen.

Falion zögerte nicht einmal. Sie machte den tiefen Knicks einer Dienstmagd, während ihr Gesicht noch bleicher wurde als zuvor. »Nein, Herrin«, sagte sie hastig. »Ich bin mit meiner Stellung zufrieden, Herrin.«

»Seht Ihr?«, sagte Shiaine zu der anderen Aes Sedai. Sie bezweifelte sehr, dass Falion auch nur im Mindesten zufrieden war, aber die Frau würde alles tun, was man ihr sagte, um sich nicht Moridins Unzufriedenheit auszusetzen. Aus dem gleichen Grund würde Shiaine sie mit ausgesprochen harter Hand behandeln. Man konnte nie wissen, was einer der Auserwählten erfuhr und möglicherweise missverstand. Sie selbst war zwar der Meinung, ihr eigenes Versagen tief genug begraben zu haben, aber sie würde kein Risiko eingehen. »Wenn sie wieder die Macht lenken kann, wird sie nicht die ganze Zeit als Dienstmagd arbeiten müssen, Marillin.« Außerdem hatte Moridin ihr gesagt, dass sie sie töten konnte, wenn sie es wollte. Aber das konnte man immer noch tun, wenn sie zu lästig wurde. Er hatte gesagt, sie könnte beide Schwestern töten, wenn sie wollte.

»Das mag schon sein«, bemerkte Marillin finster. Sie warf Falion einen Seitenblick zu und verzog das Gesicht. »Nun, Moghedien hat mir befohlen, Euch jede Hilfe anzubieten, zu der ich imstande bin, aber ich sage Euch gleich, dass ich den Königlichen Palast nicht betreten werde. Für meinen Geschmack halten sich in der Stadt viel zu viele Schwestern auf, aber der Palast ist obendrein auch noch mit Wilden voll gestopft. Ich würde keine zehn Schritte weit kommen, ohne dass jemand meine Anwesenheit bemerkt.«

Seufzend lehnte sich Shiaine zurück, schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. Warum glaubten die Leute eigentlich immer, man wüsste nicht genauso viel wie sie? Die Welt war voller Narren! »Moghedien hat Euch befohlen, mir zu gehorchen, Marillin. Ich weiß das, weil Moridin es mir gesagt hat. Er hat es zwar nicht direkt so ausgedrückt, aber ich glaube, dass Moghedien springt, wenn er mit dem Finger schnippt.« Auf diese Weise über die Auserwählten zu sprechen war gefährlich, aber sie musste für klare Verhältnisse sorgen. »Wollt Ihr mir noch einmal sagen, was Ihr alles nicht tun werdet?«

Die schmalgesichtige Aes Sedai befeuchtete sich die Lippen und warf Falion noch rasch einen Blick zu. Fürchtete die Frau, sie würde so enden? In Wahrheit hätte Shiaine Falion auf der Stelle gegen eine richtige Dienstmagd eingetauscht. Nun, so lange sie ihre anderen Dienste beibehielt. Vermutlich würden sie beide sterben müssen, wenn das hier vorbei war. Shiaine mochte keine losen Enden.

»Das war keine Lüge«, sagte Marillin gedehnt. »Ich würde keine zehn Schritte weit kommen. Aber es befindet sich bereits eine Frau im Palast. Sie kann tun, was Ihr wollt. Allerdings könnte es etwas dauern, mit ihr in Verbindung zu treten.«

»Seht nur zu, dass es nicht zu lange dauert, Marillin.« So. Also gehörte eine der Schwestern im Palast zur Schwarzen Ajah? Um das zu tun, was Shiaine brauchte, würde es eine Aes Sedai sein müssen, nicht bloß eine Schattenfreundin.

Die Tür öffnete sich, und Murellin schaute fragend hinein; seine muskulöse Gestalt füllte die Tür fast aus. Hinter ihm konnte sie einen weiteren Mann ausmachen. Nach ihrem Nicken trat Murellin zur Seite, bedeutete Daved Hanion einzutreten und schloss die Tür hinter ihm. Hanion war in einen dunklen Umhang gehüllt, aber er ließ eine Hand zwischen den Falten hervorschießen, um Falions Hinterteil durch ihr Kleid hindurch zu tätscheln. Sie starrte ihn verbittert an, entzog sich ihm aber nicht. Hanion war Teil ihrer Bestrafung. Allerdings verspürte Shiaine keine Lust, ihm dabei zuzusehen, wie er die Frau betatschte.

»Macht das später«, befahl sie. »Hat es geklappt?«

Sein axtgleiches Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Es hat sich natürlich genau so abgespielt, wie ich es geplant habe.« Er warf die eine Seite seines dunklen Umhangs über die Schulter und enthüllte die goldenen Abzeichen seines Ranges auf seinem roten Mantel. »Ihr sprecht mit dem Hauptmann der Königlichen Leibwache.«

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